Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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James Browns berühmtes Markenzeichen eitel, leicht und blass erscheinen lässt. Dieses langgezogene Yeah (das in der Endversion viel später und nicht ganz so brutal daherkommt) erklingt nicht nur aus den Tiefen seines Körpers, es evoziert einen archaischen Dämon, der mit Liebe nichts mehr gemein zu haben scheint oder aber an ihre Grenzen geht, an die sich nur ganz wenige wagen. Kleists Penthesilea lebt dort einsam und trägt diesen Schrei in sich, wie wir alle ihn in uns tragen, aus gutem Grund fest versperrt oder uns gar nicht bewusst, nur sie, Penthesilea, lässt sich von ihm leiten und über die menschliche Grenze stoßen, wenn sie ihren geliebten Achill mit ihrer Doggenarmee zerfleischt und regelrecht frisst. Etwas weniger, aber nur etwas weniger verzweifelt rausgelassen hat ihn John Lennon in jener Nacht.«

      Und so weiter. Wie man sieht, verlor auch Anton Wagenbach schon mal die von ihm geforderte Distanz des Kritikers, verlor sich in der Rhetorik, ließ sich von seiner Leidenschaft (Eitelkeit?) antreiben, verließ den popmusikalischen Rahmen und verlieh dem ihm so bedeutend erscheinenden Werk eine pathetisch wirkende Überkraft, wenngleich er da sicher ganz vehement dagegenhalten würde – aber wir wollen hier nicht über seine Arbeit urteilen, der kleine Exkurs soll nur zum Verständnis seiner Person, seines Charakters dienen.

      Wenn keiner seine Texte nehmen wollte, stellte er sie einfach auf seine Website. Immerhin eilte ihm der Ruf des starrsinnigen Eigenbrötlers voraus; das war ihm nur recht, so wurden seine Analysen auch oft gedruckt, weil die Herausgeber sich dann anspruchsvoller fühlten – jedenfalls war das seine Theorie. Zwei Büchlein mit Kritiken und Textsammlungen zu Musik, Film und Literatur waren in den letzten fünf Jahren bei einem kleinen Verlag in Wien erschienen, verkauft wurden davon ein paar hundert Stück. Der Preis, der ihm an diesem Tag verliehen wurde, war sein erster.

      Da kam nun endlich Hans Tellar auf ihn zu.

      »Die CD als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, haha!« Er klopfte Anton kräftig auf die Schulter. »Ich liebe dich, Alter! Wenn du gesagt hättest: Die Musik als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, hätte ich dich gehasst dafür, aber die CD – das war schön.«

      Anton grinste. Hans war kein wirklich naher Freund (hatte Anton einen nahen Freund?), er war aber dennoch sein nächster, wahrster, ehrlichster Gefährte, sie mochten, schätzten einander. Außerdem war Hans ein Verrückter, ein echter Künstler. Anton bewunderte ihn, mehr noch, er beneidete ihn, er war froh, ihn zu kennen. Immer wenn er verzweifelt und selbstmitleidig war, dachte er an Hans, wusste, da war zumindest einer, der einen noch viel radikaleren Weg als er ging, der sich dabei jedoch nie beschwerte und nie jammerte. Dann legte er eine seiner CDs auf und war froh, nicht Hans sein zu müssen. Nicht die Musik selbst, aber das Wissen um ihren Schöpfer und seine Geschichte richteten Anton wieder auf. Außerdem liebte er die Gespräche mit ihm, wenn er von seinen Interviews erzählte, von dem Bestsellerautor X, der ein Idiot war, von dem Maler Y, der ihn verführen wollte, von der Regisseurin Z, die ihre Sätze mit Man begann und mit Katharsis beendete. Als er noch jünger und attraktiver war, hatte Hans auch seinen Körper prostituiert – das waren die guten Zeiten, wie er sagte. Er habe viele ältere Damen bedient, so erzählte er gerne, die sein Spektrum in jeder Hinsicht erweitert hätten und denen er auf ewig dankbar sei. Hier, bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show war er wahrscheinlich, um für irgendein Onlinemagazin über einen großen und wichtigen, gesellschaftlichen, wer weiß, vielleicht sogar politisch relevanten Event zu schreiben. Im Grunde war Hans einer, dem es schlichtweg egal war, was andere über ihn dachten oder sagten. Die ganze Welt mochte sich gegen ihn aufbäumen, er würde sie mit einem Schulterzucken von sich weisen und weitermachen. Das war es, was Anton so bewunderte, ja beneidete – genauso wollte auch er sein.

      »Na, welcher dieser Artists hat dich am meisten beeindruckt?«, fragte er lachend.

