Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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zur Darstellung seelischer Eigenschaften befähigt, und diese ruft in dem Hörer die verwandten Seelenregungen hervor. Die ethische Wirkung der Musik erklärt Aristoteles aus dem Wesen der Musik selbst, ohne den Text heranzuziehen.« (Fleischer 1989, S. 634)

      Damit ist die Frage nach dem Gegenstand oder »Inhalt« von Musik aufgeworfen, den Hegel in seinem Kapitel über die Romantischen Künste »gegenstandslose Innerlichkeit« nannte.

      »Ihr [der Musik] Inhalt ist nicht das an sich selbst Subjektive, und die Äußerung bringt es gleichfalls nicht zu einer räumlich BLEIBENDEN [H. i. O.] Objektivität, sondern zeigt durch ihr haltungsloses freies Verschweben, daß sie eine Mitteilung ist, die, statt für sich selbst einen Bestand zu haben, nur vom Inneren und Subjektiven getragen und nur für das subjektive Innere dasein soll. […] die Töne klingen [wegen ihrer äußerlichen Flüchtigkeit, R. R.] nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird. Diese gegenstandslose Innerlichkeit in betreff auf den Inhalt wie auf die Ausdrucksweise macht das Formelle der Musik aus. Sie hat zwar auch einen Inhalt, doch weder in dem Sinne der bildenden Künste noch der Poesie; denn was ihr abgeht, ist eben das objektive Sichausgestalten, sei es zu Formen wirklicher äußerer Erscheinungen oder zur Objektivität von geistigen Anschauungen und Vorstellungen.« (Hegel 1818–29/1984, S. 262)

      Konkreter wird es bei Musik, die an ein konkretes Sujet gebunden ist. Doch auch hier lässt sich ein Inhalt letztlich nicht genau bestimmen. Für die Beurteilung einer möglichen Narrativität von Musik ist der Unterschied zwischen den Materialarten (Töne und thematisiertes Sujet) wichtig.

      »[…] ein Sujet ist kein Vorbild, das nachgeahmt wird, sondern ein Stoff, den der Komponist verarbeitet. Ein Tonvorrat und ein Sujet bilden […] zwei Arten von Material; und erst aus der Wechselwirkung von Sujet und ›tönend bewegten Formen‹ [eine Formulierung von Eduard Hanslick – R. R.] entsteht der musikalische Inhalt, den erzählen zu wollen einen Irrtum über seine Daseinsweise einschließt.« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 489)

      Für einen Diskurs zur Ästhetik und Praxis der Filmmusik darf Richard Wagner weder vergessen noch überschätzt werden. Die Kunstform Film wird immer wieder in Beziehung zu seiner Idee vom »Gesamtkunstwerk« gesetzt, in welchem Musik mit den anderen Künsten erst zu ihrer vollen Entfaltung komme. Wagners Musik prägte zweifellos die Komposition und den Einsatz von Musik im Film. Er vertrat aber eine in sich widersprüchliche Musikästhetik. Schließlich sah er »absolute« Musik als eine Form an, der die Vollendung versagt bliebe, da sie von szenischer Aktion und Sprache losgelöst sei:

      »[…] in ›Das Kunstwerk der Zukunft‹ (1849) und ›Oper und Drama‹ (1851) wird der […] Terminus ›absolute Musik‹ – oder das Wortfeld, das die Ausdrücke ›absolute Musik‹, ›absolute Instrumentalmusik‹, ›absolute Tonsprache‹, ›absolute Melodie‹ und ›absolute Harmonie‹ umfasst – zur zentralen Vokabel einer geschichtsphilosophischen oder geschichtsmythologischen Konstruktion, die auf das musikalische Drama zielt. ›Absolut‹ nennt Wagner – mit polemischem Akzent – sämtliche vom ›Gesamtkunstwerk‹ losgerissenen ›Teilkünste‹. […] ›Absolute Musik‹ ist nach Wagner eine ›abgelöste‹, von ihren Wurzeln in Sprache und Tanz losgerissene und darum schlecht abstrakte Musik. Wagner, der vom musikalischen Drama eine Wiedergeburt der griechischen Tragödie erhoffte, wandte sich zurück zu dem musikästhetischen Paradigma antiken Ursprungs, von dem sich im späten 18. Jahrhundert die romantische Metaphysik der Instrumentalmusik polemisch abgehoben hatte.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 25)

      Ein Teil der Anziehungskraft von Wagners Musik zu außermusikalischen Inhalten des Films liegt wohl darin, dass diese im Bewusstsein davon komponiert wurde, mit szenischer Aktion und Sprache zusammenzuwirken. In einem Brief an Theodor Uhlig erklärt Wagner, dass das Wesenhafte der Musik (er bezieht sich dabei auf Beethovens sinfonisches Werk) auf einem Gegenstand beruhe, der zur Darstellung komme.102 Würde Musik nur aus musikalischen Elementen heraus entwickelt werden, ihr also keine »philosophische Idee« oder kein »dichterischer Gegenstand«103 zugrunde liegen, die den Anlass für die ausgedrückten Empfindungen gäben, wäre dies so, als würde ein Maler seinen Gegenstand aus der Farbe entnehmen.104

