Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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die Schultern, versuchte sich auf kindliche Weise unsichtbar zu machen. Er hätte nach Hause gehen können, aber auch das wollte er nicht. Aus irgendeinem Grund dachte er, er sollte hier sein, sollte sich zeigen, einer sozialen Aktivität nachgehen, networken, was auch immer. Sein banales Problem war, dass er wirklich nie wusste, was er sagen sollte. Solange nicht ein konkretes Thema im Raum stand, schwieg er für gewöhnlich, was privat oder in einer größeren Runde ganz gut funktionierte, nicht aber im oberflächlichen Partynahkampf.

      Er holte sich ein drittes Bier.

      Ein Typ aus der Schlagerbranche beschwerte sich, dass selbst in einer Rede, die sich für etwas in seinem Metier nicht Wegzudenkendes wie die CD einsetze, das Wort Schlageridioten vorkommen müsse; das sei, so der freundliche Kärntner, eine Herabwürdigung der halben Landesbevölkerung. Eine Frau, sie war wohl Head oder Chief bei einem Plattenlabel, dozierte über die Vorteile des digitalen Marktes. Ein junger Musiker, vielleicht war er auch Junior oder Senior einer Major Company, sprach abfällig über die sentimentalen Grenzen des Albumformats – Track by Track war seine Devise. Anton war, als ob der Bub vor oder nach jedem Satz Track by Track sagte, es war mehr als eine Devise, es musste eine sogenannte Firmenphilosophie sein, ein eingelerntes Mantra oder aber eine psychische Störung. Überhaupt kommunizierten die hier Versammelten in einer codierten Fremdsprache, einer natürlich nicht neuen, aber in ein unverhältnismäßig unsinniges Extrem gezerrten Mischung aus englischen und neudeutschen Phrasen und Floskeln, während Anton an seiner Flasche nippte, unbewusst das Etikett von der Flasche kratzte, nickte und lächelte.

      Folgende Wörter schienen den hier Feiernden verpflichtend zu sein: Release, Experience, Challenge, geil, voll, Community, Shit, deep und weird. Begriffe wie deepe Lyrics oder smarte Beats fielen aus Vollbärten wie Regentropfen von Dachrinnen. Die Sprache dieser Menschen war definitiv klein geschrieben. In Stein gemeißelte Regeln zur Satzstellung, die Notwendigkeit eines Verbs für einen vollständigen Satz – ja überhaupt das Sprechen in vollständigen Sätzen war aus der Mode gekommen.

      Anton stellte fest, wie armselig bürgerlich sein Denken war, spürte, dass er, obwohl erst siebenundvierzig, ein alter Sack geworden war, der den Leuten hier am liebsten geraten hätte, zwischendurch mal einen Klassiker zu lesen. In einem schmerzhaften körperlichen Sinn spürte er den Wandel der Zeit, seinen Wandel vom anarchistischen Idealisten zum bürgerlichen Zyniker. Diese Transformation, der er hier und heute bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show ausgesetzt war, musste er mit allen Mitteln verheimlichen. Tatsächlich erwog er die Möglichkeit, einen monsterhaften, einen einer sich häutenden Schlange ähnlichen Anblick abzugeben, immerhin starrten ihn manche der Vorbeigehenden mit, wie ihm vorkam, staunenden, ja entsetzten Augen an, was aber wahrscheinlich nur mit seiner Rede zu tun hatte. Er verabscheute diese Leute. Er wollte mit dieser Szene nichts zu tun haben. Er interessierte sich nicht für die Erfolgreichen, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten als ihm zu zeigen, dass er keiner von ihnen war, dass er nicht dazugehörte.

      Insgeheim verstand er ihren Unmut. Er war kein Musiker, er war ein verdammter Kritiker, einer von denen, die sich zum Richter aufspielten, dabei hatte er noch nie über die lokale Musikszene geschrieben oder geurteilt. Das überließ er anderen. Er war der Meinung, dass das grundsätzlich nicht möglich war, erst recht nicht in Österreich. Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe, so hieß ein einigermaßen beachteter Essay, den er vor ein paar Jahren über die Unmöglichkeit seines Berufsstandes verfasst hatte. Über heimische Musik schrieb er – aus Respekt, wie er betonte – nur, wenn deren Protagonisten tot waren oder aufgegeben hatten. Kein Wunder also, dass die jungen Aufstrebenden sich nicht für ihn interessierten, konnten sie doch nicht von ihm profitieren. Einmal war er über Falco hergezogen, den Wiener Popstar aus den Achtzigerjahren, hatte festgehalten, dass der Mann sein anfängliches Talent konsequent an den Zeitgeist verkauft und verschwendet hatte – na mehr hatte er nicht gebraucht, sein skeptischer Blick auf den Landeshelden erhitzte die Gemüter, er erhielt Hassbekundungen, Schimpftiraden, ja Morddrohungen, aber immerhin machte ihn genau dieser Artikel bekannt; seitdem lief es ganz gut. Wenn er wollte, konnte er veröffentlichen, ein Fundament, um das ihn andere beneideten. Zwar waren den meisten Arbeitgebern seine Texte zu persönlich, zu literarisch, so hörte er oft, verstand das aber als Kompliment. Er hatte sich angewöhnt, weniger über die Künstler zu schreiben oder sich Metaphern zu Schlagzeugsounds und Gitarrenriffs auszumalen, sondern darüber nachzudenken, was ihre Musik in ihm auslöste, das ergab zuweilen schrullige Selbstbetrachtungen.

