Der mitteleuropäische Reinigungskult. Bernhard Moshammer

Der mitteleuropäische Reinigungskult - Bernhard Moshammer


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und wiedergewonnene Freiheit, mit der er, narzisstisch wie er nun einmal sei, nicht umgehen könne. Sie habe diese Männerfantasien satt und auch nie verstanden. Warum war es ihnen der größte Traum, sich gehen zu lassen, ungewaschen vor dem Fernseher rumzuhängen, ungesundes Zeug zu fressen, Fußball und Pornos zu schauen und haltlos Bier zu saufen? Es war einfach nur lächerlich infantil, aber gut, er konnte tun, was immer er wollte, sie würde ihm nichts mehr vorschreiben. Höflich erkundigte sie sich nach seinem Romanprojekt, was Anton anständig fand. Er wollte schon groß ausholen, erkannte aber umgehend ihr Desinteresse, ihre zur Seite rollenden Augen – als ob sie sich nach innen drehen, verstecken wollten – verrieten ihm, dass sie die Frage gleich wieder bereute, also entschied er sich für eine eher knappe, kryptische Antwort, sprach von seiner intensiven Recherche, die ihn bald nach England führen würde. Er sei hinter einem Mann her, der untergetaucht, ja offenbar auf der Flucht sei, einem ominösen Rechtsradikalen. Sein Name: Julius Aschmann.

      Schon ein Jahr zuvor, erinnerte sich Barbara, hatte Anton angefangen, von diesem Mann zu reden, hatte sich aufgebracht gezeigt, weil dieser mit der Veröffentlichung rechter Zeitgeistparolen aufgefallen war. Ein reaktionärer St. Pöltner Lehrer? Wie skandalös, hatte Barbara verächtlich geätzt. Aber nein, so Anton schockiert, Aschmann sei ein verdammter Nazi. Um das behaupten zu können, müsse er sich schon eindringlicher mit ihm beschäftigen, hatte sie ihn belehrt, freilich hasse sie das alles, aber wenn er gefährliche Nazis jagen wolle, solle er besser oben anfangen, in den ausgetrockneten Hügeln der sogenannten Parteienlandschaft, einer kalten und unwirtlichen, öden, luftarmen Gegend.

      »Registrierst du meine Sprache?«, hatte sie dabei selbstbewusst gelacht. »Ich sollte schreiben, nicht du

      Diese Leute müsse er jagen, die hätten alle ideologischen Dreck am Stecken, und jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert werde ihnen der Dreck wieder bereitwillig vom Stecken geleckt, war sie fortgefahren, erinnerte sich Barbara jetzt.

      »Die Sache mit der großen Aufarbeitung war doch immer schon eine große Lüge, findest du nicht? Das waren doch immer nur Bücher, Gedichte und Zeitungsartikel, politische Festtagsreden, Theaterstücke oder Filme. Ich als Schauspielerin weiß das, ich bin mittendrin in dieser Aufarbeitungsszene, und das ist auch wichtig und richtig, aber mitunter, so ehrlich muss ich sein, bin ich auch nur ein Teil der großen Lüge. Diese Stücke und Filme werden dem Publikum ja regelrecht aufgezwungen. Im Grunde will das keiner sehen und hören, aber das traut sich auch niemand auszusprechen, also nicken alle betroffen, werfen verstohlene Blicke auf ihre Uhren oder kehren nach der Pause nicht mehr zurück. Die Attacken und Volksbeschimpfungen unserer Schriftsteller und Künstler der Nachkriegsjahrzehnte sind vom Publikum nie geschätzt worden, immer nur von ihresgleichen, von den Selbstgerechten, die sich über alle und alles erhaben meinen, nur weil sie in Universitäts- oder Kunstkreisen verkehren, die haben vom eigentlichen Leben der Leute keine Ahnung – will sagen: Wir haben keine Ahnung. Das Spucken auf das eigene Land und seine Geschichte ist zur Pflichtübung geworden, zu einer Art Normalität. Der Österreichhass hat sich unter den Intellektuellen mit der Zeit etabliert. Bernhard, der alte Trachtenträger, hat ihn zum Humor hochstilisiert, seit damals lacht jener Teil des Volkes, der sich immer noch ungeniert Intelligenz nennt, lauthals darüber, lacht sich kaputt, wenn auf einer Bühne in einem Stück das Wort ›Nazi‹ oder gar ›katholischer Nazi‹ fällt. Wie lustig! Oder wenn die Erna in Schwabs Präsidentinnen sagt: ›Du bist ja eine Nazi!‹ Ein fulminanter Lacher. Und das nennen sie dann Geschichtsaufarbeitung, weil sie in Wahrheit auch nicht wissen, wie sie mit dieser Geschichte umgehen sollen. Weil das keiner weiß. Weil man in Wahrheit mit dieser Geschichte gar nicht umgehen kann. In Wahrheit haben wir nämlich keine Wahl. Die Verdrängung ist unumgänglich, wenn man als ein in dieses Land Hineingeborener so etwas Unverschämtes wie ein glückliches Leben anstrebt. Wie, wenn nicht mit Verdrängung, soll man denn dieser Schuld gegenübertreten? Unser Dilemma ist, dass wir gar keine Wahl haben, dass wir alle damit leben müssen, mit der Geschichte, mit der Wahrheit, mit der Schande und mit der Schuld.

