Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt

Musikdramaturgie im Film - Robert Rabenalt


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nach Auffassung von Nattiez, der immer wieder im Zusammenhang von Narrativität und Musik zitiert wird, die prozessuale Gestalt einer Handlung annehmen, aber nicht mit Bedeutung gefüllt werden:

      »If, in listening to music, I am tempted by the ›narrative impulse‹, it is indeed because, on the level of the strictly musical discourse, I recognize returns, expectations and resolutions, but of what, I do not know.« (Nattiez 1990, S. 245)

      So blieben nur Metaphern, schlussfolgert Nattiez weiter (Nattiez 1990, S. 257).

      Musikalische Narrativität ist in der angloamerikanischen Forschungslinie, die auch von Kanada ausgeht und in Frankreich rezipiert wird und teils das Vokabular der russischen Formalisten aufgreift, durch entweder sehr direkte Analogien zu literarischen Kategorien geprägt oder wird wegen der Begrenztheit dieser Versuche kritisch hinterfragt, besonders wegen der schwer zu klärenden Frage nach Inhalt, Bedeutung oder der Botschaft von Musik und worin musikalische Logik außerhalb der motivisch-thematischen Arbeit begründet sei.

      Im deutschsprachigen Raum greifen Markus Bandur117 und Hartmut Fladt118 die Idee auf, Begriffe der Filmtheorie musikwissenschaftlich zu beleuchten. Plot – das englischsprachige Wort für Handlung bzw. Sujet119 – steht bei Bandur allerdings für das, was ich als Fabel bezeichnen würde:

      »Der Ausdruck Plot, der in der Literaturwissenschaft und davon ausgehend in der Filmtheorie zur Bezeichnung einer Handlung beziehungsweise ihres Kerns, ihrer kausalen Stimmigkeit und ihrer strukturellen Logik dient, kann dementsprechend in der Musik den in Sprache übersetzbaren ›Angelpunkt‹ oder die umfassende Grundidee eines musikalischen Gebildes bezeichnen, aus dem beziehungsweise der heraus sich seine individuelle Formung verstehen und erklären läßt. […] Wie jeder Beschreibung musikalischer Sachverhalte durch Wortsprache haftet der Herausarbeitung eines Plots in der [musikalischen – R. R.] Analyse dabei der Charakter des Metaphorischen und Analogischen an.« (Bandur 2002, S. 69)

      Mit »Angelpunkt« und »umfassende Grundidee« beschreibt Bandur eigentlich den für die Fabel charakteristischen inneren Zusammenhang, den geeigneten Ausgangspunkt, aber auch das Entwicklungspotenzial des Materials und sich daraus ergebende Beziehungen der Teilelemente untereinander. Der erste zitierte Satz von Bandur ist allerdings ungenau: Plot heißt Handlung, der sogenannte Kern der Handlung wäre die Fabel bzw. story.120 Der frühere musiktheoretische Begriff dafür ist »Anlage« von Heinrich Christoph Koch (Koch 1782/1787/1793), der – wie Hartmut Fladt bemerkt (Fladt 2009, S. 13) – seit Ende des 18. Jahrhundert in Philosophie und Musiktheorie geläufig ist.121

      Das Konzept vom »ästhetischen Subjekt« (Danuser 1975, S. 15) überbrückt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Analogiebildung zwischen literarischer und musikalischer »Narrativität«. Es tritt nicht nur als moralische Instanz auf, sondern kann auch ähnlich einer narrativen Instanz musikalische Vorgänge strukturieren und sogar kommentieren.

      Beispiel: L. v. Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, 2)

      Ludwig van Beethovens Musik »kommentiert« die von ihm provozierten Umbrüche – seinen vielzitierten »neuen Weg«122 – zuerst in den Klaviersonaten, dann auch in den Sinfonien. So beginnt z. B. der erste Satz Largo – Allegro in Beethovens Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, Nr. 2) mit einem arpeggierten A-Dur-Sextakkord, der die Assoziation an ein Rezitativ weckt. Es ist eine Form innerhalb von Vokalwerken, in der die Figurenrede oder aber der Bericht oder Kommentar eines Erzählers vorgetragen wird. Innerhalb der einleitenden 20 Largo-Takte erklingt die Gestalt des Sextakkordes ein weiteres Mal. Im Übergang zur Durchführung erscheinen in T. 93–98 drei weitere solcher Sextakkorde mit der Rezitativ-Assoziation. In der Reprise kehren die ersten beiden Sextakkorde wieder, nun erweitert durch etwas, das als wortloses, mit dem Klavier »gesungenes« Rezitativ bezeichnet werden kann. Es setzt sich deutlich von der Umgebung ab (T. 143–158) und ist mit con espressione e semplice überschrieben. Spätestens an dieser Stelle ist Raum für die Assoziation zu jenem Gestus, der für die Eröffnung von Rezitativen typisch wäre. Durch das eingefügte Klavier-Rezitativ und die rezitativisch anmutenden Sextakkorde als versetzt eingestreute Begleitakkorde verschafft sich inmitten des musikalischen Prozesses gleichsam ein »Erzähler« Raum und Gelegenheit zum Kommentar. Das scheint auch insofern in diesem Fall notwendig zu sein, da der erste Satz der Sonate die tradierten Auffassungen zur musikalischen Form ignoriert: Die barocke und klassische Idee der Affekteinheit innerhalb eines Satzes, die z. B. noch bei Haydn obligatorisch war, wird negiert, und die Ergänzung musikalischer Teile mit Taktgruppen, die einen Ausgleich von harmonischer und motivisch-thematischer Spannung bewirken, bleibt unvollkommen. In seinem persönlichen Experimentierfeld der Klaviersonate markiert Beethoven somit einen kompositorischen Neuanfang,123 der Außergewöhnliches in seiner musikalischen Dramaturgie offenbart. Im erwähnten Beispiel steht noch relativ deutlich und mit den genannten musikalischen Mitteln markiert das »ästhetische Subjekt« als imaginärer »Erzähler« oder »Moderator« vermittelnd zwischen Publikum und Werk.

