Monsieur Vénus. Rachilde

Monsieur Vénus - Rachilde


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und einer Metze. Sein Stolz wusste nur zu weinen.

      Mademoiselle de Vénérande hob seinen Kopf empor; sie sah die heißen Tränen rollen und fühlte eine nach der anderen in ihr Herz dringen, jenes Herz, das sie hatte verleugnen wollen. Das Zimmer erschien ihr plötzlich wie von Morgenröte erfüllt, sie glaubte ein erlesenes Parfum zu riechen, das plötzlich die verzauberte Atmosphäre erfüllte. Ihr ganzes Wesen weitete sich ins Unendliche, umschloss sämtliche irdischen Empfindungen und alles himmlische Streben zugleich, und Raoule rief, bezwungen und stolz:

      »Steh auf, Jacques, steh auf! Ich liebe dich!«

      Sie zerrte ihn von ihrem Kleid, lief zur Tür des Ateliers und wiederholte immerfort: »Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!«

      Dann drehte sie sich um:

      »Jacques, du bist der Herr hier … Ich gehe! Auf immer Adieu. Du wirst mich nie wiedersehen! Deine Tränen haben mich geläutert, und meine Liebe ist deiner Vergebung wert.«

      Sie floh, im Wahn eines heillosen Freudentaumels, wollüstiger noch als die Lust des Fleisches, schmerzvoller noch als das ungestillte Verlangen, doch vollkommener noch als höchste Verzückung; jenem Freudentaumel, den man die Ergriffenheit von einer ersten Liebe nennt.

      »Na also«, sagte Marie Silvert ganz ruhig, nachdem Raoule fort war, »der Fisch hat scheint’s angebissen … Alles wird laufen wie am Schnürchen, Sakrament noch mal!«

      Kapitel IV

      Marie hatte den Brief in der Tasche, sie war nun völlig überzeugt, dass diese Wahnsinnige keinen Widerstand leisten würde, dass sie sich ihnen gegenüber noch einsichtiger, noch beschützender, letztlich noch betuchter, wie sie es in ihrer Vorstadtsprache ausdrückte, verhalten würde, und dann würden neue Herrlichkeiten auf sie niederprasseln. Himmeldonnerwetter! Die Millionen würden sich um den Kleinen legen wie Aspik ums Schmorfleisch; er würde tagtäglich seinen Feststaat tragen; und sie, sie würde in Moirékleidern durch ihre widerlichen Küchen schlurfen. Er würde ein Herr sein, sie eine Dame!

      Der Brief bestand aus wenigen Sätzen, erklärte aber eine Reihe von Dingen sehr deutlich:

      »Komm«, hatte das Mädchen mit Rechtschreibfehlern und blauer Tinte geschrieben. »Komm, du liebe Frau deines kleinen Jacques … Ich vergehe ohne dich … die dreihundert Franc sind weg, und ich war gezwungen, Marie einen Topf mit einer Schlange drauf verkaufen zu lassen. Es ist traurig, wenn man so schnell verlassen wird, wenn man vom Himmel gekostet hat … Du verstehst mich doch, oder? Ich glaube, ich werde krank. Und meine Schwester, die hustet immer noch.

      Dein Geliebter bis zum Gehtnichtmehr,

      JACQUES.«

      Und nachdem sie dieses Meisterwerk vollendet hatte, war Marie trotz der verstörten Miene ihres Bruders zur Avenue des Champs-Élysées aufgebrochen. Dieser Dummkopf würde es niemals fertigbringen, seine Rolle ernst zu nehmen. Da war es doch ein Glück, dass sie ihm ihre Erfahrung mit dem menschlichen Körper zur Verfügung stellte, und sie wusste, wie man, wenn es darauf ankam, einen Liebhaber oder eine Liebhaberin unter der linken Brust ankitzelt.

      An jenem Tag fiel ein langsamer und durch alle Kleider gehender Märzregen; auf sämtlichen Wegen der Avenue sank man ein. Marie hatte sich einen Wagen sparen wollen, und so dauerte es nicht lange, bis sie von den Stiefelchen bis zum Hut vollgespritzt war.

      Als sie vor dem Palais, diesem großen und düster wirkenden Gebäude, ankam, fragte sie sich, ob man sie nicht gleich hinauswerfen würde, sobald sie im Entrée stand. Oben auf der Freitreppe begegnete sie einem dicken Wächter und einem kleinen Hund. Ersterer nahm den Brief entgegen, Letzterer knurrte.

      »Wünschen Sie Mademoiselle oder Madame zu sprechen?«

      »Mademoiselle.«

      »He! Pierrot, da ist eine Privatperson, die möchte die Treppe gern auf ihre Art wischen«, rief der Concierge einem winzigen Pagen zu, der durch das Entrée lief.

      Das war in der Tat recht komisch; doch der im besonderen Dienst von Mademoiselle stehende Page verzog das Gesicht wie ein gestandener Mann, der alles für möglich hält, selbst bei Regenwetter.

