Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
an narrative Kategorien dann sinnvoll sein kann, wenn sich autonome Musik – wie im Falle von Beethovens und Mahlers Sinfonien – den tradierten Formkonzepten und damit auch den Rezeptionsgewohnheiten entzieht. Dies scheint produktiver als ein Hineinpressen von Musik entweder in eine zu begrenzte Sonatentheorie oder in Modelle der Dramentheorie. Wie Sponheuer am Beispiel des Terminus »Peripetie« zeigt, steht Adorno damit in einer – wenn auch noch relativ kurzen – Forschungstradition:
»Der Begriff ›Peripetie‹ als musikalische Kategorie ist wohl zum ersten Male in der Wiener Dissertation Heinrich Schmidts ›Formprobleme und Entwicklungslinien in Gustav Mahlers Symphonien. Ein Beitrag zur Formenlehre der musikalischen Romantik‹, Wien 1929, auf Mahlers Symphonien angewandt worden: Schmidt 81 ff. Er wird dort allerdings mehr psychologisch (›Betrachtung der psychologischen Steigerungen und Entwicklungen, die wie in jedem romantischen Werk auch in Mahlers Symphonien den Kern der Anlage bilden‹ Schmidt, 81) als strukturell akzentuiert. Der Adorno’sche Begriff des ›Durchbruchs‹ (vgl. Adorno, Mahler, 10–24, 60 ff.) entspricht weitgehend dem der Peripetie, allerdings ohne im geringsten dessen psychologische Motivation zu teilen.« (Sponheuer 1978, S. 52, Anm. 5)
Als ein interessanter neuerer Versuch, literarische Kategorien auf Musik zu übertragen, ist ein Kongress-Beitrag von Jens Marggraf zu nennen, der bereits folgendermaßen kommentiert wurde:
»Die Überführung von Analyse in Musikästhetik realisierte mustergültig Jens Marggraf (Halle), der eine Annäherung an den Kompositionsstil C. Ph. E. Bachs ausgehend von analogen Strukturprinzipien in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy suchte. Dabei gelang ihm eine verblüffende Parallelisierung von literarischen Techniken der englischen Empfindsamkeit mit kompositorischen Strategien in Bachs Rondos und Fantasien.« (Froebe 2006, S. 368)
Der von Marggraf angestellte Vergleich mit Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman132 ist auch insofern interessant, als dass Sterne ein Vorbild für Jean Paul war, der (wie im vorigen Kapitel ausgeführt) bedeutsam für die musikalischen Romantiker (allen voran E. T. A. Hoffmann, R. Schumann und H. Berlioz) war.
Bei allen bemerkenswerten Analogien in der Geschichte der Musiktheorie, die zum Drama, Roman oder aber zu Modellen der Rhetorik hergestellt werden können, geht jedoch keines der Analogiekonzepte vollständig auf. Die narrativen und dramaturgischen Implikationen, die von diesen Analogien angesprochen werden, sind aber von großem Interesse für die musikalische Analyse und für die von Dramaturgie thematisierten Fragen zum Zusammenhang von Struktur und Wirkung prozessualer Künste. Greifbar werden sie durch miteinander in Beziehung tretende und aus anderen Kunstgattungen vertraute Wirkungsmechanismen und Strukturähnlichkeiten. Durch Analogien verbalisierbare Ideen verbinden sich so mit einer abstrakt bleibenden musikalischen Welt, die viele individuelle Reflexionen und Resonanzen zulässt.
Dramaturgie hat eine praktische, auf die Aufführung gerichtete und eine theoretische Seite, die Strategien, Grundsätze und Normen systematisiert. Sie ist auch als eine Methode geeignet, künstlerische Werke in den Erscheinungsformen der zeitbasierten, darstellenden Künste zu durchdringen. Die Kategorien der Dramaturgie sind dafür geeignet, Erzählkunst und rezeptionsästhetische Modellvorstellungen des darstellenden Erzählens begrifflich und künstlerisch zu fassen. Dabei wird das Publikum ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Darin unterscheidet sie sich z. B. von der Narratologie. Mit Dramaturgie kann man die in einer Geschichte verhandelten Themen kreativ durchdenken. Sie ist weniger als ein fest gefügtes Regelwerk zu verstehen, als das sie oft eingegrenzt wird, sondern bündelt Überlegungen und Konzepte, um die für eine (filmische) Erzählung geeignetste Relation von Handlungsaufbau, Wirkung und Glaubwürdigkeit zu erreichen. Dazu gehört auch der Aktualitätsbezug der Geschichte und ihrer Form. Die Vielfalt der erzählerischen visuellen und auditiven Mittel, darunter Sprache, Affektlaute, Geräusche und Musik, wird von Dramaturgie in eine notwendige Begrenzung geführt.
