Perlen und schwarze Tränen. Hans Flesch-Brunningen

Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen


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Gnade! Wir sind unschuldig! Wir haben nichts verbrochen! Schont uns! Wir sind die Witwen und Waisen! Gnade! Erbarmen!«

      Ich schonte sie nicht. Ich hielt nicht inne, die Bösen zu töten, die verantwortlich waren für die Schlagworte auf meinen Schuhen, und für die Schlagzeilen, und für die Bilder zu dem Text, und für die Wirklichkeit zu den Bildern und für das Elend in der Geschichte dieser Welt. Ich erkannte die Lebenden unter den Sterbenden und erledigte sie. Auf jeden schoß ich mehrere Male, meine Munition war unerschöpflich. Ich schoß sie in den Kopf und ins Gesicht, in die Brust und in den Bauch. Ich sah ihr Hirn heraussickern aus der zerschmetterten Schädeldecke und ich sah, wie sich ihre guten Anzüge unter meinen Kugeln zu elenden Fetzen verwandelten. Ich lächelte über die sonderbaren Verdrehungen ihrer zerbrochenen Gliedmaßen, und mein Kollege sagte zu mir: »Das ist recht! Lächle und die Welt lächelt mit dir –«

      Draußen in der Vorhalle war ein Lautsprecher angebracht, und dieser Lautsprecher fiel dröhnend ein mit dem bekannten Schlager. Die Musik war laut, doch das Gebrüll und Geschrei der Frauen und Kinder und das Todesröcheln der hingerichteten Journalisten war noch lauter.

      Der Gestank des Blutes überstank den Geruch des Desinfektionsmittels und der Exkremente. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, wann wohl die berühmten Blutlachen auftauchen würden, doch dann sah ich an meinem Überrock hinab und sah meine Schuhe an, wo jetzt die Inschriften verschwunden waren, und ich trocknete mir das Gesicht mit einem Taschentuch, denn ich litt unter der Hitze und dem Staub, und da entdeckte ich, daß zwar kein Blut floß, aber etwas viel Böseres: eine blaue, klebrige Flüssigkeit, die ich nicht kannte. Die Luft wurde damit gesättigt, und verwandelte sich rasch in eine dunkle und klebrige Masse. Ich konnte kaum aus den Augen sehen, doch ich schoß weiter drauf los, und mein Nachbar tat das gleiche. Die beiden Schuhputzer hatten uns schon lang verlassen. Ich schoß, und die anderen lachten und schrien und weinten, und so ging es weiter.

      »Seid Ihr unsterblich?« schrie ich und ließ mein MG fallen und sprang vor, um den Rest mit nackten Händen zu erwürgen, Frauen und Kinder und alle.

      Doch ich berührte sie nicht. Als ich meine Hände dicht vor ihren Hälsen hielt, verstummte die Musik in der Halle, und eine klare Stimme sagte: »Ihre junge Dame ist soeben eingetroffen. Beeilen Sie sich, sonst verfehlen Sie sie. Sie ist bereits auf der Treppe zur Bar.«

       Sie kommt!

      Der große Augenblick war gekommen. Wir hatten ihn erwartet – ja, wir hatten sogar Anspruch darauf. Vielleicht war er die dunkle Erinnerung an die entscheidende Sekunde, als wir zuerst auf diese Erdenbühne getreten waren; so plötzlich, kurz und glühend heiß, so tief vergraben im Unbewußten, daß wir davon nur die Erinnerung einer Erinnerung bewahrten, den Schein eines Scheines im Spiegel; es war ein jähes Eins-Sein, das wie ein scharfes Messer in unser innerstes Leben schnitt.

      Die Kinder waren überwältigt, als die Türe zum Nebenzimmer aufsprang, und halb gesehen, halb geahnt, die Pracht des Lichterbaums in ihre erwartungsbange Finsternis brach: Weihnachten. Wir hatten das Buch auf den Knien gehalten, und wir streichelten den Einband und hielten den Atem an, da wir die erste Seite aufschlugen. Was würde auf diesen Seiten alles stehen! Die Anfangsbuchstaben waren in Gold gedruckt, und Goldschnitt umgab den Band, und das Buch glühte in Gold wie ein geheimes Feuer all der Dinge, der ungelesenen, ungesehenen, unerhörten.

      Wir standen oben im Zimmer, wir hatten unsere erste Liebesbegegnung. Die Frühsommernacht war in dämmrigen Schatten über den Garten gebreitet. Im Zimmer war es schwarz wie im Mutterschoß, und als meine Liebste die Türe auftat, da schlug mich der Lichtstrahl fast zu Boden. Dort stand sie im Silberkleid, gleißend und bezaubernd; weiß wie die Rosen in den Rosenbüschen ihr gewaltiger Busen; ihr Hals wie eine Säule; und das Mondlicht auf ihrem Antlitz schwamm zitternd wie Gefahr.

      Beethovens tolle Trompeten und heisere Hörner hatten den Himmel gestürmt: wir mußten ihm folgen. Die Menge strömte aus dem Konzertsaal und verlief sich auf den Straßen. Wir wurden mit ihr fortgeschwemmt, wir waren ausgebrochen und tobten am Fluß, wir rannten unter den Bäumen, mit der erhabenen Erinnerung an das Unabwendbare um unsre Herzen wie die Stücke eines zerbrochnen Sterns. Wir vermochten keinen Laut von uns zu geben; nicht sprechen, nicht lieben.

