Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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der Handlung als raumzeitlich geordnete Kausalkette verkörpere. Bordwell relativiert damit den noch grundsätzlicheren Charakter der Fabel. Er blendet in der Rückbesinnung auf die dialektische Konstruktion des Begriffspaares auch die interne Diskussion der russischen Formalisten und späterer Theoretiker (Todorov und Jakobson 1966, Eco 1973/1977, Lotman 1977) aus. Gleichzeitig verliert sich das Potenzial dieses dialektisch interagierenden Begriffspaares, wenn das Sujet als eine Teilmenge der Fabel verstanden wird.

      Auf Grundlage von Bordwells Lesart von Fabel und Sujet in seinem filmnarratologischen Modell entsteht eine Bedeutungsverschiebung. Der Begriff Fabel bzw. fabula bezeichnet nicht mehr das Prinzip und nicht die qualitativen Merkmale, nach welchem die relevanten Motive von den möglichen Motiven für die Organisation der Handlungskomposition ausgewählt und angeordnet werden. Dann wären die präsentierten Handlungen (das Sujet) lediglich die Teilmenge von etwas Größerem: der Fabel. Diese Abgrenzung unterscheidet also hauptsächlich quantitativ. Als qualitatives Kriterium bleibt bei dieser Deutung des Begriffs Fabel nur die Kausalkette. Das Prinzip der Auswahl von Motiven, aus denen dann eine Handlung zusammengesetzt wird, ist aber ein entscheidendes qualitatives Merkmal, ohne das der Handlungszusammenhang, vor allem dann, wenn er ohne Kausalkette hergestellt wird, nicht beschrieben werden könnte. Der Begriff Fabel geht bei Bordwell u. a. dafür verloren zu erklären, warum die Auswahl der Motive in einer bestimmten Weise erfolgte. Zugleich erhält der Fabelbegriff mit der Prägung »kausal-temporale Ordnung« eine Überschneidung mit dem Diegesebegriff. Mit einem so geprägten Diegesebegriff kann zusammen mit der Terminologie aus Fabel und Sujet anscheinend nicht konsistent gearbeitet werden. Daher hat sich Souriau wohl von vornherein auch nicht auf das Begriffspaar (fable/fabula und sujet) eingelassen. Genette folgte Todorov und bediente sich eines neuen Begriffs für Fabel: histoire.

      Mit der Übertragung auf den Film ist diegetische Filmmusik im Sinne Bordwells und Gorbmans eigentlich ein Widerspruch: Die präsentierte Handlung (Sujet) ist eine Teilmenge der Diegese. Die Diegese wiederum ist das übergeordnete Prinzip, das in dieser Lesart allerdings Gemeinsamkeiten mit der Fabel hat. Verkürzt lässt sich der Widerspruch bei Bordwell so darstellen:

      Fabula = kausal-temporale Anordnung möglicher Handlungen ≈ Diegesediegetisch = Auswahl und konkretisierte Präsentation der Handlung = syuzhet.

      Zwar hat schon Gorbman die Schwierigkeiten bei der Übertragung des Begriffs Diegese auf den Film thematisiert (Gorbman 1987, S. 20–22), doch ihn deswegen nicht fallen gelassen. So greift sie zur Klärung dieser Schwierigkeiten auf die Differenzierung zwischen narration und narrative (als Substantiv) zurück. Die Bedeutung der Begriffe Diegese bzw. diegetisch, wie sie auch für die Analyse von Filmmusik relevant ist, wird dadurch allerdings nicht klarer, die Begriffe nicht aussagekräftiger. Die inzwischen lange geführte Diskussion zur Terminologie verdeutlicht dies.

      Bei Auslassung des Diegesebegriffs (nach Souriau u. a.) und mit der aristotelischen Bedeutung von Fabel bzw. mythos ergibt sich ein einfacheres, für den Film taugliches und konsistentes System, das erlaubt, das dialektische Begriffspaar Fabel und Sujet konstruktiv weiter zu verwenden:

      Fabel (mythos) = einheitsbildendes Prinzip (abstrakt, Anlage, Kriterien für Auswahl)

      versus

      diegetisch (diegesis) + mimetisch (mimesis) = Modi der Nachahmung von Handlungen mit mediumspezifischen Mitteln → Sujet (konkret, Ausarbeitung, Präsentation).

      Auch das Wirken der filmischen Montage führt in Bordwells Konzept zu Widersprüchen bei der Zuordnung zu seiner Terminologie. Montage ist ein mediumspezifisches Mittel und würde daher in seiner Systematik dem style zugeordnet werden. Da aber die Präsentation der Handlung durch Montagetechniken erfolgt, müsste sie zugleich ein Aspekt vom syuzhet sein. Filmische Montage ist zudem mehr als die linear-narrative Konstruktion des Handlungsraumes und könnte als Mittel der spezifischen Entfaltung der Fabel gelten. Sie müsste daher ebenso zur Kategorie der fabula gerechnet werden.