      Der Holocaust ist zum goldenen Götzen, zur Cash Cow, zur Klagemauer, zur kulturtouristischen Attraktion verkommen, zum Ausstellungsmarathon, zum literarischen Bestsellerstoff, der schlecht gelaunte Leser, seriöse Rezensionen, Stipendien und Preise verspricht, womöglich Friedenspreise. Wenn also jetzt einer mit seinem Kunstschlauch die österreichische Gesellschaft ordentlich vollspritzt, nicken ein paar Großstadtköpfe betroffen mit denselben oder wackeln amüsiert mit ihren Großstadtschultern, während das Volk dazu schweigt, sich wundert, sich die Pisse von den Schultern streicht oder wütend zurückbrunzt. Und nun, in den herrlichen Zeiten der gottverdammten sozialen Medien, ist das große Schweigen beendet, das Volk brüllt und scheißt zurück – und dies, so unerträglich das ist, ist nun einmal die Gegenwart, der Shitstorm ist die Realität dieses verfluchten Jahrhunderts. Dazu kommt, dass Österreich nur ein Fliegenschiss auf der Weltkarte ist und alle Länder und Gesellschaften dieses Planeten dieselben oder ähnliche Leichen im Keller horten. Das alles ist, wie wir also sehen, nur normal – eine endlose, ekelhafte Aneinanderreihung des Immergleichen: Krieg, Mord, Trauma, Lüge, Korruption und so weiter.«

      Bisweilen versuchte Anton sie aufzumuntern, ihren, wie er fand, recht dunklen, womöglich ihrem Beruf geschuldeten Hang zum Dramatischen ins Lot zu bringen, war bemüht, ihr als Gegengift kleine Injektionen des Guten und der Schönheit der sie umgebenden Welt zu verabreichen, ihr das unglaubliche Glück der Gegenwart und des Wohlstands vorzuhalten. Einmal hatte er ihr vorgehalten, sie würde rechts denken und links leben, so erinnerte sie sich, nichtsdestotrotz folgte er ihren Gedanken immer wieder bereitwillig und gerne, hielt sie für ziemlich klug, was ihr natürlich schmeichelte. Auf Julius Aschmann als gewieftem Menschenverführer und Rattenfänger sowie auf der viel größeren Gefährlichkeit der Untergrundnazis bestand er jedoch beharrlich.

      Die Tatsache, dass sie gern auf alles spuckte, aber seinen Versuch, aktiv zu werden, so abfällig belächelte, verletzte ihn wahrscheinlich mehr, als sie beide das wahrhaben wollten.

      Daran erinnerte sich Barbara, als Anton bereits weg war. Sie hätte sich aber ohnehin in keine Diskussion mehr verwickeln lassen, hätte sich auch wirklich zusammenreißen, all ihre Kräfte sammeln und die größte Disziplin aufbringen müssen, um seinen abstrusen Ausführungen zu seinem großen Roman noch einmal zu folgen – nein, nein, es war schon alles gut so. Anton war ein Kind, womöglich ein verrücktes mit besonderen Bedürfnissen, das seiner inneren Stimme gehorchen und diesem rechtsextremen Schmetterling nachlaufen musste, wer weiß, vielleicht war das seine Bestimmung, aber sie war nicht seine Mutter, sie war gar keine Mutter, das Kindsthema war ein für alle Mal vom Tisch – sie war neununddreißig, Herrgott! Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr eine Beziehung. Es war doch nicht verwerflich, kinderlos zu bleiben – in einer Welt wie dieser. Und sie wollte nie eine werden, die sich von einem gnädigen Spender ein Kind machen lässt, nur um vor der Gnade der Mutterschaft in die Knie zu gehen. So verzweifelt durfte sie nicht sein, nicht jetzt, nicht in drei Jahren, nie.

      Wie sie dann aber so allein in ihrer Wohnung war, eine Flasche Wein öffnete, sich ans offene Fenster setzte, durchatmete, eine Zigarette anzündete und den Rauch gegen die frische Luft schickte, wie sie die letzten acht Jahre Revue passieren ließ, fühlte sie sich bleiern und alt. Die Stille des Raumes hing schwer wie eine eingezogene Decke über ihr, kam näher und näher.

      Draußen hatte sich die Nacht über die Stadt gelegt und verbarg ihren Dreck, die tausend Geschichten, die sie täglich besudelten. Selbst die schamlose Stadt, der tagsüber alles egal war, konnte nicht ohne Verdrängung existieren – und die Nacht entlockte ihr definitiv eine ihrer angenehmeren Seiten. Ein paar Sterne blinkten am Himmel, ein angenehmer Wind ließ die Bäume im Park sich hin und her wiegen, sie tanzten einen kleinen Slowfox – oder wie hieß der Nullachtfünfzehntanz, bei dem man vom linken auf den rechten Fuß wackelte und die Oberkörper sich unbeholfen aneinanderdrängten? Wie hatte Barbara diese Unbeholfenheit gemocht! Sie war so menschlich, und alles Menschliche war gut. Früher. Wenn der eine nicht wusste, wo er seine Hände hinplatzieren sollte, wenn die Gesichter sich näher kamen, man den Körpergeruch des anderen aufsog. Wie schön es war, den Schweiß des anderen zu schmecken. Im Hintergrund lief irgendeine Schnulze, und man wusste instinktiv, diesen Moment, sosehr man sich selbst, die eigene Unsicherheit auch infragestellte, womöglich hasste, dieser Moment würde alles schlucken und relativieren, ihn würde man


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