Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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target="_blank" rel="nofollow" href="#u49887b09-61a2-57ca-a7f5-83011e0b8eee">Teil 2 Julius Aschmann

       DER FREMDE

       DER BOTE

       VISIONS OF JULIUS

       DIE VORTEILE PHYSISCHER GEWALT ZWISCHEN ERWACHSENEN

       LADY MACBETH

       DIE LAGER UND DIE WAFFEN

       GETHSEMANE

       VICTORIA & ALBERT

       Teil 3 Hans Tellar

       EK115

       KLEINES NACHSPIEL IM HERBST

       DAS GEFÄNGNIS ALS ORT DER SICHERHEIT

       ASHES TO ASHES, FUNK TO FUNKY

      Teil 1

      Anton Wagenbach

      Ich klammerte mich an dem Kameragestell fest, krank vor Schwindel, aber berauscht von Machtgefühl: All dies war meine Schöpfung, meine vorhergesehene, geplante und durchgeführte Wirklichkeit. Die wirkliche Wirklichkeit schlug schnell und grausam zu.

      Ingmar Bergman / Laterna Magica

      WHITE HORSE

      AUF DEM COMPUTER LIEF EIN PORNO; das Notebook war mitten auf dem ungemachten Bett platziert, es schien für diesen Zweck erdacht und gebaut zu sein, thronte majestätisch auf der Hotelbibel über einer stillosen Anhäufung von Zeitungen, Magazinen, geöffneten Chipspackungen, Socken und T-Shirts sowie einem dicken Notizheft, auf dessen Umschlag mit blauem Kugelschreiber die Buchstaben M, R und K gekritzelt waren. Auf dem Boden lagen zwischen einem Koffer und weiteren Textilien zwei leere Fish&Chips-Boxen sowie ein großer Pizzakarton; der ausgetrocknete Teigrand lugte unter dem Deckel hervor wie ein faules oder totes Haustier.

      Anton Wagenbach setzte sich an den Bettrand und hielt seine müden Augen ausdruckslos auf den Bildschirm gerichtet, der Rest seines Körpers ignorierte das Angebot. Er hatte den Film nur aus Langeweile gestartet, eine kleine, belanglose Routine, die er sich angewöhnt hatte, wenn er allein unterwegs war. Außerdem sollte man den Tag mit etwas Hoffnungsvollem beginnen, fand er, das sei man den schlimmen Zeiten, dem bevorstehenden Ende der Welt schuldig. Was ist gegen ein paar Tropfen Sinnlichkeit einzuwenden, dachte er weiter, gegen ein kleines, freudvolles Tablettchen Zuversicht, ein offenes Fenster in Richtung weltauslöschende Ekstase? Seit drei Tagen war er hier, seit drei Tagen hatte er bis auf zwei kurze Spaziergänge am Strand sein Zimmer nicht verlassen. Jeden Tag hatte er irgendwann ein Filmchen gestartet und nie länger als zwei, drei Minuten laufen lassen, bevor er es völlig unbeeindruckt wieder stoppte. Sein sexueller Trieb schien versiegt zu sein, es mochte auch am unkontrollierten Alkoholkonsum liegen, wer wusste das schon.

      Teilnahmslos verharrte Anton in einer unnötig verdrehten und unbequemen Position und betrachtete die Darsteller, als ihn ein seltsames Gefühl überkam. Plötzlich empfand er so etwas wie Mitleid: Was sind das für Leben?, fragte er sich. Seine Gedanken stülpten diesen armen Seelen, die da ihre angestrengte Hamsterarbeit verrichteten, die Trostlosigkeit der ganzen Welt über. Ja, es musste eine geradezu religiöse Geißel, eine höllische Bestrafung sein, die sie zu ihrem Tun zwang. Und er wurde noch abwegiger, dachte, ihre Arbeit sei womöglich die für immer überfällige und qualvolle Buße für die unaussprechlichen Sünden der Menschheit – noch konkreter, für die Sünden seiner Ahnen; eine Kette, die er weder überblicken noch begreifen konnte. Zweifellos war Anton Wagenbach dabei, verrückt zu werden.

      Gleichwohl, auch wenn dieses Wissen vorübergehend aus seinem Bewusstsein verbannt war, war sein Zustand, seine Hölle, eine selbstgewählte und selbstgefällige.

