Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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Vollbart, ganz Gentleman, bot seine Hilfe an. »Alles ok? Belästigt dich der Typ?«

      Anton nahm den Haken, der ihm zugeworfen wurde, instinktiv an, schnappte zu, der Haken bohrte sich in sein Gaumenfleisch, der Blick des Feindes zog daran, der Schmerz machte ihn wütend. Er musterte den jungen Mann, machte einen kräftigen Schluck und sagte: »Wir duzen uns also? Hat dir deine Mutter nichts beigebracht?«

      »Schon in Ordnung«, beschwichtigte Barbara. »Das ist mein Freund.«

      »Ah, der Dude, der sich nicht von der CD trennen kann. Mit dem bist du also zusammen …«

      Der Dude lächelte gereizt, wusste nicht, ob er lachen oder seiner aufsteigenden Aggression Raum geben sollte. Am liebsten wollte er dem Idioten sein blödes Maul stopfen. Er blieb jedoch ruhig, dachte vernünftig über eine mögliche Reaktion nach, wog kurz die Vor- und Nachteile physischer Gewalt ab und widmete sich seinem Gegenüber schließlich mit einem lässigen: »Scheiß bier, das Ottakringer, was?«

      »Darauf kannst du einen lassen«, sagte der Typ, der Producer oder aber Chief eines angesagten jungen Plattenlabels sein mochte – Arschloch Records womöglich. Anton konnte sich einen zynischen Grinser in Barbaras Richtung nicht verkneifen und deutete arrogant wissend auf den knapp dreißigjährigen Vollbart, der offenbar Wichtiges zu sagen hatte, denn sein mit einem silbernen Totenkopf beringter Zeigefinger fuchtelte durch die Luft, bevor er zu folgender Weisheit ausholte:

      »Weißt du, Alter, alles verändert sich und nichts besteht. Das ist der …«, er hielt inne, suchte nach dem Wort, »… circle of life. Wir alle müssen sterben, früher oder später. Es ist nur ein blödes Plastikteil, dem du nachtrauerst. Und Musik ist definitiv analog, ich meine ganz grundsätzlich.« Und dann wurde er lauter: »Musik ist Leben, das Leben ist analog und das Digitale ist leblos, eine Lüge.«

      Anton applaudierte in einem langsamen, die Aufmerksamkeit der Herumstehenden erregenden Rhythmus, was den Vollbart natürlich provozierte. Lachend schüttelte er seinen Kopf, drehte sich nach seinen Freunden um, die näher kamen und lauter wurden, ihr Testosteron sammelten und ihm Unterstützung garantierten.

      »Eine herrliche Rede«, sagte Anton. »Sie hätten dir den Preis geben sollen – bestimmt hätten sie dir aus der Hand gefressen, wären dir zu Füßen gelegen. Aber was genau will diese Aneinanderreihung billiger Klischees heißen?«

      »Dass du keine Musik hörst, wenn du sie digital abspielst. Das ist ein wissenschaftlich belegter Fakt.«

      »Und was höre ich dann?«

      »Eine Simulation.«

      »Eine Simulation?«

      »Eine Simulation.« Er nickte zur Bestätigung, war sich so sicher wie ein Sekundenzeiger über seinen nächsten Schritt.

      »Keine Musik also.«

      »Nope.«

      Anton lachte gehässig: »Noch einmal, was soll das heißen? Das ist doch unsinnig, völlig substanzlos. Ich meine, dein Fuß wippt ganz automatisch zu einem Beat, du spürst die Bässe im Magen, du kannst dazusingen, weil du den Song kennst – und sagst mir ernsthaft, das sei keine Musik?«

      »Ist gut, jetzt beruhigt euch. Ihr seid unterschiedlicher Meinung, das muss ja noch keinen Krieg bedeuten«, versuchte Barbara die Wogen zu glätten, aber der Sturm in Antons Kopf hatte die Wellen schon zu hoch gepeitscht. Sie schlugen ihm entgegen, mitten ins Gesicht. Er war jetzt Ahab, der keine Wahl hatte und weitermachen musste.

      Ein paar Fotografen und ein Kamerateam des öffentlichrechtlichen Rundfunks hatten Unruhe gewittert und sich dazugesellt. Was auch immer an diesem langweiligen Abend in dieser Blase der Selbstgefälligkeit, die niemanden da draußen auch nur im Geringsten kümmerte, das wussten die Fernsehmacher und Schreiberlinge ganz genau, ein bisschen Ablenkung, Glamour oder Extravaganz versprach, reichte vielleicht für eine kleine Mitternachtsstory oder ein Skandälchen, für eine Erwähnung in der U-Bahn-Zeitung, auf Twitter oder Instagram. Anton bemerkte sie gar nicht und fuhr fort.

