Monsieur Vénus. Rachilde

Monsieur Vénus - Rachilde


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mochte direkt am Ohr ihrer Nichte schlagen, Tante Ermengarde, die Stiftsdame, wollte sich nicht vorstellen, dass zwischen ihrem Gutenacht- und ihrem Morgenkuss Platz blieb für das heimliche Brennen, das eine Jungfrau niemals eingesteht.

      Eines Tages, als Raoule durch die Mansardenzimmer des Hauses streifte, entdeckte sie ein Buch; sie las aufs Geratewohl darin. Beim Anblick einer Radierung schlug sie die Augen nieder, doch sie nahm das Buch an sich … Ungefähr zu dieser Zeit vollzog sich in dem jungen Mädchen ein Wandel. Ihre Züge veränderten sich, sie war kurz angebunden, warf fiebrige Blicke um sich, weinte und lachte zugleich. Stiftsdame Ermengarde war beunruhigt, befürchtete eine ernste Krankheit und rief die Ärzte herbei. Ihre Nichte weigerte sich, sie zu empfangen. Einer jedoch, von sehr eleganter Erscheinung, geistreich und jung, war geschickt genug, sich bei der kapriziösen Kranken Zutritt zu verschaffen. Sie bat ihn wiederzukommen, allerdings trat keine Besserung ihres Zustandes ein.

      Ermengarde wandte sich an die Weisheit ihrer Beichtväter. Man empfahl ihr das einzig wahre Mittel:

      »Verheiratet Sie«, war die Antwort.

      Raoule bekam einen Wutanfall, als ihre Tante das Thema Heirat zur Sprache brachte.

      Am Abend jenes Tages, beim Tee, sagte der junge Arzt, der in einer Fensternische mit einem alten Freund des Hauses plauderte, auf Raoule deutend:

      »Ein besonderer Fall, mein Herr. Noch ein paar Jahre, und dieses hübsche Geschöpf, das Sie meiner Meinung nach zu sehr mögen, wird, ohne sie je zu lieben, ebenso viele Männer kennengelernt haben, wie der Rosenkranz ihrer Tante Perlen für das Pater und das Ave enthält. Nonne oder Monster, nichts dazwischen! Der Schoß Gottes oder jener der Wollust! Es wäre vielleicht besser, sie in einem Kloster wegzuschließen, so wie wir es mit den Hysterikerinnen in der Salpêtrière3 tun! Sie kennt das Laster nicht, aber sie erfindet es!«

      Das hatte sich zehn Jahre vor dem Beginn dieser Geschichte zugetragen … und Raoule war keine Nonne …

      In der Woche nach ihrem Besuch bei Silvert ging Mademoiselle de Vénérande häufig aus, mit keinem anderen Ziel, als einen auf dem Rückweg von der Rue de la Lune ausgeheckten Plan zu verwirklichen. Sie hatte sich ihrer Tante anvertraut, und diese hatte, nach einigen schüchternen Einwänden, wie immer den Himmel um Rat gefragt. Raoule hatte ihr detailliert die Not des Künstlers beschrieben. Wer empfinde nicht Mitleid beim Anblick von Jacques’ Absteige! Wie könne er dort nur arbeiten, mit seiner fast siechen Schwester? Also hatte Ermengarde versprochen, die beiden der Gemeinschaft von St. Vinzenz von Paul anzuempfehlen und ebenso ausgewiesene wie hilfswillige Wohltätigkeitsdamen vorbeizuschicken.

      »Öffnen wir unseren Geldbeutel, liebe Tante«, hatte Raoule ausgerufen, von ihrer eigenen Kühnheit erhitzt. »Geben wir ein königliches Almosen, doch geben wir es in Würde! Versetzen wir diesen Maler, der Talent hat (hier umflog Raoule ein Lächeln), in ein wahrhaftes Künstlermilieu. Möge er sein Brot verdienen können ohne die Scham, dafür auf uns angewiesen zu sein. Sichern wir ihm schon jetzt die Zukunft. Wer weiß, ob er es uns nicht später hundertfach vergelten wird!«

      Raoule sprach voller Wärme.

      »Meine Nichte«, sagte Tante Ermengarde bei sich, »muss wohl recht schöne Anlagen bei diesen Unglücklichen entdeckt haben, dass sie sich zu einer derartigen Lebhaftigkeit herbeilässt … sie, die sonst so kühl ist. Vielleicht liegt hierin das Mittel, sie auf den Weg der Frömmigkeit zu bringen! …«

      Denn Tante Ermengarde wusste durchaus, dass es ihrem Neffen, wie sie Raoule häufig nannte, wenn diese ihre Fecht- oder Malstunden nahm, so völlig an dem Glauben fehlte, der zu heiligen Bestimmungen führt. Nur hatte die Stiftsdame ihrerseits eine zu weltläufige, zu aristokratische Gesinnung, sie besaß zu viel Adelsstolz, um auch nur eine Sekunde an der körperlichen und moralischen Lauterkeit ihrer Nachkommin zu zweifeln. Eine Vénérande konnte nur Jungfrau sein. Man berichtete von Abkömmlingen der Vénérandes, die diese Eigenschaft mehrere Honigmonde hindurch bewahrt hatten. Diese Art von Adel, wiewohl nicht erblich in der Familie, nahm daher die junge Frau vollständig in die Pflicht.