Damit ist Dramaturgie Teil der Ästhetik und Theoriebildung ebenso wie der praktischen Umsetzung. Trotz unterschiedlicher Auffassungen und unterschiedlicher Terminologie kann eine Reihe tradierter, aber auch moderner Begriffe, Strukturmodelle und Strategien aufgegriffen werden. Dazu zählen grundsätzliche Konzepte wie die Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen, das Konzept der offenen und geschlossenen Form und das Fabel-Sujet-Begriffspaar. Konkreter werden Strukturmodelle, die nach Akten oder Sequenzen gegliedert sind, einhergehend mit der Benennung von Wendepunkten der Handlung und die Differenzierungen unterschiedlicher Fabelkonzepte und Strukturmuster.
Die Kategorie der Spannung ist ein wesentliches Element von Dramaturgie, da neben strukturellen Fragen auch das Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und anderen auditiven Mitteln (darunter Musik) von Dramaturgie mitbestimmt wird. Die genannten Modelle beinhalten daher Konzepte, die das Verhältnis von Handlungskurve und Spannungskurve regeln. Durch Bezüge zwischen äußeren Handlungen (Figuren in sichtbaren Vorgängen) und inneren Handlungen (Affektdispositionen und Überzeugungen der Charaktere) entsteht aber auch eine andere Form von dramaturgisch bedeutsamer Spannung, sodass zwischen handlungslogischer Spannung (suspense) und in der Anlage und Figurendispositionen einer Geschichte steckender Grundspannung (tension) unterschieden werden kann.
Bei der Anwendung des Begriffs Dramaturgie auf den Film kommen poetische Eigenheiten hinzu, vor allem die Gestaltungsformen der filmischen Montage. Sie ist nicht nur als Technik zur Simulation eines raumzeitlichen Kontinuums zu verstehen, das der Handlungslogik dient, sondern realisiert auch auf spezifische Weise den Wechsel zwischen epischen, dramatischen und lyrischen Passagen einer Filmgeschichte. In keinem anderen Medium ist der Wechsel zwischen diesen Erzählmodi so flexibel möglich. Sofern ergänzende Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit in einem Film enthalten ist, liegt ihre dramaturgische Berechtigung in erster Line darin, Brüche bei den Übergängen zwischen den Modi zu überbrücken und die an sie geknüpften unterschiedlichen Rezeptionsstrategien wach zu rufen. Filmdramaturgie befindet sich im Spannungsfeld der ökonomischen Kräfte eines reproduzierbaren Massenmediums, sodass nie eindeutig gesagt werden kann, welche Faktoren für den Erfolg eines Films stehen und ob sich Kunst und Ökonomie in einem befruchtenden oder behindernden Verhältnis gegenüberstehen.
Aus dramaturgischer Sicht muss die Terminologie zur Analyse von Filmmusik an entscheidender Stelle überdacht werden, was am Beispiel der Diskussion zu den Begriffen diegetisch/non-diegetisch deutlich wird. Bei der Übertragung des antiken Begriffs diegesis in die Filmtheorie sind für die Dramaturgie entscheidende Aspekte unberücksichtigt geblieben. So entstand eine inkonsistente, für Filmmusik nicht treffend differenzierte Terminologie, deren Umbau mit Blick auf die Musikdramaturgie nach wie vor nicht zu befriedigenden Lösungen geführt hat. Auch zum Begriff mimesis bestehen Missverständnisse, die zur Eingrenzung von mimesis als Nachahmung der Wirklichkeit führen können und ihre schöpferische Seite (in doppelter Hinsicht: durch das Dichten und beim Nachschöpfen durch das Publikum) bei der Aneignung der Welt vernachlässigen. Vor allem der durch Aristoteles geforderte Aspekt der Wahrscheinlichkeit relativiert den Wahrheitsanspruch der Nachahmung nach Platon und verleiht der Mimesis die Eigenschaft, die Welt so zeigen zu können, wie sie »sein soll«.
In der Erzählkunst kann unterschieden werden, ob Handlungen mimetisch (zeigend) und somit ohne eine vermittelnde Instanz oder diegetisch (erzählend, berichtend) und dabei mit Vermittlung durch eine Erzählinstanz präsentiert werden. Beides sind für den Film essenzielle Arten der Nachahmung bzw. Modi der Darstellung, die allerdings nicht kompatibel sind mit der geläufigen Terminologie der Filmmusiktheorie, insbesondere mit den Begriffen diegetisch/non-diegetisch, die – einfacher – durch das Paar intern/extern ersetzt werden könnten, um die dramaturgische Dimension der antiken Begriffe diegesis und mimesis beibehalten zu können. In der Poesie des Kinos ist die logische Trennung von Musik im Präsentationsraum (extern) und im Handlungsraum (intern) nur als kategoriales Gerüst hilfreich, das wieder entfernt werden kann, sobald die Geschichte vollständig ist und in der Aufführung bzw. Vorführung abläuft.
Der mimetische Modus der Darstellung hat