      Er hielt für unumstößlich, und das war auch ein Grundpfeiler seines Essays Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe gewesen, dass im Grunde jegliche Nachbetrachtung eines Kunstwerks, vor allem aber eines in der Popkultur, also zumeist mitten in der jeweiligen Gegenwart, im Augenblick angesiedelten, nur der womöglich gut gemeinte, zuweilen aber unsinnige Versuch einer Erhöhung ins Seriöse, ins Politische oder gar in einen angesehenen akademischen Kulturkanon sei. So hielt er selbst den Begriff Popkultur für übermotiviert und Teil dieses Problems. Von seinen Kollegen wurden gerne beliebige Textpassagen aus Popsongs zitiert, die sogleich mit beliebigen Bedeutungen beschwert wurden, die in Antons Kopf keinen Sinn, nicht einmal Anstoß zum Weiterdenken ergaben. Oder sie stellten jene Zitate einfach in den Raum, davon ausgehend, dass die Leser das Außerordentliche selbst erkannten. Der Kritiker aber durfte, wenn es nach ihm ging, kein besserwisserischer Erklärer des besprochenen Werks sein, eher ein Diener oder Priester, der das Mysterium, so es vorhanden war oder auch nur von ihm wahrgenommen wurde, mit seiner Gemeinde teilte, feierte, ergründete, zurechtrückte oder aber seine Absenz beklagte. Die Künstler, die er selbst kennengelernt oder interviewt hatte, wollten alle auf einem gewissen Chaos- oder Zufallsprinzip bestehen, welches ihrer Arbeit, ihren Werken und künstlerischen Entscheidungen zugrunde lag, sie waren mitunter selbst von ihren Ergebnissen überwältigt, es schien ihm also zu einfach und verführerisch, dem Ganzen im Nachhinein eine ihm, dem Kritiker, aus irgendeinem Grund sympathische konzeptuelle Ordnung überzustülpen. Im Grunde müsse eine fundierte Plattenkritik, wie der Schriftsteller Lethem es gezeigt hatte, nicht zwei Spalten, sondern ein ganzes Buch füllen (Talking Heads, Fear of music). Aber wer konnte das schon?

      So viel zur Theorie. Natürlich hatte Anton es insgeheim versucht, er wollte Lethem sogar übertrumpfen und ein ganzes Buch über einen einzelnen Song schreiben, wie Greil Marcus es mit Dylans Like a rolling stone gemacht hatte; er hatte sich schon jede Menge Notizen zu John Lennons Song I want you von der letzten Beatles-Platte Abbey Road gemacht; hier ein paar Sätze:

      »Nie war ein Text so verknappt und nie war einer so eins mit der ihm zugedachten Musik, die ihm auch gar nicht zugedacht, sondern von ihm selbst bestimmt wurde. Durch sie, durch das simple Bluesriff, dem die Stimme gehorcht wie Abraham der Stimme Gottes gehorchte, erfährt die banale Feststellung I want you, die in den meisten Popsongs zur zweiten oder dritten Variation des vielbemühten I love you degradiert ist, eine angsteinflößende Transformation von der unschuldigen Sehnsucht zur gefährlichen Obsession, vom Opfer zum Täter. Es macht ihn zum Mann und entmannt ihn gleichermaßen. I want you so bad, it’s driving me mad ist hier keine Floskel, das Gefühl zerreißt den Sänger, er ist nur noch zu der Aussage She’s so heavy fähig – und mehr ist auch nicht zu sagen. Für gewöhnlich sind Outtakes, also nicht verwendete, liegen gebliebene Studioaufnahmen, selbst für den gierigsten Fan ermüdend und enttäuschend, bleibt am Ende doch immer die Erkenntnis, dass die beste Version es auf das Album geschafft hat – aber auch in dieser Hinsicht ist I want you ein Ausnahmefall. Die finale Version des Songs, wie wir ihn kennen, ist ein Zusammenschnitt aus mehreren Takes und Overdubs. Zwei Monate vorher, am 22. Februar 1969, spielten die Beatles 35 Takes des Songs in einer 9 Stunden andauernden Session ein. Einer dieser Versuche, vielleicht ist es auch ein Zusammenschnitt, ich weiß es nicht und es ist unerheblich, ist so gewaltig (oder gewalttätig), dass er selbst (zumindest für die Dauer der ersten zweieinhalb Minuten) die fantastische Endversion überschattet, und das liegt fast ausschließlich an Lennons knochentrockenem, unkontrolliertem Gesang. Man mag sich gar nicht ausdenken, wie Yoko Ono sich beim Hören dieser Aufnahmen gefühlt haben muss. Nach der zweiten Runde des Hauptteils, in dem Moment, wo Billy Prestons kreischende Orgel einsetzt, lässt Lennon einen Schrei los, der durch Mark und Bein, durch Herz und Seele des Hörers, durch die DNA der ihm nachfolgenden sowie der ihm vorausgegangenen Generationen, ja durch die Geschichte der


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