      Offene Erzählformen werden manchmal »sujetlos« genannt, also ohne eigentliche Handlung.91 Die Ereignisse (Handlungen) sind durch die Abstraktion eines Themas verknüpft und bedeuten nicht zwangsläufig das, was sie zeigen. Konfliktkonstellationen, die sich aus einem Sujet ergeben würden (z. B. bei der Liebesgeschichte eines Paares), werden bei sujetlosen bzw. offenen Erzählformen und Fabeltypen bewusst nicht dafür verwendet, die Handlung voranzutreiben (z. B. eine dritte Person bringt das Gefüge der Paarbeziehung durcheinander). Vorschnelle Prognosen und Erwartungen führen auf einen falschen Weg oder zur falschen Interpretation der Vorgänge. Offene Erzählformen leuchten das Wesen ihrer Protagonisten und deren Lebensumstände aus. Ein vordergründiger Konflikt, der als Antrieb der Handlung benötigt wird, würde hier nur ablenken und die Lücken, die in einer solchen Erzählung bleiben, mit zu einfachen Antworten füllen. Handlungen und Ereignisse, deren Bedeutung manchmal nur erahnt werden können, reihen sich in offenen, sujetlosen Erzählformen so aneinander, dass sich oft erst am Ende ein Netzwerk der verwendeten Motive erschließt. Mit diesem Netzwerk der Motive müssen sich die Rezipierenden in offenen oder sujetlosen Erzählformen in Beziehung setzen. So entsteht ein Zusammenhang mit mehreren Deutungsmöglichkeiten.

      Das Fabel-Sujet-Begriffspaar kann in einer modernisierten Variante, die flexibel auf unterschiedliche Erzählformen anwendbar ist, für die Filmmusikforschung produktiv werden. Veröffentlichungen, die Fabel und Sujet für Untersuchungen zur Filmmusik nutzen, sind bisher selten und weisen nicht alle die gleiche Lesart dieser Konzepte auf.92 Royal S. Brown gebraucht mit »Mythos« die im aristotelischen Sinne korrekt übersetzte Vokabel. Seine Verwendung des Wortes mythos changiert zwar, enthält aber wesentliche Aspekte, die ich im modernisierten Konzept der Fabel sehe, und er erinnert daran, dass die englischsprachige Erzähltheorie dafür das Wort story verwendet:

      »One thing that all of my uses of the concept of myth have in common, however, is the element of the paradigmatic. In other words, the degree to which a given character, object, or situation escapes from the moment of time and piece of space in which he/she/it appears in a given narrative (keeping in mind that mythos = story) to link with other characters, objects, and situations from other narratives, and the degree to which that character, object, and/or event escapes from a causal or historical determination of that moment of time and piece of space, is the degree to which the moment in the narrative becomes mythic.« (Brown 1994, S. 9)

      Brown zitiert in seinem Filmmusikbuch auch einen Text von Lotman und untermauert das Fabel-Sujet-Begriffspaar, allerdings mit der ins Englische übersetzten Terminologie von Lotman:

      »I also find extremly useful an article by Russian semiotician Jurij Lotman entitled ›The Origin of Plot in the Light of Typology‹. In this key study, Lotman examines the differences between the mythic text and what he refers to as the ›plot text‹.« (Brown 1994, S. 9)

      In der englischen Übersetzung von Lotmans Text erscheint plot bzw. plot text im Sinne von Sujet in der Ergänzung zu mythos bzw. mythic text im Sinne von Fabel. Browns Orientierung an diesen erzähltheoretischen Grundlagen blieb in der Filmmusikforschung bisher weitgehend unbeachtet.

      Die folgende Tabelle, die im Bereich Narratologie auf eine von Schmid gegebene Übersicht zum Begriffspaar Fabel und Sujet aufbaut (Schmid 2014, S. 222), zeigt Begriffsvarianten und die Anwendung in anderen Wissenschaften, darunter in der Filmmusiktheorie. Auch wenn die Lesarten, Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen nicht in einer solchen Übersicht im Detail erfasst werden können, die Vergleichbarkeit nicht vollständig gegeben ist und immer die zugrunde liegenden theoretischen Hintergründe berücksichtig werden müssen, gibt sie doch einen Überblick zu diesem viel diskutierten Feld der Narratologie. (s. Abb. 5)

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      Abb. 5: Begriffsvarianten für Fabel und Sujet


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