      Für musikalische Formen wurden vonseiten der Musiktheorie und Musikwissenschaft immer wieder Analogien zu den narrativen Künsten hergestellt. Ein durch narrative Metaphern124 gestütztes Formdenken wirkte wiederum auf den musikalischen »Inhalt« und seinen »Sinn« zurück. Um die Funktions- und Konstruktionsprinzipien musikalischer Teilmomente sowie den Zusammenhalt von Musik zu beschreiben oder – wie Dahlhaus formulierte – um »das Bleibende im Transistorischen der Musik« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 609) zu fassen, entlehnte man als Metaphern immer wieder Begriffe aus Rhetorik und Poetik. Analogien zur sprachlichen Syntax, Figurenlehre bzw. Rhetorik und zur Dramentheorie waren am nachhaltigsten.

      Die Analogiebildungen zwischen sprachlicher und musikalischer Syntax dienten vor allem der Differenzierung der gliedernden musikalischen Mittel und führten 1787 bei Heinrich Christoph Koch zum Begriff der »interpunctischen Form«.125 Zur Abstufung unterschiedlich stark gliedernder Kadenzen oder melodischer Formeln wurde der Vergleich mit den Satzzeichen und Sinneinheiten der geschriebenen Sprache bzw. dem Sprechen gezogen (so auch mit dem Heben oder Senken der Stimme bei Fragen oder Aussagen). Auch verglich schon 1739 Johann Mattheson (und in der Folge einige andere Musiktheoretiker) die Gesamtstruktur eines Musikstückes mit Strukturen und Wirkungsmechanismen der allseits geläufigen Rhetorik.126 Dies führte speziell zum Vergleich musikalischer Abschnitte und Mittel mit dem Aufbau und den Mitteln der antiken Gerichtsrede (Mattheson 1739/1999, S. 349f.). Der seit Nikolaus Harnoncourt wieder genutzte Begriff der »Klang-Rede« (Harnoncourt 1982) versucht dies zu erfassen und steht seit den 1980er Jahren für ein Musikverständnis, das sich einer historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet.127

      Um zu belegen, dass Komponisten und Theoretiker im 18. Jahrhundert »rhetorisch dachten und fühlten (sie hatten in der Regel das Fach ›Rhetorik‹ im Rahmen ihres Latein-Unterrichts)« (Fladt 1998/2000, S. 458), soll ein Zitat aus Matthesons Abhandlung Der Vollkommene Capellmeister von 1739 deutlich machen, wie grundlegend Rhetorik und Dichtkunst bei der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Musik war: Um »bis auf den Mittelpunct« der Musik durchzudringen,

      »müssen wir uns die Mühe geben, die liebe Grammatic sowol, als die schätzbare Rhetoric und werthe Poesie auf gewisse Weise zur Hand zu nehmen: denn ohne von diesen schönen Wissenschafften vor allen die gehörige Kundschaft zu haben, greifft man das Werck, ungeachtet des übrigen Bestrebens, doch nur mit ungewaschenen Händen und fast vergeblich an.« (Mattheson 1739/1999, S. 279)

      Noch deutlicher – wie Dahlhaus bemerkt – zeichnet sich der Zusammenhang von musikalischem Formendenken und rhetorischer Konzeption eines Vortrages oder einer Rede bei Johann Nikolaus Forkel ab, der 1788 in der Einleitung seiner Allgemeinen Geschichte der Musik schreibt:

      »Die Hauptempfindung, der Hauptsatz, das Thema … muss vorzüglich genau bestimmt werden; daher bedient man sich 1) der Zergliederung, um sie auf allen möglichen Seiten zu zeigen; 2) passender Nebensätze, um sie damit zu unterstützen; 3) möglicher Zweifel, das heißt im musikalischen Sinn, solcher Sätze, die der Hauptempfindung zu widersprechen scheinen, um durch die darauf folgende Widerlegung derselben den Hauptsatz desto mehr zu bestimmen; und endlich 4) der Bekräftigung durch Vereinigung, oder nähere Zusammenstellung aller Sätze, die vereint dem Hauptsatze die stärkste Wirkung verschaffen können.« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 612)

      Obwohl


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