Perlen und schwarze Tränen. Hans Flesch-Brunningen

Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen


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ob sie sich bei diesem Nebel hinauswagten. Ich begann die Zeitung zu lesen. Ich hielt das Blatt vors Gesicht und drehte mich um, um besser zu sehen.

       Wasser

      Und ich wartete. Ich wartete weiter.

      Ich konnte an der Bewegung des Vorhangs vor der Drehtür sehen, wenn jemand hereinkommen würde. Der rote Stoff wurde hin und her bewegt, hereingeblasen und fiel dann wieder traurig zurück, nachdem die Person in die Vorhalle getreten war. Wenn die Türe einen starken Stoß erhalten hatte, drehte sie sich noch weiter, doch es waren nur Nebel und Geister, die hereinschwebten und vorüberwehten – niemand trat hervor. Ich spielte raten, wie der nächste aussehen würde, der hereinkam; ob ein Zivilist oder ein Soldat, und von welcher Armee, ob ein Engländer oder ein Amerikaner. Einige waren vom Licht geblendet, und alle hatten Kleider und Gesichter und Hände voll mit Nebel. Doch vorwärts, mein kleiner Verstand, lies Zeitung!

      Die Buchstaben begannen ihren Tanz in den Unsinn. Die Zeilen explodierten und zeigten die jenseitige Bedeutung, das Innere von Zeit und Raum. Ich versuchte, mit den Augen etwas festzuhalten, doch mein Bewußtsein lief davon. Die Zeiger der Uhr liefen davon. Ich wartete noch immer.

      Plötzlich platzten sieben oder acht Soldaten in den Raum. Es waren Amerikaner, mit auffallenden Rangabzeichen auf den Schultern, ihre Backen rot von Suff und Nässe. Sie stellten sich mitten in der Halle in einer Reihe auf und hielten sich an den Händen, als wollten sie ein Ballett beginnen. Ihre Füße schrieben Kreise auf den Teppich und ihre Münder standen offen wie die Mäuler von Fischen. Aber sie waren nicht stumm, diese Fische.

      Sie tanzten, ohne ihre Leiber zu bewegen. Sie sprachen, der eine übernahm das Stichwort vom andern, wiederholte es und schwellte so den fürchterlichen Chor. Alle waren sie von tödlicher Munterkeit: aus ihren Rüsseln kam das Geräusch von Maschinen. Während sie sich rührten, verloren sie ihre Hosen: es tauchten Röckchen auf, als wären sie alle Mitglieder der griechischen Gebirgstruppe.

      »Die Deutschen fanden die schwache Stelle. Nationale Überlegungen wurden über Bord geworfen. Man läßt den Feind nach seiner Flöte tanzen. Das Schlachtfeld war unordentlich. Es war eine der interessantesten Schlachten. Verletzbare Stellen. Bieg ihn ab, schreib ihn ab. Ich könnt ihn schön verdreschen. Je länger der Krieg dauert, desto ärger ist es für die Deutschen. Der Feind hat uns erwischt. Am Neujahrstag. Am Weihnachtstag.«

      Ich war aufgesprungen. »Was schwätzt ihr denn da für Zeug zusammen?« schrie ich, so laut ich konnte. Ich scherte mich einen Dreck um die feine Umgebung. Scherten sich denn die? »Aber Junge, Junge!« brüllte ein Feldwebel. »Reg dich doch nicht auf. Da ist die Deinige, auf die du so lang gewartet hast.«

      Die Soldaten entließen aus ihrer Mitte eine alte Frau, mit schäbigen Kleidern und rührendem Gehaben. Ich schaute wieder in die Zeitung hinein. Die Nebelschleier hatten sich zwischen das Blatt und meine Augen geschoben.

      Die Frau hatte ein ganzes Leben lang auf Arbeit gewartet. Am vorigen Donnerstag schickte man ihr einen Zettel, auf dem stand, sie solle hinüberkommen und sich für eine herrliche Abwechslung bereit machen. Sie nahm ein Bad und ging die Straße hinunter, wo an der Ecke ein Lastwagen auf sie wartete. Ungefähr um zehn Uhr traf sie in der Kantine an der See ein. Man drängte sie in eine halbverfallene Bude und sagte ihr, sie würde eine der Empfangsdamen für die heimkehrenden Soldaten sein. Sie mußte ein paar Teller abwischen und Papierblumen auf die langen Holztische stellen. Die Sirenen gaben Fliegeralarm, doch statt der Bomber kamen Schiffe mit Truppen auf Urlaub.

      Die Urlauber waren außerordentlich schmutzig und schlecht gelaunt. Sie sagten, sie seien fast erfroren. Einige Mädchen in Uniform trafen ein und warteten den Soldaten mit heißem Tee und mürbem Gebäck auf. Die Stimmung wurde gemütlicher. Die Frau bemächtigte sich eines jungen Mannes mit Korporalsstreifen, der sie irgendwie an ihren Sohn erinnerte. Man taute allgemein auf, ein paar summten und einer sang ein Seemannslied; er kam aus dem schottischen Hochland. Die Frau servierte ungefähr siebenhundert Tassen Tee, dann wurde sie ohnmächtig, ein glückseliges Lächeln auf dem Gesicht. Die Soldaten sangen immer lauter und lauter, eine neue Lokomotive wurde ihnen auf warmer Schüssel zur Verfügung gestellt. Der ganze Haufen bestieg den Zug, die Bäuche leicht geschwellt, der Tee floß ihnen aus den Nasenlöchern. Die Frau ging zu Fuß nach Hause.

