Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


Скачать книгу
der Handlungskomposition (Wendungen in der Handlung, die unumkehrbar sind), Kulminationspunkte, beschleunigende oder retardierte Mittel den Verlauf strategisch gliedern,

       – dass tragische, komische und tragikomische Gattungen eigene Gesetze für Fabel, Figuren und Lösung der Konflikte haben,

       – dass Referenzen zu Alltag, Publikumswissen, Zeitgeist oder anderen künstlerischen Werken der Entstehungszeit oder aktuellen Zeit eine Entfaltung oder Aufschlüsselung des Werkes beeinflussen.

      Im Begriff Dramaturgie steckt neben der strukturellen auch eine wirkungsästhetische Dimension, denen sich diese Kriterien beugen müssen. Dabei spielen wahrnehmungspsychologische Phänomene eine wesentliche Rolle, die eng mit den Wesensmerkmalen der Verlaufskünste zusammenhängen:

      »In allen prozessualen Künsten (Musik, Tanz, Theater, Film) beziehen sich die in langer Geschichte entstandenen künstlerischen Formen neben ihrem subjektiven individuellen Ausdruck eines bestimmten sozial und historisch gebundenen Zeitgeistes auch auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung von zeitlich ablaufenden Ereignissen. Elementare physiologische und psychologische Konditionen wie Erregung und Entspannung, Aufmerksamkeit und Ermüdung, Erwartung und Enttäuschung, Bestätigung und Überraschung werden in der Strukturierung der gestalteten Abläufe berücksichtigt.« (Rabenalt 2011, S. 32)

      Zum empirisch-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Wesen von Dramaturgie gehören demnach nicht nur tradierte, funktionierende Grundmuster des Formaufbaus eines Dramas, nicht nur Modelle für die Konstruktion und Entfaltung der Fabel, die Strukturierungen der gestalteten Abläufe in unterschiedlichsten Formen, sondern auch die wirkungsästhetische Frage, wie dies alles in der Wahrnehmung des Publikums unter den gegebenen Bedingungen der Rezeption funktionieren kann und zum Nachvollziehen der Geschichte einlädt.

      Die hieraus erwachsende Frage, was Spannung in der Dramaturgie bedeutet, ist aber noch nicht beantwortet. Carl Dahlhaus schrieb mit Blick auf das Musiktheater:

      »Den trivialen Begriff von dramatischer Spannung zu berücksichtigen, der sich in der Vorstellung von raschem Tempo, dichter Ereignisfolge und einer Häufung von unaufhaltsam einer tragischen oder komischen Katastrophe entgegen treibenden Vorgängen erschöpft, dürfte überflüssig sein.«

      Entscheidend sei vielmehr

      »die Konfiguration der Personen und Affekte: eine Struktur, deren innere Spannung in jedem Augenblick fühlbar und nicht geringer als die Spannung einer Verkettung von Vorgängen ist, bei denen das Moment der Prozessualität in den Vordergrund tritt.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

      Spannung entsteht demnach, wenn Affektdarstellungen sich ergänzend kontrastieren und einander durchkreuzen. Dies kann – dem Alltagsgebrauch des Wortes »dramatisch« für ereignisreiche, spannende oder ergreifende Phasen des Erlebens ganz klar widersprechend – sowohl mit dramatischen, epischen als auch lyrischen Mitteln geschehen. Dahlhaus fügt hinzu:

      »Eine dramatisch besonders wirksame Form der Spannung ist der Gegensatz zwischen manifesten und latenten Vorgängen, wie er aus Ibsens und Tschechows Schauspielen als Kontrast zwischen einer scheinbar harmlosen Konversation und den tragischen Ahnungen, die gleichsam in den Rissen des Dialogs einen Augenblick lang sichtbar werden, bekannt ist.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

      Dramaturgie dient dem Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und auditiven Mitteln. Dabei darf Spannung aber nicht als allein prozessorientierte Verdichtung oder affektiv aufgeladener Vorgang missverstanden werden. Die durch dramatische, lyrische oder epische Mittel erzeugten Bezüge zwischen »äußerer« Handlung (suspense bzw. Verkettungen von Vorgängen handelnder Figuren) und »innerer« Handlung (tension bzw. sich durchkreuzende Affektdispositionen) lassen wirksame Formen der Spannung entstehen.