      »Ab morgen«, hatte Raoule abschließend gesagt, »durchkämme ich Paris, um ein Atelier zu besorgen. Wir lassen die Möbel nachts aufstellen; es muss nicht sein, dass man über uns redet, die geringste Zurschaustellung wäre ein Verbrechen, und Dienstag, wenn er mir meine Balltoilette bringt, ist alles fertig … Ach! Für solche Gelegenheiten, meine Tante, ist unser Vermögen doch eine Hilfe …«

      »Ich überlasse dir, mein Liebes, den himmlischen Ertrag deiner Barmherzigkeit!«, erklärte Tante Ermengarde. »Spare an nichts: So viel du auf Erden säst, so viel wirst du dort oben ernten.«

      »Amen!«, gab Raoule zurück – und hochmütig warf sie der entzückten Stiftsdame den Blick eines bösen Engels zu.

      Acht Tage später hatte Mademoiselle de Vénérande, die Schöne, die in ihrem Kostüm einer Wassernymphe von außerordentlich origineller Schönheit war, auf dem Ball der Herzogin von Armonville einen sensationellen Auftritt. Der Journalist Flavien X…, der gerade sehr in Mode war, ließ über das merkwürdige Kostüm diskret ein paar Worte fallen, und Raoule, die sonst keine engen Freundinnen hatte, wurde an besagtem Abend gleich mehrerer gewahr, die sie anflehten, ihnen die Anschrift ihrer geschickten Blumenmacherin zu verraten.

      Raoule verweigerte es.

      Kapitel III

      Im Atelier ließ Jacques Silvert sich völlig entgeistert auf einen Diwan fallen. Er sah aus wie ein kleines Kind, das von einem großen Gewitter überrascht worden ist. Man gab ihm also ein Zuhause, inmitten dieser Pinsel, Farben, Teppiche, Vorhänge, Möbel, dem Samt, den Vergoldungen und all der Spitze … Mit herabhängenden Armen schaute er sich all diese Dinge an und fragte sich dabei, ob all diese Dinge sich nicht in Luft auflösen und nur dunkelste Nacht hinterlassen würden. Seine Schwester hingegen, die es noch gar nicht zu glauben wagte, hatte sich auf dem Koffer mit der armseligen Kleidung der beiden niedergelassen. Sie krümmte ihren schmalen Rücken und wiederholte mit gefalteten Händen, von größter Ehrfurcht ergriffen, immerfort:

      »Welch edles Geschöpf! Welch edles Geschöpf!« Dabei fehlte nicht ihr ewiger Husten, der dem Quietschen einer schlecht geölten Kutschenachse glich, ein Theaterhusten mit tiefen Brustnoten beim Finale jeden Anfalls.

      »Ein bisschen aufräumen sollten wir aber schon«, fügte sie hinzu und stand entschlossen auf.

      Sie öffnete den Koffer, holte das Bild mit den Schäfchen unter blauem Himmel hervor und ging es in einer Zimmerecke aufhängen. Jacques, plötzlich von einer unerfindlichen Rührung ergriffen, ging zu dem Bild und küsste es weinend.

      »Siehst du, Schwester, mir war immer so, als würde mein Talent uns noch Glück bringen. Und du hast zu mir gesagt, es sei besser, den Mädchen nachzulaufen, als mit Kohle die Wände zu beschmieren.«

      Marie lachte auf und stauchte ihr kurzes Rückgrat in ihre Schultern.

      »Na komm! Als wenn deine Visage nicht genauso viel zählte wie die deiner blöden Schafe!«

      Er musste unwillkürlich lachen; seine Tränen trockneten, und er murmelte:

      »Du bist verrückt! Mademoiselle de Vénérande ist eine Künstlerin, das ist alles! Sie hat Mitleid mit den Künstlern; sie ist gut und gerecht … Ach! Die bedauernswerten Arbeiter würden nicht immerfort Revolutionen anzetteln, würden sie die Frauen von da oben besser kennen!«

      Marie entfuhr ein bissiges Lachen. Sie blieb bei ihrer Meinung. Wenn sie an diese Frau von da oben dachte, stiegen ihr all die Szenen des Lasters, die sie erlebt hatte, in giftigen Dämpfen wieder in den Kopf, und die ganze Welt kam ihr dann so flach vor wie einst ihr Prostituiertenbett, nachdem der letzte Liebhaber fort war.

      Jacques sinnierte mit etwas schleppender Stimme, die Gehör erheischt, vor sich hin, lief im Zimmer umher und verteilte die Waffen aus der Sammlung, die man bisher noch nicht hatte anbringen können. Alle Sessel schob er an die Wand, er hatte nie genügend Platz, um seinen Stolz als neuer Eigentümer spazieren zu führen.

      Die Staffeleien aus Antillenholz platzierte


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