Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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speziell dann, wenn dass Dargestellte etwas anderes meint, als es zeigt, d. h. als Metapher verstanden werden sollte, wie im lyrischen Prinzip des Erzählens.

      3. Lyrisches Prinzip: Das Konstitutive des lyrischen Prinzips sind die inneren Anschauungen, Emotionen und Assoziationen aus subjektiver Sicht eines Autors bzw. einer Autorin. Es werden mehr die Zustände und Empfindungen präsentiert als Vorgänge geschildert. Das Erzählte bzw. Gezeigte ist allegorisch oder metaphorisch gemeint, d. h. als bildhafter Vergleich, der lange Umschreibungen unnötig macht oder Bedeutungslücken schließt. Die Mittel des Lyrischen sind keiner raumzeitlichen Ordnung verhaftet, sondern durch Zeitlosigkeit, Rhythmus (z. B. Versmaß), Symmetrien usw. gekennzeichnet und strukturiert.

      Im Lyrischen Erzählen wird der Anspruch auf Objektivität und Allwissenheit, der gerade in der Totalität des Epischen steckt, oder auf Authentizität sowie das Naturalistische, das der Zeigehandlung im dramatischen Modus anhaftet, aufgegeben. Charakteristisch sind auch die gefühlte Zeitlosigkeit – ganz im Gegensatz zum prozessorientierten dramatischen Modus oder dem raffenden oder weitschweifigen Gestus des epischen Erzählmodus. Bei Platon ist schon zu lesen, dass im lyrischen Modus (dithyrambos) der Dichter selbst zu hören sei, im Drama der Dichter hinter seinen Figuren verschwinde und im Epos die Rede des Dichters mit den handelnden Figuren kombiniert werde (Platon, S. 394 a–c, 3. Buch).

      Lyrische Mittel im Film sind durch Auswahl und Anordnung von Bildern, Sprache, Musik und Ton erkennbar, die nicht auf Figuren oder Handlungen, sondern mehr auf die Filmautoren und ihre Ansichten oder Assoziationen verweisen. Logik und Prozessualität werden ersetzt durch sinnbildhafte Assoziation und Dehnung eines Moments, um Bedeutung und Tiefe von Gefühlen oder Auffassungen auszuloten. Tarkovskijs Auffassung von filmischer Poesie scheint zu einem großen Teil vom lyrischen Prinzip geprägt zu sein, auch wenn er selbst gegenüber den Mitteln des Lyrischen Vorbehalte formuliert hat:

      »Der poetische Film bringt in der Regel Symbole, Allegorien und ähnliche rhetorische Figuren dieser Art hervor. Und ebendiese haben nun nichts mit jener Bildlichkeit gemeinsam, die die Natur des Films ausmacht.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98)

      Seine Werke zeigen eine »poetische Logik«, die im hier verwendeten System der Unterscheidungen der Poesie als zum großen Teil »lyrisch« bezeichnet werden müsste. Poesie versteht Tarkovskij nicht als Gattungsbegriff, sondern als »eine Weltsicht, eine besondere Form des Verhältnisses zur Wirklichkeit« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 35), die der »Banalisierung der komplexen Lebensrealität«, die nach seiner Meinung durch die Logik der klassischen Dramaturgie entsteht, am ehesten entgegenwirken könne.26

      Schon allein die fotografische Objektivität der filmischen Abbildung birgt in sich die Gefahr der Banalisierung. Formalisierungen der Dramaturgie vergrößern aber zweifellos diese Gefahr auf einer weiteren Ebene. Die »poetische Logik« stellt hierzu eine Alternative dar:

      »Doch es gibt auch andere Möglichkeiten zur Synthese filmischer Materialien, bei der das Wichtigste die Darstellung der Logik des menschlichen Denkens ist. Und in diesem Fall wird dann sie die Abfolge der Ereignisse und ihre Montage, die alles zu einem Ganzen zusammenfügt, bestimmen. […] Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die Logik der klassischen Dramaturgie.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 33)

      Die Unterscheidung zwischen dramatischen, epischen und lyrischen Modi des Erzählens findet sich prinzipiell schon in der Antike. In Hegels Vorlesungen zur Ästhetik begegnet uns diese Unterscheidung ebenfalls.27 Das Konzept der Erzählmodi kann auch auf den Film angewandt werden, der erzähltheoretisch sowohl aus dem Drama als auch aus dem Roman, außerdem aus anderen literarischen Gattungen seine Mittel nimmt. Hegels Ausführungen sind nicht nur auf die Dichtkunst beschränkt, sondern betreffen die Grundprinzipien aller Künste. Sie eignen sich aus dieser Sicht auch für die Übertragung auf Filmdramaturgie, da es zum Wesen des Films gehört, die Mittel verschiedener Kunstformen in besonderer Weise integrieren zu können.28 So werden dramatische Darstellung, epischer Bericht und lyrische Prinzipien mit den visuellen und auditiven Mitteln des Films kreiert und in Kombination, sich gegenseitig ergänzend, für Strukturen und Wirkung des filmischen Erzählens bedeutsam.

