Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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freilich hinterrangiger, mit null Euro dotierter Würdigungspreis für Musikjournalismus verliehen wurde.

      »Sehr geehrte Damen und Herren!

      Die Compact Disc ist mittlerweile so unbeliebt wie der Zigarettenrauch beim Essen, dabei ist es gerade mal lächerliche vierzig Jahre her, dass Frank Zappa sie mit offenen Armen willkommen geheißen hat. Endlich konnte er seine Musik so hören, wie er sie in seinem Kopf hörte – ohne dem blöden Gekratze und staubigen Gegrammel. Und natürlich hatte er recht, denn so war das nun mal, ich weiß, ich weiß, das Artwork, es ist groß, aber die Wahrheit ist freilich: Nicht das Digitale verfremdet, das Vinyl tut’s, denn, Sie erinnern sich, wenn du nicht aufgepasst hast, wenn du dich nicht wie ein Zwangsneurotiker mit Putzfimmel um deine Platten gekümmert hast wie um ein verfilztes Haustier, machte der Plattenspieler, was er wollte, ließ die Nadel vom ersten zum vierten Song springen oder eierte dir etwas vor, das nie und nimmer im Sinne der Musiker oder in deinem war. Kurz: Er beeinflusste die Aufnahme schamlos – und tut das selbstverständlich noch, da können seine Apologeten den Spieß umdrehen, solange sie wollen. Die Platte hat Charakter, sagen sie – genau das ist ihr Problem: Sie ist ein ideologisches Werkzeug. Die Compact Disc aber ist neutral, sie drängt sich nicht auf, nicht der Musik, nicht dem Wohnzimmer.

      Ich habe in den Neunzigern meine Plattensammlung verscheuert, und wissen Sie, warum? Ich brauchte das Geld, aber ich wollte auch in dreißig, vierzig Jahren meinen Enkelkindern ins Gesicht schauen können, ohne mich zu schämen, weil in meinen Regalen große, unverzichtbare Popkunstwerke wie Lessons in love aus den verdammten Achtzigern verstauben, die sie schon bald wieder verramschen würden. Da habe ich mich ordentlich verschätzt, denn heutzutage würden meine Kinder, die ich Gott sei Dank nicht habe, Lessons in love total geil finden. Auf Vinyl wohlgemerkt, original aus dem heiligen Jahrzehnt, auf welches ich hier mit Verlaub spucken möchte.

      Die Jungen, die heute selber produzieren, nehmen ihre Sachen mehr oder weniger mit dem Handy auf, um sie sodann heiligsprechen, also auf Vinyl pressen zu lassen und auf Kofferplattenspielern um neunundsiebzig Euro abzuspielen, die so klingen, als ob du einen Kassettenrekorder in die Waschmaschine legen würdest. Wahrscheinlich hat der Koffer sogar Bluetooth. Sagt man das so? Ist das ein vollständiger Satz? Der Koffer hat Bluetooth? Na egal, im Grunde stehen sie ohnehin nur auf die auf dem Parkett rumliegenden Cover. Die Leute verkaufen ja nicht nur ihr digitales Selbst im Netz, nein, sogar ihre eigenen vier Wände sind als Profil zu verstehen – das geilere, weil analoge. Ihr Fußboden ist nicht der Grund, auf dem sie wandeln, er ist eine Analogie, eine analoge Analogie, eine Visitenkarte, eine verdammte Insta-Story. Da liegt dann ganz beiläufig der Kopf von John Coltrane im Schwarzweißprofil rum, gleich neben Grandmaster Flash oder Abba, Udo Jürgens oder schamlosen Popsternchen, für die man sich damals fremdschämte, die aus irgendeinem Grund aber dreißig Jahre später von allen als Kult gefeiert werden. Ganze Pakete von billigen Plattenneuauflagen aus dem letzten Jahrhundert werden da geschnürt, die man einfach haben muss, weil sie die eklektische Bandbreite des urbanen Menschen von heute widerspiegeln, womöglich von einem längst fünfzigjährigen Typen kuratiert, der für den deutschen Rolling Stone immer noch über Dylan und Springsteen schreibt und sich in ewigen Bestenlisten ergeht. Einem, der Musik nicht in gut und schlecht, sondern in wichtig und irrelevant teilt.

      Im Grunde stehen die Jungen also drauf, in ihren Regalen große, relevante Kunstwerke aus der guten, alten Zeit sinnlos verstauben zu lassen. Musikalisch gesehen, denn das Artwork natürlich, es ist groß! Ist das nicht verrückt? Das ist definitiv verrückt, denn eines kann ich Ihnen sagen: Die CD, die nunmehr von allen gehasste und so abfällig belächelte Compact Disc, ist, abgesehen vom perfekten Sound, selbstverständlich das viel geilere Format, nur kümmert sich keiner mehr darum. Zwölf mal zwölf Zentimeter! Sie passt in jede Tasche, man kann sie zu kleinen Büchern aus schönem Karton und feinem, handfestem Papier binden, ganze Essays reinschreiben oder sie einfach nur bebildern als reine Kunstinstallation, die den Hörer auf eine Reise schickt, und deren Wert, deren qualitativer Wert selbstverständlich nichts, aber auch absolut gar nichts mit Größe zu tun hat, das kann Ihnen jeder Kunstkritiker, der seine Latten am Zaun hat, jede heterosexuell aktive Frau kann Ihnen das bestätigen – und das sage ich nicht, weil ich ein Mann mit kleinem Schwanz bin, ich meine es sogar positiv, wenn ich Kunst sage.