      »Du sprichst also vom Leben und vom Sterben, vom Wandel der Zeit, dozierst über das Gesetz der Veränderung und bestehst gleichzeitig auf dem Alten, dem noch viel Älteren, Analogen, auf der Schallplatte, auf einer altbackenen Retro-Ideologie? Hast du mir nicht zugehört? Siehst du nicht, wie dumm das ist? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«

      »Nur weil du die Zeichen der Zeit nicht erkennst und etwas nicht kapierst, heißt das noch lange nicht, dass es sinnlos ist. Die Rückbesinnung auf das Alte, Analoge war längst überfällig und hat nichts mit Konservativismus zu tun. Manchmal geschieht einfach das Richtige. Außerdem könntest du endlich den Arm dieser Lady loslassen, Bro.«

      »Du sagst Lady zu meiner Freundin? Du nennst mich Bro? Wie alt bist du – vierzehn?«

      »Anton! Hör auf. Lass ihn doch. Lass uns einfach gehen. Bitte.«

      »Armer, alter Wichser«, sagte der Vollbart und wollte sich davonmachen, Anton aber verlor die Kontrolle, stürzte sich auf ihn, donnerte ihm seine Faust auf die Nase; sofort machte sich Blut auf den Weg durch seinen dichten Bart, an welchem Anton unsinnig zerrte wie an einer aufgeklebten Maske, während sein Fuß ungelenk gegen das Schienbein seines verdutzten Gegenübers stieß. Dutzende Handys waren plötzlich auf sie gerichtet, die fetten Canons und Nikons klickten, Antons Bierflasche entglitt ihm und zerbarst auf dem Boden, er stürzte handvoran auf die Scherben und blutete. »Scheiße!«, brüllte er, was noch mehr Menschen anlockte. Mehrere Gäste und Securitys hielten die Kontrahenten auseinander, einer der Veranstalter bat um Ruhe und Verständnis, immerhin stand diese Preisverleihung unter dem Motto Diversität & Toleranz.

      Letztendlich war es also das – nicht der Inhalt seiner Rede, sondern das Blut, der fiktionalisierte Skandal –, was Anton Wagenbach für einen Augenblick ins Zentrum der popkulturellen Aufmerksamkeit seines Landes hievte. Blut verkaufte sich immer noch besser als Musik oder Prominenz. Minuten später waren die Fotos und Videos online, bald war von dem scheinheiligen Musikjournalisten zu lesen, der eben noch, seinen edlen Preis in Händen, schwülstig von den Möglichkeiten der Menschen- und Weltverbesserung gepredigt und kurz darauf den nächsten Krieg angezettelt hatte. Barbara bestand darauf, dass er die Nacht in seiner alten Wohnung verbrachte und schrieb um drei Uhr morgens eine SMS: Das war’s. Ich hab keine Lust mehr und das macht auch keinen Sinn mehr.

      Am nächsten Tag ging sie nicht ans Telefon. Sie schrieben sich aggressive, traurige und zärtliche Nachrichten, bedauerten den Weg, den romantische Gefühle gezwungen waren zu gehen, das große Ende war gekommen, das wussten beide und daran gab’s nichts zu rütteln. Anton wollte es schon auf der Party erkannt und beschlossen haben, Barbara konterte, kam immer wieder auf seinen Satz mit den Kindern und ihre von ihm konsequent ignorierte biologische Uhr zurück, worauf er gar nicht näher eingehen wollte, ja nicht eingehen konnte, also legte er neue, gleichsam uralte Vorhaltungen auf den Tisch, die wiederum sie wegwischen musste – irgendwann brach Barbara das kindische Pingpong der Verletzungen und Verletztheiten ab. Anton holte seine Sachen und zog wieder in seine kleine Wohnung, zelebrierte die Einsamkeit mit einer ungesunden Melange aus Schlaflosigkeit, vernachlässigter Körperhygiene, Fernsehen und Alkohol, und wollte endlich seinen Roman schreiben.

      Nach drei Monaten trafen sie sich an einem neutralen Ort, in einem Café im ersten Bezirk. Sie saßen zwischen gestressten Touristen und nervösen Tauben. Ihre doch ganz natürliche Art, die für sie so typische Nüchternheit erschien ihm plötzlich unerträglich. Er fragte sich, wie er es acht Jahre mit dieser Frau ausgehalten hatte. Ja, er erwog sogar die Möglichkeit, dass sie tatsächlich verrückt war – in einem klinischen Sinn. Sie ließ sich immer treiben, von links außen nach rechts außen, von den höchsten Höhen bis ganz nach unten. Er konnte ihr nicht mehr folgen, ihr nicht gerecht werden, und er bezweifelte, dass irgendjemand das konnte. Selbstverständlich hatte sie kein Problem mit dem Alleinsein, hatte sogar schon einen Neuen im Visier, nichts Festes, sie wolle es langsam angehen, sagte sie leise, wobei sie ihren Blick starr auf ihre Kaffeetasse hielt. Für Antons zunehmende Verwahrlosung zeigte sie kein Verständnis, mehr noch: kein Interesse. Sein Bart war ungepflegt, seine Haare fettig, seine Haut speckig und unrein – es ekelte sie regelrecht vor


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