      Auf die Filmdramaturgie haben nicht nur die Dramentheorien und Modelle von Aristoteles und weiteren klassischen Autoren, von Lessing, Freytag und anderen Einfluss genommen, sondern auch das aus der Mythenforschung des 20. Jahrhunderts kommende Modell der Heldenreise.29 Campbell und Frye (Campbell und Frye 1949) bilden mit dem Modell der Heldenreise etwas ab, das Filmschaffende in vielfältigen Varianten bewusst oder intuitiv nutzen, und lieferten zugleich Analyse- wie Strukturvorgaben, die für moderne Varianten der Filmdramaturgie anwendbar sind. Ihr Modell ist aus der tiefenpsychologischen Sicht auf die Bauform von Märchen30 und mythologischen Geschichten entstanden und verbindet Struktur und Psychologie in der für Dramaturgie bedeutsamen Weise, die das Publikum als Zentrum der Erzählstrategien sieht: Die Rezipierenden können nachvollziehen, wie eine Figur stellvertretend die Stationen der Heldenreise durchlebt und mit ihnen essenzielle, immanente und transzendente Erfahrungen simuliert werden.31

      In der Filmdramaturgie sind pragmatisch ausgerichtete Strukturmodelle wie das 3-Akt- bzw. 5-Akt-Modell geläufig, aber auch ein sogenanntes 8-Sequenzen-Modell.32 Niedergeschlagen hat sich dies inzwischen in etlichen Fachbüchern zum Verfassen von Drehbüchern, z. B. von Syd Field (Field 1979) und anderen.33 Christopher Voglers Buch (Vogler 1998) zeigt prominent, wie die epischen Anteile der Heldenreise und die dramatischen Anteile der 3-Akt-Struktur nach aristotelischem Vorbild für den Film miteinander kombiniert werden können.

      Die Autorinnen und Autoren von DramaQueen34, die einen pragmatischen, auf das Schreiben für Film fokussierten Zugang zur Thematik haben, formulieren folgende Definitionen von Dramaturgie. Sie bauen erkennbar auf historisch überlieferten Prämissen auf:

      »Dramaturgie ist die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte. Als Technik des Geschichtenerzählens basiert sie auf Analysen von Erzählungen. Seit der Antike begannen sich die Erkenntnisse über Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen zu Maximen zu verdichten. Auf diese Weise kristallisierten sich überkulturelle, mit dem menschlichen Bewusstsein korrespondierende Erzählmuster heraus. Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie. […]

      Filmdramaturgie liefert die Prinzipien für eine möglichst ›effektvolle‹ Komposition einer Geschichte. In einem Film stehen die Narrationskanäle Bild und Ton zu Verfügung, wobei sich die tonale Ebene wiederum in Sprache, Geräusche und Musik unterteilt. Daraus ergeben sich vielfältige erzählerische Möglichkeiten, die das Medium Film von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreien. Dieser prinzipiellen Schrankenlosigkeit setzt Dramaturgie die Forderung nach Selektion und Effektivität entgegen.«35

      Wenngleich sich die Terminologie der verschiedenen Modelle der klassischen Dramaturgie und die unterschiedlichen Ansätze zur Drehbuchliteratur voneinander unterscheiden, finden sich auffallend viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Strukturmodellen, egal ob sie in Akten, Stationen oder Sequenzen organisiert sind. Vergleicht man die Modelle miteinander, zeigt sich, dass vergleichbare Ereignismomente mit prinzipiell gleicher dramaturgischer Qualität in ihrer zeitlichen Organisation bezeichnet und angeordnet werden, wie Becker (Becker 2014) bereits feststellte.36 (s. Abb. 1)

      Berücksichtigt man die vielen Formen »offener« Dramaturgien im Kino, müssen die Schematisierungen verschiedener Drehbuchratgeber trotz teils erhellender Kategorien fast zwangsläufig als eine Reduktion der filmischen Vielfalt erscheinen. Auch entgegen vieler Modelle für die geschlossene Form sind z. B. plot points (Dreh- oder Wendepunkte der Handlung, die unumkehrbar sind und die nachfolgende Handlung richtungsgebend beeinflussen) nicht nur in bestimmten Akten oder Phasen eines Sequenzmodells anzutreffen, sondern können an vielen Stellen auftreten.

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      Abb. 1: Vergleichbarkeit der dramaturgischen Strukturmodelle (nach Campbell, Aristoteles, Freytag,


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