Perlen und schwarze Tränen. Hans Flesch-Brunningen

Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen


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      Die Schiffe auf der Themse verwandelten sich zu Burgen. Die Männer auf Deck hatten mit dem Nebel zu kämpfen, wie sie mit dem Wasser, dem Sturm, den vergangenen Gefahren gekämpft hatten, mit den Geschützen und mit der Fliegenden Bombe. Der Rauch ihres Feuers, vom Nebel erfaßt, wurde fast fest. Die Seeleute waren mißtrauisch im Dunkel: sie fühlten sich zurückversetzt durch die Jahrhunderte, in die Zeit der Armada.

      Die Brücken führten ins Nichts. Geister und Gespenster über dem Wasser tauchten unters Wasser zurück, verwässerte Bilder der Tiere in Dichtung und Traum. Pfeiler, Stützen und Balken waren fürs Auge eine solide Zumutung, wie sie sich schwangen und absurd verstiegen.

      Auf den Landstraßen waren die Lastwagen im Fahrgeleit steckengeblieben und warteten auf »Fahrt frei!«. Die Fahrer zündeten sich die Pfeifen an, fluchten und scherzten; sie lebten ja noch und hatten nichts eingebüßt von ihren unterschiedlichen Charakteren und Temperamenten. Die Scheinwerfer brannten, seit Jahren war es das erste Mal auch in der Stadt: der Krieg schleppte sich hin; die Verdunkelung war teilweise aufgehoben. Was war der Mensch im Nebel? Die Maske des Hohns; und spröde. Die Lastwagen fuhren los, vereinigten sich mit einem zweiten Strom von Privatautos. In den Vorstädten sickerten die Taxis ein, mit den Fahrern vorn am Lenkrad, die an nichts anderes dachten, als den Fahrgast übers Ohr zu hauen. Viele Autobusse kamen dazu, machten Station an den Straßenecken. Die Fahrer schickten den Schaffner vor, der mit seiner Taschenlampe heranlief, laut rufend, auch blökend vor Lachen, wenn er einen Freund traf. Die langen Straßen sahen aus wie die Boulevards der Hölle. Einsamkeit, Verrat, Leere, Verlassenheit gähnten. Waren diese Häuschen im Sommer wirklich freundliche Gehäuse für Familien gewesen? Waren sie erschüttert worden nur durch Bomben und Flugbomben? Der Nebel hatte sie gründlicher gemordet. Der Nebel hatte das Dach gezackt, die Mauern zerschmissen. Zerstörung wurde zerstört. Eine Schule wurde zum römischen Kastell. Ein Kino war von Napoleon in Stücke geschossen. Farblos und leblos blühte Vernichtung. Der zweite Stock streckte eine vierzinkige Hand ins Unsichtbare.

      Der Nebel marschierte die Hauptstraße hinunter, spreizte sich auf den Hauptplätzen, besetzte Piccadilly. Die Tausende amerikanischer Soldaten waren noch immer da, seltsam entfremdet. Hier war ein Arm zum Gruß erhoben, ein Mund offen zum Schrei. Viele ergriffen die Gelegenheit. Es war die Jagd nach dem Mädchen in der Dunkelheit. Romantik war ersprossen. Geheimnis waltete. Verbrecher schlichen sich in unbehütete Gebäude zu Mord und Schändung, Einbruch oder Notdurft. Geflüster wurde hörbar; die Entfernung erhöhte die Wahrscheinlichkeiten. Der Mann mit den Abendausgaben verkaufte seine Zeitungen ungesehenen Händen, verfinsterten Gesichtern. Die letzte Auflage war noch immer zu haben.

      Der Nebel floß abwärts, glitt seitwärts, brach in die Häuser. Kein Pochen gabs, kein Klopfen mit den Knöcheln. Die Plötzlichkeit war lautlos. Es war das stille Erdbeben. Schlafzimmer, Speisezimmer, Vorzimmer, Landhäuser blähten sich mit Innennebel. Die kleinen Sekretärinnen in den Gängen der großen Bürohäuser kicherten. Sie taten, als hätten sie den Weg verloren. Das Publikum im Vorstadtkino verlangte sein Geld zurück, da die Leinwand nicht zu sehen war. In der Küche mußten Mann und Frau weiterstreiten wie in den Sommertagen ihrer Jugend. Schwarze Schatten erschwerten das Problem. Kartoffeln wurden zu Goldbarren, das Küchenmesser lag zum Greifen da; für die Tragödie. Der Werber trat in das Haus der Hure und verkürzte das Feilschen mit männlichem Griff: Sei mein! Doch sie entschwand auf der Treppe, entrückt durch eine freundliche Hülle um Elend und Schmach.

      Die Eßwaren schmutzten in der Feuchtigkeit. Der Wein war abgestanden. Das Bier war warm. Wer die Türe zu dem Restaurant öffnete, brachte Schleierschwaden für die Gäste mit.

      Die Tischgespräche kamen ins Stocken, es litt der Flirt. Die Dame dachte an die Wärme der Decken und wünschte, allein zu sein mit der letzten der Wärmflaschen. Ein paar schärften ihren Witz und hatten Erfolg in Verführung: Ein Paar, das ist einer und eine, das ist gut zur Erwärmung, wo jeder nur das möchte; oder überhaupt nichts.

