Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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Reflex auf die Musik oder ihre Rezeption ist. Dies gilt für Tendenzen impressionistischer Kunst ebenso wie für Charakterstücke aus Barock, Klassik und Romantik. Ein Programm kann die Wahrnehmung öffnen und das Verständnis fördern (und damit sowohl der Erkenntnis als auch dem Kunstgenuss dienen), solange es nur hindeutet und nicht versucht, dem Publikum eine einzig gültige Deutung aufzuzwingen und das Werk nicht letztgültig erschließen will.108

      Die Sinfonische Dichtung ist eines der prominentesten Beispiele für Gattungen der Programmmusik. Doch auch an dieser Gattung zeigt sich, dass der »Inhalt« von Programmmusik musikalischer und nicht literarischer Natur ist.109 Sieht man das Programm als Impuls einer inneren Empfindung oder als Reflex auf einen äußeren Anlass, ist der außermusikalischen Stoff, das Sujet, nicht der schöpferisch-formende Teil des Werkes, sondern das Musikalische. Selbst bei stereotyper Nutzung von Werken der Programmmusik im Film scheint die »tönend bewegte Form« die schöpferische und ästhetische Kraft zu sein und nicht der Inhalt des Programms.

      Gustav Mahler unterschied zwischen einem »inneren« und »äußeren« Programm, wie Dahlhaus zusammenfasst:

      »Präsentiert sich das »äußere« Programm als Bilderfolge, so ist das ›innere‹ ein ›Empfindungsgang‹, allerdings einer, der sich dem Zugriff empirisch-psychologischer Kategorien entzieht.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 115).

      Der Dirigent und Komponist Gustav Mahler sieht im Musizieren den »ganzen Menschen« sich ausdrücken, der vom Gang seiner Empfindungen in Bezug zu allem, was ihn bewegt, erzählt. In Mahlers Vorstellung sind andere Kunstformen im Musizieren vereinigt. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er:

      »Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber WAS man musiziert, ist doch immer der GANZE (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch. Es wäre ja auch weiterhin nichts gegen ein ›Programm‹ einzuwenden (wenn es auch nicht gerade die höchste Staffel der Leiter ist) – aber ein MUSIKER muss sich da aussprechen und nicht ein Literat, Philosoph, Maler (alle die sind im Musiker enthalten). [alle H. i. O.]« (Mahler 1982, S. 293)

      Gustav Mahler bewegt sich in einem Bereich der metaphysischen Musikästhetik. Das »äußere« Programm lässt sich zwar mit konkreten Bildern und sprachlichen Mitteln beschreiben, aber verbleibt im Bereich der literarischen oder bildenden Kunst. Das »innere« Programm, das Mahler als »Empfindungsgang« sieht, erzählt vom ethos seines Schöpfers und kann vom pathos, das im Illustrativen steckt, unterschieden werden. Die Ganzheit der Gefühls-, Lebens- und Gedankenwelt, die sich im Musizieren und in Musikwerken ausdrücken kann, legt es nahe, von Weltanschauungsmusik oder »Ideenkunstwerk« statt von Programmmusik zu sprechen.110

      Fasst man die Diskussion über Programmmusik und sogenannte »absolute« Musik grob zusammen, lässt sich sagen, dass literarische Programme nicht die Substanz des musikalischen Werkes berühren. Sie können zu den Entstehungsbedingungen von Musik gehören, aber nicht das Wesen der Musik darstellen oder erfassen. Aus dieser Sicht bleibt Programmmusik – im Gegensatz zur Illustrationsmusik – autonome Musik. Richard Strauss ging so weit zu sagen, dass es gar keine Programmmusik gäbe.111 Dennoch schuf auch er Werke, die zweifellos schildernd sind, äußere Natur illustrieren oder eine Geschichte musikalisch bebildern. Neben Programmmusik als »hermeneutische Gleichnisreden« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 112) existieren auch Abstufungen, die bis hin zur Illustration einer äußeren Erscheinung reichen.

      Adorno schreibt in seinem wegweisenden Mahler-Buch: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86). Dort beschreibt er auch den mimetischen Impuls, den Musik in unterschiedlichem Maße haben kann und der durch die musikalische Formung in eine Wechselbeziehung zum Musikalischen tritt. Mit dieser anschaulichen Formulierung ist nicht die Nachahmung eines Sujets gemeint, sondern seine Verarbeitung.

