Monsieur Vénus. Rachilde

Monsieur Vénus - Rachilde


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      Rachilde

      Monsieur Vénus

      Materialistischer Roman

      Aus dem Französischen übersetzt von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider

      Nachwort von Martine Reid

      Reclam

      Französischer Originaltitel: Monsieur Vénus. Roman matérialiste. In der Erstausgabe von 1884 sind als Autoren angegeben: Rachilde und Francis Talman. Siehe dazu die Editorische Notiz.

      Der Verlag Philipp Reclam jun. dankt der Rechtsnachfolgerin Rachildes, Madame Édith Silve, für ihre Genehmigung, Monsieur Vénus erstmals ins Deutsche zu übersetzen.

      Die Arbeit der Übersetzerinnen am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert. Außerdem danken die Übersetzerinnen Herrn Prof. Dr. Jean de Palacio für wertvolle Hinweise.

       Fast eine Frau sein – ein gutes Mittel, die Frau zu bezwingen.

      Catulle Mendès

      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

      Coverabbildung: Romaine Brooks, Self-Portrait (1923). © bpk / Smithsonian American Art Museum / Art Resource, NY

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961751-0

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011287-8

       www.reclam.de

Monsieur Vénus

      Wir widmen dieses Buch der körperlichen Schönheit.

      R. und F. T.

      Vorwort

      Unseren Lesern zur Warnung: Während sie dieses Buch öffnen, geht die Heldin unserer Geschichte vielleicht gerade an ihrer Tür vorbei.

      Kapitel I

      Mademoiselle de Vénérande tastete in dem schmalen Flur, den ihr der Concierge angegeben hatte, nach einer Tür.

      Die siebte Etage war völlig unbeleuchtet, und die Angst überkam sie, unversehens in eine zwielichtige Absteige zu geraten; da fiel ihr das Zigarettenetui ein, in dem alles für ein wenig Licht vorhanden war. Im Schein eines Zündholzes fand sie die Nummer 10 und entzifferte folgendes Schild:

       Marie Silvert, Kunstblumen, Musterzeichnungen.

      Und da der Schlüssel steckte, trat sie ein, doch auf der Schwelle schnürte ihr ein Bratapfelgeruch die Kehle zu und ließ sie auf der Stelle stehen bleiben. Kein Geruch war ihr so zuwider wie der von Äpfeln, daher musterte sie mit angeekeltem Schaudern das Mansardenzimmer, bevor sie sich bemerkbar machte.

      An einem Tisch, wo auf einem schmierigen Topf eine Lampe qualmte, saß mit dem Rücken zur Tür ein Mann, der in eine sehr knifflige Arbeit vertieft schien. Um seinen Oberkörper schlang sich über einem weitgeschnittenen Kittel in Spiralen eine Rosengirlande, großblütige, fleischfarbene, in satinierten Granattönen changierende Rosen, die sich zwischen seinen Beinen hindurchrankten, seine Schulter umwanden und sich um seinen Kragen wickelten. Zu seiner Rechten stand ein Goldlackgebinde, zu seiner Linken ein Büschel Veilchen.

      In einer Zimmerecke häuften sich auf einer zerwühlten Pritsche papierene Lilien.

      Zwischen zwei löchrigen Korbstühlen lagen ein paar missratene Blumenstängel und verdreckte Teller, mittendrin ragte eine leere Weinflasche auf. Ein kleiner Ofen mit einem Sprung sandte sein Rohr durch das Dachlukenfenster und blickte mit seinem einen rotglühenden Auge begehrlich auf die vor ihm hingebreiteten Äpfel.

      Der Mann spürte den kalten Luftzug, der durch die offene Tür hereindrang, schob den Lampenschirm hoch und drehte sich um.

      »Habe ich mich geirrt, Monsieur?«, fragte die Besucherin unangenehm berührt. »Marie Silvert, bitte?«

      »Da sind Sie schon richtig, Madame, jetzt gerade bin ich Marie Silvert.«

      Raoule konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen: Mit dieser männlich klingenden Stimme wirkte die Antwort etwas sonderbar, die verlegene Haltung des Burschen mit den Rosen in der Hand half dem nicht ab.