      »Weißt du, da sind sicher viele Talente dabei«, sagte Hans nach einer ziemlich langen Denkpause. Sie war so lange, dass Anton schon überlegte, ihn stehen zu lassen und weiterzugehen. »Aber was mir auffällt, ist die Absenz des Schmerzes. An diese für die Kunst so existenzielle Grenze wagt sich keiner von denen. Umso schöner dein Pathos, mein Freund. Dennoch muss man sagen, ich meine, du und ich, wir schreiben über diese Leute – du freilich nicht, aber du weißt, was ich meine –, wir machen Kohle damit, wir bewerten sie, aber man muss ihnen eines zugestehen: Sie sind jung, sie sind am Drücker, das ist ihre Zeit. Wir sind die langweiligen alten Fürze, die ihnen zuschauen, die sie aus der Ferne beobachten und dann sagen: Früher war’s besser. Und das ist auch richtig so, das ist unser Job. Nicht als Kritiker, sondern als Alte. Denn früher, ich meine, als wir jung und am Drücker waren, war tatsächlich alles anders, obwohl auch wir schon eine sehr naive Generation waren, aber uns lagen immerhin die Nachwehen der Sechziger im Nacken. Wir waren eingeschüchtert von Dylans Texten, von der Musikalität der Beatles, von Zappa und Bowie, von Patti Smiths Beschwörungen, wir hatten eigentlich keine Ausreden, keine Berechtigung, leicht und naiv zu sein. Wir konnten nicht so tun, als wüssten wir nichts. Also manche von uns. Der Großteil sagte natürlich: Mir egal, wir sind jung und das sind die Achtziger! Und das sagen diese Typen heute auch. Eigenartigerweise sagen auch sie: Das sind die Achtziger. Jedenfalls scheißen sie auf uns, und sie haben verdammt noch mal das Recht dazu, das ist ihr Job! Trotzdem: Die Original-Achtziger waren immerhin künstlich, arrogant und fremd. Ich fand es übrigens schön, dass du auf sie losgegangen bist, denn das muss man – wir müssen das! Diese Leute aber übertreffen unsere damalige Naivität bei Weitem. Sie plündern die Achtziger, soll heißen, sie plündern die Elemente der Achtziger, ohne die Bedeutung dieser Elemente zu kennen oder zu studieren oder sich überhaupt für sie zu interessieren. Das ist so, wie die Punks und Skins sich bei den Nazis bedient haben, weißt du noch? Sieg heil! Da ging’s nur ums Provozieren. Und nicht einmal das wollen die hier. Denen scheint es nur um Produktionen und Karrieren zu gehen, um Optimierung und Perfektion. Musikalisch, menschlich, politisch – diese Kids sind spießiger als ihre Großeltern. Dabei, und jetzt kommt’s, bedienen sie sich der höchsten Emotionalität. Das ist alles so emotionsgeladen, das ist nicht zum Aushalten. Diese endlose Bandbreite an Gefühltem! All diese überlaufenden Herzen – aber da ist kein Blut! Die klingen alle, als wären sie fünfundneunzig, als hätten sie alles gesehen und erlebt. Die sind so altklug, und das ist nicht ehrlich. Keiner von denen hat davon gesungen oder gesprochen, dass er sich wie ein Arsch benimmt, dass er seine Liebste in Wahrheit verabscheut, natürlich ein Sexist ist oder den Islam hasst, dass er dankbar ist, ohne den Luxus des Kapitalismus nur ein trauriger Jammerlappen wäre, keine Ahnung hat oder sich insgeheim wünscht, einer würde kommen und allen sagen, sie sollen endlich die Goschn halten – keiner von denen hat sich tatsächlich geöffnet. Die reden von Frauenquoten und klagen das Böse an, das sie selbstverständlich ganz genau benennen können – das kaufe ich ihnen nicht ab. Wie hat Houellebecq gesagt? Pseudorevolutionärer Hedonismus! Es ist auch eine feige, verlogene Generation. Die heulen sich die Augen aus dem Kopf, wenn sie von ihren Verflossenen singen – aber da ist kein Schmerz, verstehst du mich? KEIN SCHMERZ!«

      Anton nickte. Natürlich verstand er ihn.

      »Du hättest die Rede halten sollen«, sagte er. »Ich meine, natürlich hättest du den beschissenen Preis kriegen sollen, das wäre nur fair und richtig gewesen.«

      »Haha, geteert und gefedert hätten sie mich! Andererseits hätte ich das auch nicht gesagt, ich hätte ihnen schön Honig ums Maul geschmiert und ihnen versichert, dass sie eine auserwählte, eine goldene Generation seien, von ihnen hinge die Zukunft Europas und der ganzen Menschheit ab. Wir stehen am Scheidepunkt der Geschichte! So hätte ich meine Rede begonnen.«

      Anton lachte.

      »Hast du das von David Byrne gehört?«, fiel Hans plötzlich ein. »Der hat sich jetzt entschuldigt, hat sich bei der Öffentlichkeit, bei der ganzen Welt dafür entschuldigt, dass er auf seinem letzten Album nur mit Männern gearbeitet hat. Dass keiner seiner Musiker oder Tontechniker schwanzlos war. Hat sich selbst gegeißelt und seine Schuld eingestanden. Das stand so in der Zeitung. Es tue ihm so leid und es gebe keine Rechtfertigung für so etwas. Soll Byrne tatsächlich gesagt haben! Und zwar nachdem irgendwelche Genderidioten ihn mit Online-Postings bombardiert und seine Entschuldigung eingefordert hatten. Verstehst du das?«

      Anton schüttelte den Kopf. Natürlich verstand er das nicht.


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