Perlen und schwarze Tränen. Hans Flesch-Brunningen
wieder verletzt, als sich alles um die Ausgänge drängte und plötzlich einer von den Taubstummen schrie: »Da kommts!« Es war jedenfalls keine Flugbombe, sondern der Auspuff eines Autos, das vom Benzin besoffen war. Der Taubstumme war erschüttert über das Wunder, das ihn mehr überrascht hatte als die andern.
Die Frau wurde in ein andres Krankenhaus gebracht. Das Essen war dort besser als im ersten Krankenhaus, und sie befreundete sich mit mehreren Frauen in den Nachbarbetten.
»Und wissen Sie auch …«, fragte die Dame im Nachbarbett – sie trug einen seidenen Schlafanzug, »wissen Sie – Ihr Mann liegt auch in diesem Krankenhaus!?« »Welcher Mann?« fragte die Frau. »Sie können aber doch nicht zwei Männer haben!« sagte die Seidige.
Man brachte also die Frau vors Bezirksgericht und beschuldigte sie der Bigamie. Sie schluchzte und lächelte unter Tränen und sagte: »Mein Gatte pflegte mich Venus zu nennen, doch das ist lange her –« Und ihr Lächeln erwärmte das Herz tief unten im Busen des alten Richters, und der ganze Gerichtshof lächelte mit ihr, und durch die Tore traten weißgliedrige Götter in den Gerichtssaal und verdrängten die Richter und setzten sich selbst auf die Richterbank und verurteilten die Frau zu ewiger Frische und glatter Abwicklung. Lächelnd verließ sie den Saal. Die Götter lüfteten ihre Glieder in Mächtigkeit.
Ich erhob mich. Ich hatte genug. Ich bahnte mir einen Weg zur Telephonzelle. Wir hatten den Anfang des Theaters schon versäumt. Es war ein Stück von Somerset Maugham, »Der Kreis«; geschrieben vor der Sintflut und dem Paradies. Kein Zweifel – die Frau hatte das Paradies auf die Erde gebracht.
Stalin und Hitler hatten es beide aufgegeben. Sie hielten eine große Teegesellschaft, bei der sie sich gegenseitig wie Menschen behandelten. Alle waren glücklich, und sogar die Soldaten an der Front hatten Essen und Frauen. Vom ersten Januar an wurden überall die Paragraphen des Zivilgesetzbuches, die Artikel der Verfassung, die Strafgesetze und alle zehn Gebote Gottes streng eingehalten. Die Kerker leerten sich, die Gerichte hatten nichts zu tun. Gatte und Gattin lebten zufrieden zusammen: es gab keinen Streit mehr, weder am Frühstückstisch noch vor dem Schlafengehen. Die Kinder ließen ihre Unarten sein; kein Halbwüchsiges machte sich in die Hosen, kein Baby schrie. Konflikte wurden nach Verhandlungen beigelegt, der Weltsicherheitsrat arbeitete emsig. Scheidungsprozesse waren unbekannt. Mißverständnisse und Streitigkeiten zwischen Liebenden endeten, bevor sie begonnen hatten, dort, wo sie anfingen: im Bett. Keine wahre Tragödie entging ihrem guten Ausgang. Die Filme mußten alle umgeschrieben werden, da das Publikum Abwechslung liebte, und alle Stücke in Tränen, Selbstmord und plötzlichem Tod enden mußten, die im wirklichen Leben aus der Mode gekommen waren.
Die Menschheit besann sich darauf, gegen Krankheiten Heilmittel zu finden; und so gab es bald keinen Krebs und keine Schwindsucht mehr. Keine Profite wurden gemacht, keine Kriege geführt. »Das Mädchen mit dem leichten Schweißgeruch« hatte schon zeitig in ihrer Mädchenzeit die Seife »Wunderduft« entdeckt und sah sich nie wieder schwierigen Situationen gegenüber, da ihr Liebhaber sie plötzlich im Stich lassen würde, weil er den Gestank einfach nicht mehr aushielt. Menschen, die aus dem Mund rochen, wurden nicht mehr zugelassen, jedermann erhielt zu seinem sechsten Geburtstag eine Tube der ausgezeichneten Zahnpasta. Das Nährmittel Horlick war Herr geworden aller Nachteile nächtlichen Hungerns. Alle Gesichter strahlten, denn Mann und Weib waren frei von Verstopfung. Patentarzneien hielten die Welt in Bann.
Kein Zahnweh und keine Eifersucht. Kein Jucken nach dem Rasieren und kein Sodbrennen nach schweren Mahlzeiten. Keine gebrochenen Hälse und keine gebrochenen Herzen.
»Aufhören –«, rief ich. »Halt ein im Flug. Ich will mein Herz brechen, laß es brechen.« Ich wartete noch immer. Ich faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Meine Füße waren ganz gefühllos, weil ich sie so lange unbeweglich gehalten hatte.
