Monsieur Vénus. Rachilde
bot ihre Erinnerung nichts, was ihr Bewusstsein hätte wachrütteln können. Die Frau, die in ihr bebte, sah in Silvert lediglich ein schönes Lustinstrument, nach dem sie gierte und das sie, heimlich schon, in ihrer Vorstellung umschlang. Die Augen leicht geschlossen, den Mund halb geöffnet, den Kopf hingesunken auf die Schulter, die sich ab und an mit einem langen Seufzer der Erleichterung hob, wirkte sie wie ein von glühenden Liebkosungen köstlich ermattetes Geschöpf.
Weder schön noch im wahrsten Sinn des Wortes hübsch zu nennen war Raoule, groß, gut gebaut, mit biegsamem Hals. Sie besaß die zarte Gestalt eines echten Mädchens von Geblüt, schmale Handgelenke, den etwas hochmütig wogenden Gang, der unter der weiblichen Hülle das Katzenhafte erkennen ließ. Auf den ersten Blick hatte ihr harter Gesichtsausdruck nichts Einnehmendes. Die wunderbar geschwungenen Augenbrauen besaßen die ausgeprägte Neigung, sich in einer gebieterischen Falte beharrlicher Willenskraft zusammenzuziehen. Die schmalen, in den Mundwinkeln verschwimmenden Lippen brachten in unangenehmer Weise die reinen Konturen des Mundes zum Verschwinden. Ihr braunes, im Nacken zusammengerafftes Haar rahmte das perfekte Oval eines Gesichtes, das wie von jenem im Licht verblassenden italienischen Bister gefärbt war. Ihre tiefschwarzen Augen, die unter langen, gebogenen Wimpern metallisch glänzten, glichen Glutkohlen, wenn die Leidenschaft sie entzündete, in manchen Momenten wirkten sie wie zwei feurige Nadelstiche.
Raoule fuhr zusammen, unvermittelt aus der Verderbtheit glühender Gedanken gerissen; der Wagen kam im Hof des Hôtel de Vénérande zum Stehen.
»Du kommst spät, mein Kind«, sagte eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Dame, die ihr die Freitreppe hinunter entgegenging.
»Finden Sie, liebe Tante? Wieviel Uhr ist es denn?«
»Na, bald schon acht. Du bist nicht umgekleidet, du hast sicher nicht zu Abend gegessen. Dabei holt Monsieur de Raittolbe dich doch ab, um dich heute Abend in die Oper auszuführen.«
»Ich gehe nicht, ich habe es mir anders überlegt.«
»Bist du krank?«
»Mein Gott, nein. Nur aufgewühlt. Ich habe gesehen, wie in der Rue de Rivoli ein Kind von einem Omnibus überfahren wurde. Zu Abend zu essen wäre mir jetzt wirklich nicht möglich … Warum müssen denn auf den Straßen dauernd diese Busunfälle passieren?«
Madame Ermengarde bekreuzigte sich.
»Ach, Tante, das habe ich ganz vergessen …! Kommen Sie mit. Geben Sie Anweisung, niemanden hereinzulassen, ich muss etwas mit Ihnen besprechen, das Ihnen besser gefallen wird: ein gutes Werk. Ich habe ein gutes Werk bei der Hand.«
Sie durchquerten gemeinsam die ausgedehnten Gemächer des Gebäudes.
Es gab Salons, die so düster wirkten, dass man sie nicht ohne eine gewisse Beklemmung betrat. Das alte Bauwerk besaß zwei zurückgesetzte Flügel, die von runden, dem Schloss von Versailles ähnelnden Treppen flankiert wurden. Die vielfach unterteilten Sprossenfenster reichten sämtlich bis aufs Parkett herab und ließen hinter leichten Musselinvorhängen und Gipürespitzen riesengroße schmiedeeiserne, mit eigentümlichen Arabesken verzierte Balkone sehen. Vor diesen Balkonen erstreckte sich, unterbrochen vom Gitter der Auffahrt, ein Mosaik aus überwiegend Pariser Pflanzen, diesen winterharten Gewächsen in neutralen Grüntönen, die so gleichmäßige Bordüren bildeten, dass selbst das geschulteste Auge sich nicht an einem einzigen hervortretenden Grashälmchen hätte stoßen können. Die grauen Mauern standen, wie es schien, gelangweilt nebeneinander, und doch hätte ein Zauberer, wollte er eine Betschwester verstören, den verwirrten Anwohnern der vornehmen Avenue mehr als eine Überraschung bereitet, hätte er sie hinter diese wappengeschmückten Fassaden blicken lassen. So hätten etwa das Schlafzimmer der Nichte im rechten und das der Tante im linken Flügel, wären sie plötzlich frei einsehbar, jeden Liebhaber bildlicher Gegensätze in Entzücken versetzt.
Raoules Schlafzimmer war mit rotem Damast ausgekleidet und rundum getäfelt mit von Seidenkordeln umfasstem Antillenholz. Eine Sammlung von Waffen jeglicher Art und aller möglichen Länder, die ihrer ausgesuchten Abmessungen wegen auch für eine Frauenhand geeignet waren, nahm das Zentrum der Täfelung ein. Die Decke mit gerundeten Simsen war mit alten Rokokomotiven auf blaugrünem Hintergrund bemalt.