      Ein paar Rebellen träumten von Italien, vom blauen Mittelmeer, von der blauen Donau. Der Geist des Widerstandes versuchte Wiederkehr. Die Jazzkapelle auf dem Podium wagte eine Melodie aus Sturm und Leidenschaft. Die Finger wurden klamm, der Atem des Oboisten stieg qualvoll durch die Luftröhre auf.

      Die Vorhalle des Café Canada war während der flauen Zeit am Morgen gereinigt worden. Jetzt sah es dort glatt und fein aus, trotz der nebeligen Stücke Luft, die von den Flügeln der Drehtüre hereingeblasen wurden. Die Leuchter an den Wänden waren mit zarten Lampenschirmen verziert. Zur Rechten standen Stühle und zur Linken standen Stühle, mit Menschen darauf, die die Zeitung lasen und warteten. Der Portier kam und ging, inspizierte die Vorkehrungen für Verdunkelung; seine Brust war tapeziert mit den Tapferkeitsmedaillen eines früheren Krieges. Die Stühle waren mit Seide bespannt, um nichts geringer, weil sie alt waren, unberührt von Nebel und Krieg, völlig unverdorben von der Zeit. Auch der Teppich war unbeschädigt, ein klein bißchen abgetreten. Überall war ein mächtiges »N« zu sehen, in Gold oder Messing, ein großsprecherisches Zeichen, als gehöre das Unternehmen Napoleon, Kaiser der Vergnügungsstätten.

      Das Haus, von First zu Keller, rieb sich die Augen, dem Erwachen nahe. Im Oberstock wurden die Tischtücher geglättet, um die besseren Gäste zu empfangen. In der Bar begannen die Kellner Whisky mit Nebel zu mischen. Die ersten Überröcke marschierten in die Garderobe. Die Telephonzellen füllten sich mit Männern, die sich um ihre Freundinnen ängstigten, sie könnten vielleicht im Nebel verlorengegangen sein. Ein schwarzer Diener putzte in der Herrentoilette die ersten Schuhe dieser Nacht im Krieg.

      Alle Stühle waren besetzt. Heute abend wartete jeder länger als sonst. Die Autobusse waren aufgehalten, die U-Bahn war vollgestopft, die Taxis waren zu Hause geblieben, Züge hatten Verspätung: Sorgen genug und genug.

      Ich beobachtete meine Kameraden im Wartedienst. Ich las meine Zeitung. Ich wartete auf meine Dame.

       Warten

      Die vergoldete Biedermeieruhr an der Wand wies mit schwarzen Zeigern halb sechs. Wir sollten uns um halb sechs treffen. Ich wußte, Jane würde nicht vor dreiviertel sechs kommen, bei diesem Nebel! Ich machte es mir bequem. Es würde ja nicht auf lange sein, da wir für heute abend Theaterkarten hatten, und Jane kam gewöhnlich nie mehr als eine Viertelstunde zu spät, wenn es ins Theater ging. Ich habe auf sie schon sehr oft und sehr lange gewartet. Neben mir ein Offizier der Handelsmarine. Neben ihm ein junger Mann mit Schnurrbart, ein recht unangenehmer Mensch, hübsch und eingebildet. Neben ihm eine Dame in mittleren Jahren, einen Turban um den Kopf, die aussah wie eine Ausländerin.

      Sonderbar, sich vorzustellen, daß Männer in Uniform heutzutage Vorteile hatten vor unsereinem. Wie anders doch in meiner Jugend! Ich konnte diesen Offizier der Handelsmarine gut leiden. Ich hätte es mir nicht einfallen lassen, seinen vergangenen Wartestunden prüfend nachzugehen. Ich war so gut wie sicher, daß er auf ehrenhafte Weise beigetragen hatte zur Endsumme der verwarteten Zeit auf Erden.

      Er hieß höchstwahrscheinlich Charley, jeder zweite Mensch in London hieß Charley. So hatte auch der Mann geheißen, dessen Blumen zu Weihnachten im vergangenen Jahr vor meinen Blumen gekommen waren. Mach dir nichts draus. Dieser Charley hier hatte auf seinen Geleitzug gewartet. Die Schiffe sammelten sich, sein Schiff war als letztes eingetroffen. Trotzdem mußten sie noch drei Tage länger kreuzen, bevor die Zerstörer kamen. Das Wetter war schuld. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden lang Deck und Logis inspiziert; und dann begann er zu saufen, mit dem ersten Maat und dann mit dem zweiten Maat. Sie soffen, und die Leute unter Deck sangen ihre Seemannsliedchen. Der Nebel hatte das ganze Geschwader in der Tasche, der Nebel war schuld. Mein Freund dachte an sein Haus in den Midlands, in der Seitengasse einer Kleinstadt, und an seine Schwestern, die er liebte mit mehr als brüderlicher Liebe. Schließlich kamen natürlich die Zerstörer; kein einziger Schuß wurde gefeuert, keine Wasserbombe geworfen. Und da war er auch schon, sein Freund, auch ein Offizier, von der Panzerwaffe, ein Draufgänger; größer und stärker als mein Kamerad aus der Handelsmarine. Sie gingen die Treppe hinauf, zur Bar.

      Ich wartete noch immer. Auch der hübsche junge Mann wartete noch. Er sah mehrmals auf seine Taschenuhr und verglich die Zeit seiner Taschenuhr mit der Zeit der Biedermeieruhr an der Wand. Die Zeit ist ein relatives


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