Monsieur Vénus. Rachilde
bin, fahren Sie durch das linke Tor und warten dort bis zum Abend auf mich! …«
Raoules Stimme klang jetzt keuchend. Sie stieg aus, gab einer parkenden Droschke ein Zeichen und stürzte hinein.
»Notre-Dame-des-Champs, Boulevard Montparnasse!« sagte sie, während der andere Wagen gemäß ihren Anweisungen leer auf das linke Tor zufuhr.
Den ganzen Weg über hatte sie nicht daran gedacht, doch als sie erst einmal in der Nähe des Opfers war, begehrte ihr Körper, der nicht mehr sich selbst gehörte, auf. Raoule hatte ihm ohne Widerrede nachgegeben.
Das Atelier am Boulevard Montparnasse erschien ihr finster, als sie dort ankam, doch ganz hinten öffnete sich blau wie ein Stück Himmel das Schlafzimmer. Marie Silvert zog sich zurück, sobald Raoule über die Schwelle getreten war.
»Da schau her, wir regeln unsere kleinen Geschäfte nach dem Mittagessen. Das wird brenzlig für dich, das garantiere ich dir, liederliches Frauenzimmer!«
Mademoiselle de Vénérande band die schweren Vorhänge los, um für sich zu sein.
»Jacques! …«, rief sie barsch.
Er wollte dieses Übermaß an Schande nicht wahrhaben und vergrub das Gesicht in seine Kissenrolle.
»Ich habe den Brief nicht geschrieben!«, schrie er, »ich versichere es Ihnen, das hätte ich nicht gewagt. Im Übrigen möchte ich fort, ich bin krank. Man macht mich krank, um mich in diesem Bett festzuhalten … Marie ist zu allem fähig, ich kenne sie! Und Sie! … Sie kann ich nicht ertragen! …«
Seine Energie war verpufft, er glitt tief in seine Decken zurück, rollte sich ein wie ein geprügeltes Tier.
»Tatsächlich?«, fragte Raoule, die ein köstlicher Schauer durchlief.
»Ja, tatsächlich!« Er brachte seinen Strubbelkopf wieder zum Vorschein, und sein bewundernswürdiger Blondschopf-Teint färbte sich leicht rosa.
»Und weshalb hast du dann erlaubt, dass dieser Brief abgeschickt wurde?«
»Ich wusste von nichts! Marie versicherte mir, ich hätte Fieber, ihr Fieber. Sie hat mir etwas eingeflößt, und ich war jede Nacht im Fieberwahn; sie sagte, es sei Chinin; ich hätte sie gern abgehalten, aber mir fehlte die Kraft! Ach! Behalten Sie Ihr unglückseliges Atelier doch für sich! Herrgott noch mal!«
Atemlos versuchte er sich aufzurichten, was bewirkte, dass Raoule etwas Seltsames entdeckte: er hatte ein Frauenhemd an, eine mit einer Blumengirlande bestickte Bluse.
»Ist das auch ihr Werk, dich so herzurichten?«, fragte Raoule und berührte die Girlande an seinem Hals.
»Glauben Sie denn, ich besäße Wäsche? Meine Lumpen sind längst weggeworfen. Mir war kalt, sie hat mir das übergezogen … Was weiß ich denn, ob das ein Frauenhemd ist! …«
»Ja, Jacques, es ist eines!«
Sie blickten sich einen Moment lang in die Augen, überlegten, ob sie darüber lachen sollten.
Marie rief von hinten aus dem Atelier:
»Ich lege zwei Gedecke auf, ja?«
Raoule de Vénérande pflichtete allem bei, um ihre Ruhe in der Schändlichkeit zu haben, die sie allmählich berauschte, und verriegelte die Tür, während Jacques herzlich zu lachen begann. Dann ging sie zögerlich zum Bett zurück. Er hatte ein so zartes und dummes Kinderlachen, einfach entzückend, ein so anmutiges, aufreizendes Lachen, das wüste Schauder in einem auslöste. Sie versuchte gar nicht erst, sich die Kraft zu erklären, die aus dieser Dummheit erwuchs, sie ließ sich davon umfangen wie ein Ertrinkender von der Welle nach seinem letzten Kampf, bevor er sich für immer der Strömung hingibt. Sie schob die blaue Bettwäsche ein wenig beiseite, um das Haupt des jungen Mannes ins Licht zu setzen.
»Bist du krank?«, fragte sie mechanisch.
»Jetzt nicht mehr, da ich Sie sehe! …«, antwortete er siegesgewiss.