      »Als ausdrucksvolle verhält Musik sich mimetisch, nachahmend, wie Gesten auf einen Reiz ansprechen, dem sie sich im Reflex gleichmachen. Dies mimetische Moment tritt in der Musik allmählich mit dem rationalen, der Herrschaft über das Material zusammen: wie beide aneinander sich abarbeiten, ist ihre Geschichte.« (Adorno 1960/1969, S. 34)112

      In der Musikästhetik des späten 19. Jahrhunderts verbirgt sich der seltsame Widerspruch zwischen Nicht-Erfassbarkeit von Gefühl oder Idee und deren Bindungen an außermusikalische Impulse. Der erzählende Gestus und die Perspektive einer künstlerisch sich äußernden Person, die ein Sujet verarbeitet, ist zu einem Merkmal des Kunstsystems Musik geworden. Im Kino trifft es auf ein filmisches Kunstsystem, dem man eine ähnliche Qualität zuschreiben kann, sodass mit den Worten Bachtins von der »Polyphonie der Stimmen« auch im Kino gesprochen werden kann.113 Die vage Existenz eines »ästhetischen Subjekts« (Danuser 1975, S. 15), das sich durch Musik äußert, bildet einen Teil der rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen, die den Einsatz und die Wirkung von Filmmusik beeinflussen.

      Die Affinität von Filmschaffenden für die Verwendung der Musik von Wagner und Mahler im Film hängt, so lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, mit der in ihrer Instrumentalmusik schon enthaltenen Wechselwirkung von musikalischer Form mit Ideen- und Gefühlswelt zusammen. Die Gedanken, Ideen und Gefühle, die sich in einem musikalischen Ideenkunstwerk niedergeschlagen haben, können bei zitierter, präexistenter oder an jene Tonsprache angelehnter Musik in die filmische Erzählung integriert werden, z. B. zur Strukturbildung, Sinnstiftung oder Illustration. Bis ins Letzte bestimmbar sind die Ideen jedoch – zumal in einem neuen, tatsächlich narrativen Kontext eines Films, der ihre ideelle Bedeutung allerdings auch einengen kann – nicht.

      In der angloamerikanischen Musikwissenschaft wird seit ca. 1990 über Analogien zwischen musikalischen und narrativen Prinzipien nachgedacht. In dazu gehörenden und anderen Untersuchungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, die von allgemeinen Vergleichen zwischen Handlung, Charakteren usw. und musikalischen Gestalten, Prozessen usw. bis hin zu sehr direkten Vergleichen reichen, die selbst Zeitformen und die Unterscheidung von erster oder dritter Person suchen.114

      Fred Maus beruft sich auf Heinrich Schenker (Schenker 1935/1956), dessen Vergleiche zwischen alltäglichen Erfahrungen und deren künstlerischen Übersetzungen die Möglichkeit zulassen, musikalische Ereignisse als Teil einer »musikalischen Handlung« zu verstehen:

      »Schenker’s remarks suggest the possibility of a generalized plot structure for tonal music; his list of ›obstacles, reverses, disappointments‹, and so on enumerates, informally, kinds of event in musical plots […].« (Maus 1991, S. 4).

      Doch auch schon in seiner Harmonielehre (Schenker 1906) zeigt sich eine narrative Implikation: Die in einem Ton enthaltene Tendenz zur Hinzufügung der Quinte (gefolgt von der Terz als Ergänzung zum Dreiklang) kann als prozessuale, in die Zukunft gerichtete Analogie gelesen werden. Dagegen wäre die »Inversion« (Schenker 1906, S. 44 ff.) zur Unterquinte bzw. zum Quintfall als »Vergangenheit« des Tons zu verstehen. Damit steht Schenker allerdings einer anderen Tradition entgegen: der Rameau’schen Fundamenttheorie, die sich seine Zeitgenossen Simon Sechter, Anton Bruckner und Arnold Schönberg zu eigen machten, welche genau umgekehrt die Tendenz zum bzw. Auflösung mit einem Quintfall als in die Zukunft gerichtete Erwartung auffasst.

      Einige neuere Arbeiten zeigen Versuche, narrative Kategorien möglichst direkt zu übertragen, z. B. die grammatikalischen Fragen nach der ersten oder dritten Person oder dem Vorhandensein verschiedener Zeitformen, insbesondere einer Vergangenheitsform in musikalischen Strukturen.115 Raymond Monelle behauptet, dass harmonisch oder thematisch fest gefügte Abschnitte (insbesondere Themen und Themenblöcke) der Schilderung von Vergangenheit entsprächen, Entwicklungsteile (Überleitung, Modulation, Durchführung, rhythmische oder harmonische Verdichtung) dagegen mit der Schilderung von gegenwärtiger Handlung vergleichbar wären (Monelle 2000, S. 102).

      Schon Heinrich Christoph Koch hatte in seinem 1802 veröffentlichten Musikalischen Lexikon den Versuch unternommen, musikalische Logik anhand der Zuweisung von Subjekt und Prädikat fassbar zu machen, nahm davon


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