      Von sublimer Dekadenz hatte er kürzlich gelesen, und dieser Begriff fiel ihm just in dem Moment ein, als der schwitzende Darsteller mit schmerzverzerrter Miene, die an einen in der prallen Sommerhitze auf offener Straße arbeitenden Dorftrottel erinnerte, »Dreh dich um, Baby« sagte, und die nicht weniger schwitzende Darstellerin unsinnig zu jodeln begann. Zumindest klang es in seinen Ohren nach Jodeln, was dem Moment eine gewisse Absurdität verlieh.

      Sublime Dekadenz? Anton wusste damit nichts anzufangen, er konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang der Autor den Begriff verwendet hatte, und es war ihm auch egal. Wahrscheinlich war der Wunsch Vater seines Gedankens, wie man sagt. Sublime Dekadenz war angesichts des laufenden Films oder auch des beinahe herabstürzenden Himmels draußen vor dem Fenster möglicherweise etwas Gutes, Angenehmes, Beruhigendes oder Wünschenswertes, vielleicht das Gegenteil eines Pornos, er wusste es nicht und wollte auch nicht darüber nachdenken. Und doch haftete sein Blick auf dem Bildschirm. Seine Gedanken spielten verrückt: Geschundene Knechte, schuftende, schwarze Sklaven kamen ihm in den Sinn. Gedrillte Soldaten oder Bergarbeiter, Metal-Bands mit Namen aus dem Necronomicon, in schwarzes Leder geschnürt, mit weiß bemalten Gesichtern, die theaterbluttriefenden Zähne gebleckt und einen Höllenlärm von sich gebend. Flüchtlinge fielen ihm ein, vergehende Völker, Horden von offenbar sinnlosen Existenzen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder anderen sinnlosen Gegenden, die einst groß, stolz und einflussreich und nunmehr zum Abschaum der Welt verkommen waren, Wörter wie Balkanroute oder Auffanglager flogen an ihm vorbei und strapazierten seine Aufmerksamkeit, er dachte an Choleraepidemien, Dürers rätselhaften Syphilitiker oder noch unbekannte Seuchen aus dem Reagenzglas, die ganze Erdteile hinwegrafften.

      Wohl wissend, dass das alles haltlose Klischees waren, möglicherweise Auswüchse seiner katholischen Prägung, die sich da in seinem Hirn zu einem monströsen Tsunami auftürmten, sah er schließlich Horden von todgeweihten KZ-Häftlingen aufgereiht an einem ins Nichts fallenden Abgrund; ja, beim Betrachten des Pornos musste er an Auschwitz denken, an Mauthausen, Vietnam, Srebrenica und so weiter. Schließlich endete die freudlose Reise seiner Gedanken im voyeuristischsten aller Tourismus-Hotspots: Golgatha. Er blickte auf die drei Gekreuzigten, auf den in der Mitte, den er sein Leben lang als edel und würdevoll Leidenden dargestellt gekannt hatte, als heroischen Unantastbaren. Jetzt, da Anton unter ihm stand, sah er ihn tatsächlich leiden, menschenunwürdig und zugleich zutiefst menschlich, sein Zustand war fürchterlich. Er war auch kein durchtrainierter Hüne mit charismatischen Gesichtszügen wie in den Filmen, eher ein drahtiger Durchschnittstyp. Nur noch Haut und Knochen, dreckig, geschunden, getreten und zerrissen, schlimmer als Mel Gibson ihn sich je hätte ausmalen können. Er weinte und schrie, rotzte und spuckte, zitterte und zuckte, nichts Göttliches war an dieser armseligen Figur. Er war die trostloseste Version eines Mannes am untersten Rand der Gesellschaft, der im Körperlichen gefangen, an die Materie genagelt, zum Leiden verdammt war, der einfach nicht sterben konnte, nicht erlöst wurde.

      Wenn Anton dort war, wirklich dort war, und das dachte er, warum half er dem armen Hund nicht, warum ließ er ihn da hängen – und die anderen beiden auch? Was konnten sie schon verbrochen haben, um das zu verdienen? Anton spürte Schweiß von seiner Nase tropfen, zog in Gedanken weiter. Und wirklich bemerkenswert: Kein einziger seiner Gedanken beneidete die Protagonisten auf dem Notebook um das Fleisch, um ihre verständliche, wenn auch reißerische Behauptung eines sexuellen Schlaraffenlands


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