      Die Auffassung, Filmdramaturgie auf klassischer Dramentheorie aufbauend herzuleiten, wird hauptsächlich vom Personal an Bildungseinrichtungen zum Film bzw. Theater vertreten, deren Schriften teilweise im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert wurden. Zur Filmdramaturgie gehören handwerklich-gestalterische Anteile genauso wie das analytisch-beschreibende Wesen von Dramaturgie. Konzeption, Umsetzung, Wirkung, aber auch die analytische Reflexion des filmischen Erzählens werden – wie generell bei Dramaturgie – auch in der Filmdramaturgie maßgeblich von Auffassungen zur Ästhetik beeinflusst. Dazu kommen aber die bei dieser Kunstform zu berücksichtigenden komplexen ökonomischen Rahmenbedingungen der Produktions-, Aufführungs- und Vermarktungsabfolge, in denen Film als Produkt normalerweise auf eine bestimmte, unterschiedlich definierte Weise erfolgreich sein muss. Filmdramaturgie zeigt sich sowohl in der Anwendung von sehr weit zurückreichenden Gesetzmäßigkeiten, als auch in ganz neuen Formen der audiovisuellen Erzählkunst.

      Poetische Ideen müssen sich im Falle des Films im Rahmen wirtschaftlicher und organisatorischer Bedingungen und meistenteils industrialisierter Produktionsmethoden verwirklichen lassen. Poesie und Ökonomie stehen sich dabei manchmal behindernd, manchmal anregend gegenüber. Auch hierauf beziehen sich Auffassungen zur Filmdramaturgie, die Film als Kunst und zugleich als Ware in der Lebenswelt der Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden positionieren. Gattungsbegriffe wie Autorenfilm, Mainstreamfilm, Arthouse und ähnliche zeigen diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Positionen, die in die Normen der Dramaturgie eines Films hineinwirken, bereits an.

      Dramaturgie und die industriellen und technologischen Aspekte der Filmkunst sind mit dem Phänomen der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst- und Industrieprodukts Film verknüpft.17 Besonders in Zeiten der annähernd vollständigen Digitalisierung der Medienwelt sind die Reproduzierbarkeit und Formen der Präsenz eines Films neben den langen Erzähltraditionen in Literatur und Drama ein wesentlicher Aspekt der Filmdramaturgie. So gilt Film als einflussreiches wie stark beeinflusstes Massenmedium und hebt sich in diesem Ausmaß z. B. von der Theaterdramaturgie ab.

      Filmdramaturgie rückt ein besonders heterogenes Publikum ins Zentrum dramaturgischer Strategien. Der ideale Zuschauer im Kino muss anders angesprochen werden als der ideale Leser eines Buches oder ein Theaterpublikum: Die unterschiedlichen Medien, Rezeptionsorte, Formen der Performativität18 und »Rezeptionsmodalitäten«19 beeinflussen generelle und spezielle Entscheidungen zur Filmdramaturgie, die hier allerdings nicht alle im Einzelnen dargelegt werden können.

      Gegenstand der Filmdramaturgie ist auch die dramaturgische Bedeutung der Montage, d. h. das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der visuellen, verbalen und auditiven Gestaltungsmittel im Film, die somit Teil der Spezifik der Filmkunst sind. Hierzu gehört auch die besondere Beziehung zur »realen« Zeit, wie Tarkovskij schreibt:

      »[…] hier war ein neues Prinzip entstanden. Dieses Prinzip bestand darin, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur die Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. […] Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. […] das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98 f.)

      Filmdramaturgie beruht auf dem Erzählen mit eigenen bildgestalterischen und auditiven Elementen, zugleich aber auch auf Konzepten und Strukturen des Dramas und auf Mitteln des literarischen Erzählens. Zur Vergleichbarkeit des Films mit dem Drama schreibt Esslin:

      »Daß das Theater (live, Drama auf der Bühne) sui generis ist und sich in vielen seiner Methoden vom Film (und von den filmischen Formen des Fernsehens) unterscheidet, daran besteht natürlich kein Zweifel. Dennoch erscheint mir ebensowenig Zweifel daran zu bestehen, daß beiden gemeinsam eine Basis zugrunde liegt, die des Dramas.« (Esslin 1989, S. 31)

      Zu dieser gemeinsamen Basis gehören zunächst die in besonderer Weise an den zeitlichen Verlauf der Aufführung oder Vorführung vor Publikum gebundene Art des Erzählens sowie die meisten Formen des Handlungsaufbaus, der Figurendispositionen


Скачать книгу