      Auffassungen und Begriffe zur Musikdramaturgie im Film scheinen erheblich von musikästhetischen Auffassungen zur Programmmusik beeinflusst worden zu sein. So haben – wohl in der geschichtlichen Entwicklung der Filmmusik begründet – Ansichten aus dem 19. Jahrhundert offenkundig auf die Filmmusik und Musikdramaturgie im Film eingewirkt.105 Die Ablehnung oder Umdeutung dieser musikästhetischen Positionen zeigte sich dann in neuen Kompositionstechniken (modulare Patterns, Techniken der sogenannten Neuen Musik, Verfremdungstechniken), in der Verwendung kammermusikalischer Besetzungen, verfremdender elektronischer Musikanteile, im Fehlen von Musik an erwartbaren Stellen oder durch das ausgefeilte Unterlegen von Filmen mit existierenden Popsongs (song scoring) anstelle von komponierter Filmmusik. Die Geschichte der Filmmusik geht dabei untrennbar einher mit der Filmgeschichte, d. h. mit Filmen, die andere Themen wählten oder andere Formen für ihre Geschichte gefunden haben. Doch auch hier gilt es, die Koexistenz unterschiedlicher Tendenzen im Auge zu behalten, um Musikgeschichte und Musikästhetik für die Theoriebildung berücksichtigen zu können.106

      Die Untersuchung der Ursprünge und Fragen nach einer möglichen Narrativität von Musik ergibt folgendes Bild: Programmmusik ist das Verständnis von Musik in der Zeit des späten 18. und im 19. Jahrhundert, in der den Menschen Erfahrungen über die Welt hauptsächlich über die Literatur zukommen »und die Literatur über eine Sache von kaum geringerer Bedeutung als die Sache selbst ist« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 498). Literarische Texte (aber auch Bilder) können entweder als initiierende Impulse für oder als nachfolgende Reflexe auf den »Inhalt« von Musik angesehen werden.

      Die Auffassungen zur Programmmusik sind im 19. Jahrhundert, in welchem die musikästhetische Debatte zu diesem Thema einen Höhepunkt hatte, davon geprägt, dass Musik zwar »beredt sei, […] sich aber dem Begreifen, der Vergewisserung des Inhalts der Musik immer wieder entzog« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 499). Von Narrativität in Programmmusik kann also nur indirekt gesprochen werden, da Musik uns zwar durchaus etwas »erzählt«, jedoch der konkrete Inhalt dieser »Erzählung« in unzählige individuelle Deutungen zerfällt, ja im Verständnis der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts vage bleiben soll.

      Sobald man den Inhalt von Musik in Worte fasst oder den emotionalen Reflex auf Musik zu beschreiben versucht, verschwindet die Ambivalenz und damit der Wert, den musikalische Programmatik für den Gefühlshaushalt hat. Mit dem, was Worte beschreiben können, werden Empfindungen banalisiert, da sie meist alles drumherum Befindliche ausschließen. Eine »musikalische Erzählung« schließt dagegen unterschiedliche Deutungen mit ein und mit ihr die verwandten Empfindungen einer zentralen Inhaltsidee.

      Beispiel: Debussy: Préludes für Klavier

      Claude Debussy hat seinen Préludes für Klavier (1910–1913) programmatische Titel nachgestellt. Das Prélude Nr. 6, triste et lent aus dem 1. Band trägt beispielsweise den Untertitel Des Pas Sur La Neige. Nachdem also das Stück gespielt wurde, bietet der Komponist ein Programm an, das sich in einem möglichen Sujet (z. B. Spaziergang durch verschneite Landschaft) zeigt. Der schreitende Rhythmus, das Innehalten, der melancholische Grundton, die spürbare »Stille«, wie sie für Landschaften im Schnee, der akustische Reflexionen »verschluckt«, typisch ist, erscheinen plötzlich als treffende Assoziationen. Welche Facette dieser nur geringen Auswahl an narrativen Implikationen gültig ist, bleibt völlig offen, so offen, dass auch ein anderes Sujet zur selben Musik durch eine Unter- oder Überschrift benannt werden könnte. Für die Préludes Nr. 1, 3, 4, 7 und 8 aus Band 1 sowie Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10 aus Band 2 lassen sich immerhin konkrete außermusikalische Impulse belegen, die aus der Literatur, Sagenwelt, Architektur und Malerei stammen oder sich – wie im Falle von Nr. 6 (Band 2) General Lavine – excentric auf eine konkrete Person (einen amerikanischen Clown, der 1910/12 in Paris auftrat) beziehen.107

      Ein Programm, das von Komponisten


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