Musikdramaturgie im Film. Robert Rabenalt
und damit ihrer Emanzipation von der Vokalmusik diente, wird doch deutlich, wie gemeinsame Wesensmerkmale von sprachlichem Vortrag und musikalischer Gliederung bzw. Verlauf benannt werden können. Die Anordnung und Unverrückbarkeit der Teile, ihre Funktion mit Hinblick auf eine zu erzielende Wirkung zeigen dabei in der Musik eine abstrakte Form von Narrativität und eigene Art der musikalischen Dramaturgie in »autonomer« Musik.
An ausgewählten Metaphern, die für die Theorie der Sonatenform verwendet wurden, kann exemplarisch gezeigt werden, welche Akzente für Pragmatik und Ästhetik der Musik gesetzt und welche narrativen Implikationen in »autonomer« Musik musiktheoretisch schon erörtert wurden. Interessant an diesen Deutungs- und Erklärungsansätzen für musikalische Form ist insbesondere, dass sie unterschiedlich mit dem Phänomen der Wiederholung umgehen.
Wiederholungsstrukturen besitzen zweifellos dramaturgische Relevanz. Dieser Sachverhalt ist auch für die Musikdramaturgie im Film bedeutsam. Musikwissenschaftlich sind Fragen nach der Funktion und Wirkung von Wiederholungen als Teil der Formenlehre thematisiert worden. Wiederholungen aber auch andere in der Zeit sich entfaltende Phänomene wie Rhythmisierung des Ablaufs, Tempoempfinden, Verdichtungsprozesse u. Ä. sind in ihrer Wirkung im Kino durch das Aufeinandertreffen der beiden ästhetischen Systeme Musik und Film geprägt und durch die Kontinuität der Zeitachse als Schnittstelle aufeinander bezogen.
Antonín Reicha hat 1826 den Sonatenhauptsatz mit dem Aufbau eines Dramas verglichen. Reichas Auffassung geht von dem in der Mitte liegenden Teil des Sonatenhauptsatzes, der Durchführung, aus. Er trennt mit einem Schnitt (coupe) am Ende der Exposition den Sonatenhauptsatz in zwei große Teile und spricht vom »zweiteiligen Drama«.128 Diese Mitte markiert das Ende der »Exposition«, welche die zwei »Mutterideen« (idée mère) enthält, und ist zugleich der Beginn der Durchführung. Der Schnitt kündigt den dramaturgischen Kulminationspunkt an, vergleichbar mit dem im Drama ebenfalls ungefähr in der Mitte oder spätestens am Ende des zweiten Drittels liegenden Handlungsumschlag (Peripetie). Die Durchführung wäre demnach beim Vergleich mit der aristotelischen Dramaturgie die Stelle der »äußersten Steigerung« (Aristoteles 2008, S. 25; Kap. 18,1455b25). Eindeutig auf die Terminologie von Lessing und Aristoteles zurückgreifend verwendet Reicha die Begriffe »Intrige« (intrigue, nach Lessing) bzw. »Knoten« (nœud bzw. Verwicklung, nach Aristoteles).129 Die heute als Durchführung (französisch: développement, englisch: development) bezeichnete erste Passage des zweiten Teils enthält demnach die Intrige oder die Schürzung des Knotens. Die heute im Deutschen Reprise, im Englischen recapitulation bezeichnete zweite Passage des zweiten Teils »entknotet« demnach die in der Durchführung aufgebaute Spannung:
»La première partie de cette coupe est l’exposition du morceau; la première section [de la deuxième partie] en est l’intrigue, ou le nœud; la seconde section en est le dénoûement« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)
Eine aus dramaturgischer Sicht notwendige Kritik dieser Dramen-Analogie Reichas setzt an der Übersetzung des aristotelischen Begriffs an: In der neuen Übersetzung der Poetik von Arbogast Schmitt (Schmitt 2008) heißt es »Verwicklung« anstelle von »Knoten«, wie auch schon Carl Czerny in seiner Übersetzung von Antonín Reichas Kompositionslehre schreibt:
»Der erste Theil dieses Rahmens [des Formmodells der großen zweiteiligen Form, R. R.] ist die Exposition des Stückes; Die erste Unterabtheilung des zweiten Theils desselben [mit heutiger Terminologie: Durchführung, R. R.] ist die Verwicklung (die Intrigue) oder der Knoten; Die zweite Unterabtheilung desselben [mit heutiger Terminologie: Reprise, R. R.] ist die Entwicklung oder Entschürzung.«; siehe: (Reicha 1824–26, S. 1162 – 10ter Theil).