In der Mitte hing ein Karlsruher Kristalllüster, eine Liliengirandole aus lanzettenförmigen Blättern, die in den Farben der Natur schillerten. Unter dem Lüster standen auf dem großen Nerzteppich eine Athénienne1 sowie ein ausladendes Bett aus geschnitztem Ebenholz voller Kissen, deren Kern und Federn mit einem orientalischen Parfüm getränkt waren, das duftend den gesamten Raum erfüllte.
Ein paar Bilder mit recht freizügigen Motiven hingen zwischen Spiegeln über der Flockseide an den Wänden. Gegenüber dem vollständig mit Papieren und geöffneten Briefen bedeckten Schreibtisch stand die Aktstudie eines Mannes, auf dessen Hüften nicht der geringste Schatten zu bemerken war. Eine Staffelei in einer Ecke und ein Klavier in der Nähe des Tisches vervollständigten diese weltliche Einrichtung.
Das Zimmer von Madame Ermengarde, Stiftsdame mehrerer Orden, war ganz in einem trübselig anzuschauenden Stahlgrau gehalten.
Das gut gebohnerte Parkett ohne Teppich ließ einem die Füße erstarren, und der ausgezehrte Christus, der an einem Kopfende ohne Kissen hing, blickte zu einer Zimmerdecke, deren Bemalung an die Nebel des Nordhimmels erinnerte.
Seit etwa zwanzig Jahren wohnte die Stiftsdame Ermengarde mit ihrer Nichte, die schon mit fünf Jahren Waise geworden war, im Hôtel de Vénérande. Jean de Vénérande, letzter Nachfahre seines Geschlechts, hatte, als er aus dieser Welt schied, den Wunsch geäußert, seine Schwester, deren Qualitäten ihm stets tiefe Hochachtung eingeflößt hatten, möge dieses aus dem Tod geborene Kind, das er nun zurückließ, erziehen. Ermengarde war damals eine vierzigjährige, tugendhafte und frömmlerische Jungfer, die durchs Leben schritt wie durch einen klösterlichen Kreuzgang, in ständiger Andacht versunken, während sie mit der Spitze ihres Zeigefingers das Kreuzzeichen beschrieb, das es erlaubt, die Schatzkammer der Gnadenakte voll auszuschöpfen, sich dabei aber, was bei einer Betschwester selten ist, kaum je um das Seelenheil ihrer Nachbarn kümmerte. Ihre Geschichte war einfach. Sie erzählte sie bei feierlichen Anlässen in jenem salbungsvollen Stil, den ein tief verwurzelter Mystizismus duldsamen Naturen verleiht. Sie hatte eine keusche Leidenschaft gehabt, eine gottgefällige Leidenschaft; sie hatte in aller Treuherzigkeit einen armen Schwindsüchtigen geliebt, den Grafen von Moréas2, einen Mann, der jeden Morgen dem Tode nahe schien. Vielleicht hatte sie eine Vorahnung ehelichen Glücks und mütterlicher Freuden besessen, doch eine unauslöschliche Katastrophe hatte all das im letzten Moment zerstört: Der Graf von Moréas war, versehen mit den kirchlichen Sakramenten, heimgegangen zu seinen Vorfahren. In der Verzweiflung ihres Schmerzes zerpflückte die Verlobte nicht die Hochzeitsrosen, zerriss nicht den weißen Schleier; am Fuße des Erlöserkreuzes fand sie einen unsterblichen Gatten. Ihr sanfter Glaube verlangte nichts weiter! … Die Klostertüren wollten sich gerade für sie öffnen, als der Tod Jean de Vénérande ereilte. Stiftsdame Ermengarde brachte ihr Herz zum Schweigen und widmete sich fortan der Vormundschaft Raoules.
In dieser Phase hätte ein vorausschauender Erzieher in dem Kind bereits den lebendigen Keim sämtlicher Leidenschaften angelegt gesehen. Ebenso furchtlos wie eigensinnig, fügte sie sich niemals ohne kaltblütige Einwände, was die züchtende Rute wie von selbst auf sie niedergehen ließ. Mit erschreckendem Starrsinn verfolgte sie die Erfüllung einer Laune und bezauberte die Lehrerinnen mit hellsichtigen Erklärungen ihrer Tollheiten. Ihr Vater war einer jener ermatteten Wüstlinge gewesen, die von den Werken des Marquis de Sade rot werden, allerdings nicht aus Scham.
Ihre Mutter, eine temperamentvolle Provinzlerin mit überaus robuster Konstitution, hatte ganz natürliche und feurige Gelüste besessen. Sie war bald nach Raoules Geburt an einem Blutsturz gestorben. Vielleicht war ihr Mann ihr auch als Opfer eines selbst herbeigeführten Unfalls ins Grab gefolgt, denn einer seiner langjährigen Diener erzählte, sein Herr habe sich im Sterben des vorzeitigen Endes seiner Frau beschuldigt.
Der Stiftsdame Ermengarde war das weltliche Leben der Menschen fremd, und so bemühte sie sich, bei Raoule besonders die mystischen Neigungen zu fördern; sie ließ sie ihre Einwände vorbringen, erzählte ihr häufig in äußerst gewählten Begriffen von ihrer Verachtung für