      Die Compact Disc ist ein Kunstwerk, auch wenn sie sich bescheiden zurücknimmt und still als Vehikel fungiert, sich hinter das heilige Gut, welches sie zu tragen bestimmt ist, stellt; sie weiß, sie ist nur der Tonträger, nicht der Ton, und als solcher muss sie beschützt, reanimiert, gefördert und gepflegt werden.

      Wir reden hier von Kultur, wir reden von Artenschutz, von Evolution, von der Rettung des Klimas, meine Damen und Herren!

      Ihre momentan anachronistische Massenproduktion ist so lieblos und beliebig geworden, dass ihr Ruf verständlicher- und natürlich geplanterweise den Bach runterging. Die unsäglichen, fragilen Plastiktrays, schlechten Drucke, Songtexte in Schriftgröße eins? Die CD selbst kann freilich nichts dafür, sie ist bloß der Sündenbock, es sind ihre zeitgeisttreuen Produzenten, die das vergeigen, indem sie einen Haufen Scheiße veröffentlichen, nur um zum tausendsten Mal das Wort Einsparungsmaßnahme aus ihren faulen Mündern fallen lassen zu können. Wir werden das Zehnfache verdienen, ohne zu investieren und zu riskieren, ohne etwas herstellen zu müssen, sagen sie.

      Der weltweit inszenierte Untergang der Compact Disc ist der ultimative Wolf-of-Wallstreet-Traum jedes koksnäsigen Wirtschaftsstudenten: Wir machen ein paar Vinyls für die Feinschmecker, die CD machen wir in ein paar Jahren nur noch für die Schlageridioten, dann lassen wir sie sterben. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, außer es ist ein Kranzl, dann haben wir ein Problem, Houston. Wenn nicht einmal mehr eine Wurst ein Ende hat, ja dann … Was dann? Dann sind wir geliefert, also müssen wir handeln. So denken die, und Sie, liebe Zuhörer, denken vielleicht auch so, denken womöglich, ich hätte etwas gegen den Kapitalismus oder gegen die Jungen, über die ich hier meine Zweifel schütte. Das stimmt aber so nicht. Ohne Kapitalismus kein Wohlstand und ohne Wohlstand kein Individualismus – beides ist mir wichtig, alles andere wäre verlogen. Und ja, auch ich dachte immer, die armen Jungen seien Opfer der alteingesessenen Macht, aber das stimmt gar nicht. Die profitgeilen, heuchlerischen, kunstfeindlichen Mogule der Entertainmentbranche sind längst keine Alteingesessenen mehr. Wir Alten, die wir noch gar nicht alt sind, haben ausgedient.

      Wenn Sie heute ein Meeting mit einem A&R-Director oder dem CEO eines fetten Majorlabels haben, werden Sie von Vierundzwanzigjährigen erwartet und die Türklinke wird Ihnen von einer neunzehnjährigen Youtuberin in die Hand gedrückt, deren Termin für den CEO freilich der vielversprechendere war. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber ich sage: Auch die Wurst wird es nicht ewig geben, irgendwann wird das Wurstessen das neue Zigarettenrauchen sein – die Compact Disc aber muss überleben, wiederauferstehen und bleiben, nicht als Hipster-Retrohype, sondern als der Wahrheit verpflichteter Hort der Schönheit und des Seelendrecks, als Ausdruck des fragwürdigen Menschseins, als Manifest der Subkultur, als fleischgewordene Reliquie des Eigentlichen, als Beweisstück des Unmöglichen, als göttliche Materie, als natürlicher Feind der substanzlosen Behauptung, als Kurier und Vermittler einer unverfälschten Nachricht, mit der sie eins wird wie Braut und Bräutigam, Nonne und Jesus, als Kuppler, als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, als die zum Gruß ausgestreckte Hand eines Engels – kurz: als ideologiefreies und somit reines, nur mit der ihm eingebrannten Kunst beseeltes Polycarbonat. Ich danke Ihnen.«

      Bei der Aftershowparty wussten die Leute nicht so recht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Die einen nickten respektvoll oder klopften ihm auf die Schulter, als ob sie ihn kannten und schätzten. Einer hielt seinen Daumen in die Luft und sagte im Vorbeigehen: »Hey, Bro, Freedom of speech!« Andere verzogen das Gesicht und wichen ihm aus, ließen antikapitalistische Bemerkungen fallen.

      Anton organisierte sich ein Bier. Dann ein zweites. Wie immer in Situationen wie dieser, bei Labelfesten, nach Konzerten, auf Premierenfeiern fiel ihm ein Song von Ron Sexsmith ein, in welchem er singt: I’m not too big on parties, I never know what to say. (Von der Platte Blue Boy, die ihm die liebste von Sexsmiths Platten war und von der er einst geschrieben hatte: »Ein beiläufiges und somit perfektes Produkt aus dem Proberaum der Wirklichkeit.«) Wie ein unbequemes Möbel, das registriert, aber nicht benutzt wurde, stand


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