Während »Knoten« sehr punktuell wirkt, zeigt das Wort Verwicklung die langwierige, vorbereitende Arbeit. Die »Entknotung« ist die Phase der »fallenden Handlung« (Freytag 1863) und erzeugt Spannung, weil in der Auflösung der Verwicklung die weit reichende bzw. psychologisch tief liegende Begründung der Verwicklung deutlich wird und die Lösung umso befriedigender erscheinen lässt. So entsteht ein Widerspruch innerhalb der Analogie, da im dramaturgischen Sinne die »Entknotung« spannungssteigernd funktioniert. Die Reprise als harmonisch ausgeglichene Wiederkehr der Exposition, in der auch widersprüchliche Identitäten durch die gemeinsame Tonart versöhnt erklingen, widerspricht dem. In der musikalischen Realität wird in der Reprise die durch thematische Verwicklung und harmonische Prozesse aufgebaute Spannung ausgeglichen und durch meist überschaubare Interventionen, die Redundanzen verhindern sollen, auf einem notwendigen Level gehalten. Sie als dénoûement zu bezeichnen, ist im engeren Sinne dramaturgisch gesehen falsch, weil im Drama die Spannung während der »fallenden Handlung« durch »Entknotung« erheblich steigt, dagegen im konventionellen Sonatensatz die Wiederkehr von »eingerichteten« musikalischen Strukturen in der Reprise das Moment des Wiedererkennens darstellt und ein Signal für den Abschluss des Satzes nach dessen Entwicklungsteil (der Durchführung) gibt.
Wie Dahlhaus erläutert, hat sich Carl Czerny der Sicht seines Lehrers Reicha wenig später angeschlossen und interpretierte aus scheinbar gesteigertem Interesse an dessen Theorie die Sonatenform in einem nunmehr offensichtlichen Widerspruch zum musikalischen Sachverhalt der meisten Beispiele, wie Dahlhaus ausführt:
»Die Metapher ›dénoûement‹, die für die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklungen in der Durchführung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erinnerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama presst und vom Anfang der Reprise als einer ›überraschenden Katastrophe‹ spricht.« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)
Das Ereignis »Reprise«, die Wiederkehr von Bekanntem als fundamentales musikalisches Gestaltungsprinzip, wird in der zugespitzten Interpretation Czernys kaum gewürdigt. Dennoch kann die Metapher der Sonatenhauptsatzform als Drama nachvollziehbare Analogien zwischen den musikalischen und den dramatischen Identitäten sowie den Prozessen der Verarbeitung von Material und Konflikten herstellen. Insbesondere die Akzentuierung des Widersprüchlichen, Dynamischen und Prozessualen wäre ein wichtiges Merkmal der Dramen-Analogie für den Sonatenhauptsatz.130 Mit Hinblick auf die Finalkonzeptionen vieler Sinfonien des (späteren) 19. Jahrhunderts ließe sich die Dramentheorie eventuell doch wieder als Analogie aufgreifen. Sie müsste dann aber auf Abfolge und Konzeption aller Sätze und nicht auf den Haupt- oder Kopfsatz bezogen werden. Die in romantischen Sinfonien über die Teilsätze hinweg ausgelegten musikalischen Gedanken, deren Verarbeitung und Aufgehen in einer Schlusswirkung bei gleichzeitiger Spannungssteigerung zum Ende hin passen nicht selten zu den erläuterten Konzepten der Dramentheorie.
Eine andere, bisher noch nicht musikwissenschaftlich untersuchte Analogie aus der Dramentheorie, die produktiv auf die musikalische Komposition angewendet werden kann, ist das »retardierende Moment«.131 Es ist ein musikalischer Abschnitt, der vom Innehalten, vom Anhalten der zuvor in Gang gesetzten Prozesse vor dem letzten, auf Schlusswirkung abzielenden Abschnitt eines Werkes geprägt ist. Das retardierende Moment liefert eine bisher unberücksichtigte Sicht auf Geschehen und Konflikte.
Das retardierende Moment hat die Aufgabe, die Spannung durch eine der Hauptrichtung entgegenwirkende Tendenz zu steigern. Bei einem tragischen Ausgang entsteht überraschend der Eindruck, dass plötzlich doch noch das Unglück verhindert werden könnte. Bei einem angestrebten glücklichen Ende erzeugt das retardierende Moment die Spannung durch Behinderungen der Lösung. Die so entstehende »Fallhöhe« lässt sich auf Musikstücke und deren angestrebte Finalwirkung übertragen. Der Erwartbarkeit thematischer, kadenzieller oder die Proportionen betreffender Redundanz in der Reprise einer Sonate oder den vergleichbaren Vorgängen bei der Abfolge von Variationen und einigen anderen musikalischen Gattungen wird etwas entgegengestellt. Daher kann ein retardierendes Moment auch außerhalb des Musiktheaters als musikdramaturgisches Mittel verstanden werden.
Ein weites Feld für Analogien öffnet sich bei Analysen der motivisch-thematischen Verarbeitung von musikalischem Material. Nicht selten zeigt sich hierbei ein scheinbar logischer Anteil, ähnlich der Kausalität einer sich aus inneren Notwendigkeiten und äußeren Wahrscheinlichkeiten heraus entfaltenden »Handlung«. Adorno bezeichnet solche Beobachtungen in den ersten Sätzen der 3., 5. und 7. Sinfonie von Beethoven als »Pathos des klassizistischen Symphonietypus«, den