Ich begann mit der Belagerung der Telephonzellen. Auch hier waren gutgelaunte und harmlose Geschöpfe bis zum Hals versunken in gegenseitiges Verständnis und freundliches Gespräch. In der einen Kammer sprach ein Marineoffizier zu einem Mitglied der eleganten Welt; in der andern flirteten zwei Sergeanten mit Mädchen aus den niederen Klassen. Die Mädchen am andern Ende des Drahtes versuchten, die Herren Unteroffiziere zu necken, doch der eine Sergeant war beharrlich und redete ihnen andauernd zu irgend etwas zu, wahrscheinlich, sofort hierher zu kommen. Es war ein endloses Telephongespräch. Zwei Mädchen von der WAF stellten sich neben mich und ich machte ein paar Bemerkungen, wie lange die zwei schon das Telephon besetzt hielten. Es waren nicht eben gescheite Bemerkungen, aber die Mädchen lachten. Ich bekam dadurch etwas von meiner Selbstachtung zurück und fühlte mich durch ihr Lachen geschmeichelt.
Telephongebühr war drei Pennies statt der üblichen zwei, aber das war ja ein besonderes Lokal, mit seinen großen N’s überall, Napoleons Haus. Ich kenne die Nummer im Schlaf und ich drehte die Scheibe, ohne hinzusehen.
Es antwortete die Stimme der alten Dame mit dem sonderbaren Beruf, die jede Woche zweimal nach London kommt und dann bei Jane wohnt. Jane hatte nichts dagegen, sie liebte das, sie lebte anscheinend lieber mit einer Frau als mit einem Mann, wenn es auch nur zwei Tage in der Woche war. Mit mir will sie jedenfalls nicht leben. Oder doch?
Die Dame: »Nein. Miß Smith ist nicht zu Hause.«
Ich: »Wissen Sie zufällig, wann sie weggegangen ist?«
Die Dame: »Warten Sie einen Augenblick – es war vielleicht sechs Uhr.«
Ich: »Sechs Uhr? Aber –« Ich dachte daran, daß sie mich doch um halb sechs treffen wollte.
Die Dame: »Möglicherweise war’s dreiviertel sechs.«
»Danke sehr«, sagte ich.
»Soll ich ihr etwas bestellen? Ich könnte ihr etwas auf einen Zettel schreiben. Ich fahr dann weg …«
Sie fuhr weg. Ich schnitt ihr den Redestrom ab.
»Nein. Danke. Nichts zu bestellen.« Ich legte den Hörer wieder auf. Andre warteten draußen, lustige Burschen, traun. Aber ich hatte ja meine Zeitung noch nicht fertig gelesen.
Feuer
Meine Phantasie gewann wieder einmal die Oberhand. Ich sah Jane, im Nebel verirrt; von unfreundlichen Negersoldaten belästigt, einen dicken Mantel hurtig über den Kopf geschlagen und fort mit ihr – geraubt. Ich sah ihren zermalmten Körper unter den Rädern eines Autobusses oder fortgespült in den Wassern der Themse, wo er zu einem elenden Ende unter den scharfen Schneiden einer schwarzen Schiffsschraube kam.
Der Arbeiter stellte sich vor mich und sagte mit hohler Stimme:
»Sie haben noch nicht zu hassen gelernt.« »Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich auch?« Worauf der Mann seine eigenen Erlebnisse zu erzählen begann.
Er war augenscheinlich vor kurzer Zeit ganz zufällig in
eine Versammlung geraten. Dort wurde er sofort von einer Menge junger Frauen umringt, die alle eifrig der Rede einer offenbar erwachsenen Frauensperson auf der Rednerbühne lauschten.
Diese Frau, sagte der Arbeiter, sei gut angezogen gewesen und alles in allem recht angenehm anzuschauen. Sie erzählte ihre Lebensgeschichte; wie sie das erstemal geheiratet hatte, einen Fliegeroffizier, der im Jahr 1943 von den Deutschen über Frankreich abgeschossen wurde; baldigst heiratete sie dann einen Major, der für eine Kandidatur als Abgeordneter der Arbeiterpartei in Aussicht genommen war und bei Arnheim von den Boches getötet wurde. Die Frau sprach eindringlich, doch ohne besondere Erregung, und sie bestand darauf, daß ohne Haß der Krieg unmöglich zu einem entscheidenden siegreichen Ende gebracht werden könne; auch würde es ganz und gar unmöglich sein, die neue Welt, für die man kämpfte, aufzubauen – ohne Haß. Sie sagte, sie sei bereit, »Schulen des Hasses« für junge Damen zu eröffnen. Ob sie sich mit dem Gedanken trug, auch ihren nächsten Gatten aus den Wehrkräften Großbritanniens zu wählen, ward nicht erschlossen.
Der Arbeiter, der genau so verwirrt dreinsah wie die jungen Frauen, verließ den Versammlungssaal. Er fühlte sich außen durstig und innen traurig, denn er hatte soeben entdeckt, daß er die einzige königliche Krawattennadel verloren