»Möchtest du mir einen Gefallen tun, Jacques?«
»Alles, was Ihnen gefällt, Mademoiselle!«
»Nun denn! Sei still. Ich komme nicht her, um dich zu hören.«
Er schwieg ziemlich beleidigt und sagte sich, dass seine Schmeichelei wohl nicht neu für diese Anmaßende gewesen war. Frauen von Welt sind im Privatleben anstrengend, und er, der noch am Anfang stand, tastete viel zu sehr herum, das war ihm bewusst.
»Dann schlafe ich!«, erklärte er plötzlich und zog die Bettdecke bis zur Nase hoch.
»So ist es recht! schlaf«, murmelte Mademoiselle de Vénérande. Auf Zehenspitzen ging sie die Stores zuziehen, dann entzündete sie ein Nachtlicht, dessen mattes Kristall ein wolkiges Licht verbreitete.
Von Zeit zu Zeit hob Jacques die Wimpern, und wie die schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Frau all diese Dinge leise vollführte, stürzte ihn in schreckliche Verwirrung.
Schließlich kam sie näher, mit einer kleinen Perlmuttdose in der Hand.
»Ich habe dir ein Mittel mitgebracht«, sagte sie mit mütterlichem Lächeln, »das dem Chinin deiner Schwester rein gar nicht gleicht. Du wirst es nehmen, um schneller einzuschlafen! …«
Sie legte den Arm um seinen Kopf und führte einen Löffel aus vergoldetem Silber zu seinem Mund.
»Sei brav!« sagte sie, während sie ihren dunklen Blick in den seinen senkte.
»Ich will nicht!«, erklärte er wütend. Jetzt erinnerte er sich, dass er eines Tages im Freudentaumel für 25 Centimes auf den Quais ein übles Buch mit dem Titel Die Taten der Brinvilliers7 gekauft hatte, und seither brachte er die Liebschaften großer Damen stets mit dem Vergiften in Zusammenhang. Sein etwas geschwächter Verstand stellte sich sogleich den verbrecherischen Anschlag einer Samthaube auf einen entkleideten Herrn vor. Er sah vor sich, wie der Herr mit verkrampfter Gebärde eine Tasse zurückstieß. Raoule wollte sich seiner bestimmt entledigen. Es gibt Geschöpfe, die vor nichts zurückschrecken, wenn sie sich kompromittiert fühlen! Deshalb hob Jacques die Faust, bereit, Raoule bei der ersten feindlichen Bewegung zu überwältigen. Statt einer Antwort tauchte Raoule ihre Zähne leicht in den Inhalt des Löffels.
»Ich bin doch kein Säugling«, meinte er verunsichert. »Man muss mir nichts vorkauen!« Und er schluckte ohne mit der Wimper zu zucken die grünliche8, nach Honig schmeckende Arznei. Raoule setzte sich auf den Bettrand, hielt ihm beide Hände und lächelte ihn beglückt und betrübt zugleich an.
»Mein Liebster«, murmelte sie so leise, dass Jacques sie wie vom Boden eines Abgrundes hörte, »wir werden uns in einem fremden Land gehören, das du überhaupt nicht kennst.
Es ist das Land der Wahnsinnigen, aber nicht der Grobiane … Ich habe dich soeben deiner gewöhnlichen Sinne beraubt, um dir andere, weit subtilere und raffiniertere zu verleihen. Du wirst mit meinen Augen sehen, mit meinen Lippen schmecken. In diesem Land träumt man, und das genügt, um zu existieren. Du wirst träumen und dann, wenn du mich dort, in dieser Welt der Mysterien, wiedersiehst, wirst du alles verstehen, was du nicht verstehst, wenn ich hier mit dir spreche.
Auf! Ich halte dich nicht mehr zurück und vereine mein Herz mit deiner Lust.«
Jacques versuchte mit zurückgebeugtem Kopf, seine Hände wieder in die Gewalt zu bekommen. Er meinte immer mehr, auf wogenden Federn zu driften. Die Vorhänge bekamen fließende Umrisse, und die Spiegel im Zimmer vervielfältigten sich, warfen ihm tausendfach die Silhouette einer schwarzen Frau zurück, die riesig, wie ein kohlschwarzer Geist, der aus dem höchsten Himmel hinabgestürzt wird, in der Luft schwebte. Er spannte alle Muskeln, straffte alle Glieder, wollte wider Willen zurück in seine gewöhnliche Hülle, die man ihm wegnahm, doch er versank immer tiefer. Das Bett war verschwunden, sein Körper ebenso. Er kreiste im Blau des Himmels, er verwandelte sich in ein Wesen, das dem schwebenden Geist ähnelte. Er hatte zunächst zu fallen gemeint und befand sich nun ganz im Gegenteil hoch über der Welt. Er hatte, ohne es sich erklären zu können, das hochmütige Gefühl Satans, der, aus dem Paradies herabgestürzt, dennoch über die