      »Schon gut: Ich schaue mal. Warten Sie hier.«

      Er deutete auf eine kleine Bank. Marie setzte sich nicht, sondern sagte grob:

      »Ich hänge doch nicht im Vorzimmer rum. Halten Sie mich für eine ehemalige Concierge, Sie Affe?«

      Verblüfft machte der Page auf dem Absatz kehrt und murmelte, ganz wie ein gut geschulter Domestik:

      »Jemand mit Einfluss! – Kleidung verliert in der Republik aber auch immer mehr an Bedeutung.«

      Mademoiselle befand sich in einem an ihr Schlafzimmer angrenzenden Boudoir. Wenn Madame Ermengarde ausging, empfing Raoule alle, die kamen, ob männlich oder weiblich. Das Boudoir ging auf einen Wintergarten hinaus, den sie zu ihrem Arbeitszimmer gemacht hatte. Als der Page hereinkam, ging ein Mann gerade hastig auf und ab, während Mademoiselle de Vénérande auf einer kreolischen Causeuse lag und unter schallendem Gelächter hin und her wippte.

      »Sie stoßen mich in die Hölle, Raoule«, wiederholte der Mann, der noch jung war, mit dunklen, slawisch anmutenden Zügen, die aber eine ganz pariserische Lebhaftigkeit aufhellte. »Ja! in die Hölle, wenn Sie zugeben, dass ich doch schon den Himmel verdient hätte … Lachen ist keine Antwort … Ich versichere Ihnen, dass eine Frau ohne Liebe nicht wirklich lebt, und Sie wissen, dass ich unter Liebe die Vereinigung zweier Seelen in der Vereinigung zweier Lebewesen verstehe. Ich bin ganz offen. Ich wickle sinnreiche Aussagen nie in hübsche Geistlosigkeiten ein, so wie man bittere Medizin in Konfitüre packt … Ich sage das alles ganz unverblümt, nach Husarenart, und wenn ich den Graben sehe, halte ich mich nicht damit auf, Margeriten zu zerzupfen. Hopp! Ich gebe die Sporen und stürme auf Sie los, Raoule de Vénérande, mein lieber Freund! Heiraten Sie nicht, aber nehmen Sie sich einen Liebhaber: Das tut Ihrer Gesundheit gut.«

      »Bravo! Monsieur de Raittolbe! Ich gehe jede Wette ein, dass meine Gesundheit erst dann wirklich aufblühen wird, wenn dieser Liebhaber ein Husarenoffizier ist, einer mit braunem Teint, der offen spricht, unverfroren dreinschaut und herumkommandiert, stimmt’s?«

      »Nun ja, zugegeben, ich gehe sogar noch weiter … ich schlage besagten Husaren als Ehemann vor … Wählen Sie selbst! Nach Dienstalter oder besonderen Verdiensten! Wir machen Ihnen zu fünft seit drei Jahren wie wild den Hof. Der musikverzückte Fürst Otto ist wahnsinnig geworden und hat, wie man sagt, Euer lebensgroßes Porträt in einer Leichenhalle aufgebahrt, wo um ein Ruhebett gelbe Wachskerzen brennen … und dort schmachtet er vom Morgenrot bis zur Abenddämmerung. Flavien, der Journalist, rauft sich mit zitternder Hand das Haar, sobald man Ihren Namen erwähnt. Hector de Servage ist, nachdem Eure Tante ihm in aller Form den Abschied gegeben hat, nach Norwegen gegangen, um sich Abkühlung zu verschaffen. Euer Fechtmeister hätte sich beinahe einen seiner besten Degen in die Rippen gestoßen. Und da Euer ergebener Diener somit allein übrig bleibt … mit der Ehre, Ihnen bei Ausritten in den Bois de Boulogne die Steigbügel zu halten, denke ich, dass Sie ihn mit einem milderen Auge betrachten, und er reicht seine Kandidatur ein. Möchten Sie, Raoule, dass wir unserer Freundschaft im ehelichen Bett eine Heimstatt geben? Sie hätte es dort wärmer …«

      Raoule hatte sich gerade erhoben und wollte auf de Raittolbe zugehen, als der Page eintrat.

      »Mademoiselle, hier ist ein eiliger Brief.«

      Sie wandte sich um.

      »Gib her.«

      »Gestatten Sie?«, fügte sie an den Husaren gerichtet hinzu, der eine japanische Pflanze in kleine Stücke zerpflückte, um seinen Zorn zu mäßigen. Wütend kehrte er ihr ohne zu antworten den Rücken. Zum tausendsten Mal brach diese Unterhaltung just an der interessantesten Stelle ab.

      Monsieur de Raittolbe, der nicht gerade zu den Geduldigsten gehörte, zündete hinterlistig eine Zigarre an und räucherte eine ganze Azaleenrabatte ein, wobei er sich schwor, nie wieder diese Hysterikerin aufzusuchen, denn seiner Meinung nach musste man hysterisch sein, sobald man nicht dem


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