      Sie fand ihren Mann in der Küche, da saß er und die Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Du mußt nicht erschrecken, es ist alles nur Freude, reine Freude! Was für ein Glück, Glück des Glasers!« »Aber du bist doch gar kein Glaser«, sagte die Frau. »Ich war’s. Von morgen an werden wir aber beide für den Bischof arbeiten!« »Was für ein Bischof?« fragte die Frau. »Für den Bischof, der aus Indien kam. Den Bischof von St. Albans«, sagte ihr Gatte.

      Einen Tag später waren sie im bischöflichen Palais untergebracht. Sie fanden ihre Livree, die war von Motten zerfressen; und sie paßte ihnen auch nicht in der Länge. Die Küche war voll Küchenschaben, die um den Herd wimmelten. Die Zimmer waren eiskalt. Das Palais war so groß, daß sich die Frau am ersten Morgen verirrte und zu der Feierlichkeit im Dom um zehn Minuten zu spät kam. Doch sie bewahrten Haltung, wenn sie jemanden am Haustor zu empfangen hatten. Gäste trafen in Rudeln ein; darunter waren auch Inder, die den kalten Bischof gekannt hatten, als er noch jung und warm war. Die Frau versuchte Feuer zu machen; da mußte noch für die Gasterei eine ganze Sau gehäutet und gebraten werden.

      Ich mußte noch immer warten. Immer warten.

      Doch als die Festlichkeiten vorüber waren und sich des Bischofs die weibliche Feuerwehr des Ortes annahm, hatte sich die Frau um eine andre Beschäftigung umzusehen. Sie wurde mit ihrem Mann in einem Sonderautobus der anglikanischen Kirche heimgebracht, und da der Autobus leer war und sie bis in die Knochen fror, kuschelten sich Frau und Mann aneinander und begannen, das alte Spiel wieder zu spielen.

      »Es ist unser Hochzeitstag«, sagte der Mann. »Feiern wir ihn zu Hause.« »Für die Feier gibts kein Feuer, und der elektrische Strom ist abgestellt.« »Dann gehen wir eben ins Bett. Ich trage dich«, sagte der liebende Gatte. Er schulterte die Gattin und trug sie über die Schwelle, eine alte und ehrwürdige Sitte.

      Ach, sie hatten leider den treuen Liebhaber vergessen, aus Burma eben heimgekommen. Er hatte auf die Frau im dunkeln Vorzimmer gewartet, und als er das schreckliche Schauspiel sah, wie eine Frau von ihrem gesetzmäßigen Mann getragen wurde, sozusagen in den Armen des Gesetzes, da gedachte er der Gesänge der Ahnen und griff zum Revolver und schoß der Frau eine Kugel ins Hirn.

      Die Kugel blieb drin stecken. Die Frau war schwer verletzt. Sie verlor das Bewußtsein nicht. In einem Brief voll Liebe und Verzeihen schrieb sie an den Soldaten, der eben heim aus Burma gekommen war: »Ich hoffe und bete einzig und allein, daß Du mich so liebst, wie ich Dich liebe, denn wenn Du das tust, dann können wir von neuem beginnen, Liebling, von nun an sollen es nur Du und ich und mein Mann sein.«

      Als die Frau aus der Spitalbehandlung entlassen wurde, erwarteten sie draußen beide Männer. Der Gatte sagte: »Kopf hoch – eine gute Nachricht!« Die Gattin erwiderte, und sie war noch immer böse auf ihn: »Wieder ein Bischof, nehme ich an?« »O nein«, sagte der Mann. »Falsch geraten. Ich habe geerbt, von der guten alten Gripsy. Sie ist gestorben, während du weg warst. Einen blauen Lappen pro Woche, wenn ich die Sorge für ihre Schoßtierchen übernehme.« »Und was sind ihre Schoßtierchen, wenn ich bitten darf?« »Zwei Kanarienvögel, sieben Goldfische, drei Katzen«, sagte der Mann, und da war auch schon die Hälfte der Freude dahin, die er vorher empfunden hatte.

      »Gehn wir uns unterhalten«, sagte der Liebhaber-Soldat und nahm den Arm der Frau. »Wir wollen uns alle vertragen. Ich habe Karten, die kosten mich nichts. Ich hab sie mir hintenherum verschafft.«

      So gingen sie sich unterhalten. Sie gingen zu einem Fußballmatch auf dem Spielplatz des Fußballklubs Aldershot, wo zwei taubstumme Mannschaften gegeneinander spielten. Da keiner der Spieler die Pfeife des Schiedsrichters hören konnte, bediente man sich roter und grüner Fahnen: rot für »off-side« und grün für »out«. Am Schluß hätte die siegreiche Mannschaft gerne vor Freude geschrien, aber so standen sie nur herum mit offenem Munde.

      »Wo sind meine


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