      »Sie stellen Kunstblumen her, genau wie eine echte Blumenmacherin?«

      »Gewiss, muss ich ja. Hab ’ne kranke Schwester, schaun Sie, da, in dem Bett, da schläft sie … Armes Mädchen! Wirklich sehr krank. Schlimmes Fieber, ihr zittern die Finger. Bringt nichts Gescheites zustande … Ich, ich versteh was vom Malen, aber ich hab mir gedacht, wenn ich ihre Arbeit übernehme, verdien ich mehr als mit Tiere zeichnen oder Fotos abmalen. Die Aufträge regnen nicht gerade vom Himmel«, sagte er abschließend, »aber ich komm schon über die Runden.«

      Er reckte den Hals, um zu schauen, ob die Kranke schlief. Nichts rührte sich unter den Lilien. Er bot der jungen Frau einen der Korbstühle an. Raoule zog ihren Nerzumhang enger zusammen und setzte sich widerwillig; ihr Lächeln war verschwunden.

      »Madame wünschen?«, fragte der Bursche und ließ die Girlande fallen, um den Kittel zu schließen, der über seiner Brust weit offen stand.

      »Man hat mir«, antwortete Raoule, »die Adresse Ihrer Schwester gegeben und sie mir als echte Künstlerin empfohlen. Ich muss sie unbedingt wegen eines Ballkleids sprechen. Können Sie sie nicht wecken?«

      »Ein Ballkleid? Ach, keine Sorge, Madame, da muss man sie nicht wecken. Ich mach Ihnen das … Schaun wir mal, was brauchen Sie denn? Pikeearbeiten, Litzen, Applikationen?« …

      Die junge Frau fühlte sich nicht gut, am liebsten wäre sie gegangen. Aufs Geratewohl griff sie nach einer Rose und musterte eingehend deren Inneres, das der Blumenmacher mit einem Kristalltropfen benetzt hatte:

      »Sie haben Talent, viel Talent«, sagte sie, während sie zugleich die seidenen Blütenblätter auseinanderbog … Dieser Bratapfelgeruch wurde ihr unerträglich.

      Der Künstler nahm gegenüber seiner neuen Kundin Platz und zog die Lampe vom Rand des Tisches zwischen sie. So sitzend, konnten sie sich von Kopf bis Fuß betrachten. Ihre Blicke kreuzten sich. Wie geblendet blinzelte Raoule hinter ihrem Hutschleier.

      Marie Silverts Bruder war ein Rotschopf – von sehr dunklem Rot, fast rehbraun, leicht gedrungen um die hervortretende Hüftpartie, gerade Beine mit schlanken Fesseln.

      Sein Haar wurzelte tief in der Stirn, ohne Wellen oder Locken, vielmehr drahtig, dicht, und man ahnte, dass es sich jedem Kamm widersetzte. Die Augen unter den schwarzen, scharf geschnittenen Brauen waren ungewöhnlich dunkel, gleichwohl dümmlich.

      Dieser Mann hatte den flehenden, leicht feuchten Blick eines geprügelten Hundes. Solche Tiertränen treffen immer schrecklich ins Herz. Sein Mund besaß die festen Konturen gesunder Münder, die der Rauch, der sie mit seinem männlichen Duft sättigt, noch nicht hat welken lassen. Bisweilen blitzten hinter den überroten Lippen ungemein weiße Zähne auf, und man fragte sich, warum diese Milchtropfen nicht zwischen den beiden Glutscheiten verdampften. Das Kinn mit seinem Grübchen und dem ebenmäßigen, kindhaften Fleisch war hinreißend. Der Nacken hatte ein Fältchen wie bei einem Neugeborenen, das Speck ansetzt. Einzig die recht große Hand, die dunkle Stimme und das widerspenstige Haar ließen bei ihm auf sein Geschlecht schließen.

      Raoule vergaß ihre Bestellung; eine merkwürdige Benommenheit befiel sie und nahm ihr sogar die Worte.

      Indessen fühlte sie sich besser, die warmen Dämpfe, die den Äpfeln entstiegen, störten sie kaum noch, und von den Blüten, die verstreut auf den verdreckten Tellern lagen, schien sogar eine gewisse Poesie auszugehen.

      Mit bewegter Stimme setzte sie von Neuem an:

      »Folgendes, Monsieur; es geht um einen Kostümball,


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