      Die Sonne ging auf hinter dem Vesuv. Die Frau schmiegte sich an mich in der Kälte des frühen Morgens. Das Meer war schwarz, die Wolken violett, fast blau. Dann traf der erste Strahl unser Bewußtsein. Der Bodennebel zerriß und die Erde fand langsam errötend in die Wirklichkeit zurück. Kein Wort wurde laut, doch ich ergriff ihre Hand und vergab ihr die sinnlose Grausamkeit eines ganzen Lebens. Die Erde uns zu Füßen wies uns den Weg in die ungewisse Zukunft. Der Augenblick kam nie wieder.

      Ich hatte große Weiberleiber im Mondlicht gesehn, und ich hatte den Montblanc gesehn in ewiger Eisespracht; und wenn ich die einen sah, gedachte ich des andern; und wenn ich den anderen anstaunte, erinnerte ich mich der einen. Ich hatte auf den Weiden des Fleisches von Menschen gegrast und hatte bucklige Höhen der Berge auf Erden erstiegen. Ich liebte den jugendlich-hurtigen Schwung leichter Glieder und ich stellte Vergleiche an zwischen dem farblosen Glanz verhüllter Brüste und Schultern und der sommersprossigen, verbrannten Bräune eines Gesichts, das der Sonne ausgesetzt war. lch beobachtete die Schlacht vom Hügel und ich sah die Schrapnellwolken wie Wattebausche am Himmel, die Pferde hatten im Tal, im Galopp, die Geschütze im Feuerschlag, mit roten Flämmchen vor den Rohren. Ich duckte mich hinter die Traverse, als das Trommelfeuer mir mit Donner und Blitz Ohren und Herz, Leib und Seele erschütterte. Ich sah –

      lch sah Miß Jane Smith mir entgegenkommen. Was ist all die Vergangenheit, wenn immer und immer wieder die Stunde der Entscheidung schlägt, da wir antreffen, worauf wir gewartet haben – wenn die lange Pause der toten Stunden, Tage, Jahre zur Schaubühne wird für die Gegenwart mit ihren Unternehmungen, mit Leiden, Freuden, Genüssen, Ritualen, mit Leben und Lust? Was ist sie dann, diese Vergangenheit, als ein leeres Nichts, leichter als eine Feder, da doch nur der Augenblick gilt, wie er anhebt und anfängt und ankommt und nicht müde wird zu kommen, zu kommen und wieder zu verschwinden – dieser Traum, dieser liebliche Traum eines Daseins, zu sehen, zu greifen, zu halten, zu liebkosen, zu verlieren, süße Jane –

      Jane trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Pelz, der vorne offen war, einen schwarzen Hut mit einem zierlich breiten Rand. Sie lächelte. Sie lächelt immer, wenn sie zu spät kommt. Ihre Lippen waren fast blau geschminkt. Über ihren Lidern lag bläuliche Farbe; ihre langen, blendenden Wimpern waren schwarz und schön. Sie bewegte sich leicht, frei, kräftig. Ihr Mund ist reizend; man sagt zwar, es sei ein scharfer Mund, und einige verleumden auch ihre Nase und behaupten, es sei eine lange, gebogene Adlernase. Ich behaupte, ihre Lippen tun nach Belieben – dieser Mund ist oft bitter, doch dann blüht er plötzlich auf, die Unterlippe wird zu einer Blume der Sinnlichkeit und zwischen Unterlippe und Oberlippe blitzen die Zähne.

      Doch wie veränderlich sind ihre Augen! Sie sind grün, meergrün, blaugrün; sie sind blau, himmelblau, azur; sie richten sich nach den Stunden des Tages und der Nacht, nach ihrer Stimmung und Laune, sie glitzern und glühen, sind spitze Pfeile und irre Kerzen; sind müde Blüten und sanfte Sorgen.

      Ihre Haare sind honigfarben, reich und gewellt. Sie trägt Ohrringe. Sie trägt eine Perlenschnur um den Hals. Sie trägt ein Armband, nicht teuer, nicht zu billig: weinfarbene Steine, goldgefaßt. Sie trägt auch einen Ring.

      Ihre Hände sind versehrt, eine Hand zum mindesten, ich weiß nie, welche es ist. Ich glaube, es ist die linke Hand. Es sieht so aus, als habe sie dort irgendwer oder irgend etwas verwundet: diese Hand trägt Narben.

      Sie hat einen schönen, langen, makellosen Hals. Wie gut die Perlen zu ihrem Hals und ihrem schwarzen Kleid passen! Ihr Brustkorb ist seltsam anmutig geformt; der Busen ist tief angesetzt, ein harter Mädchenbusen mit einem welligen sanften Tal dazwischen.

      Sie ist keineswegs breitschultrig. Sie ist weder groß noch klein. Ihre Schenkel sind lang, ihre Beine vollkommen. Sie hat ein paar Haare auf den Beinen, weil sie das so mag, und irgendwer andrer hat das so gern und da habe ich es eben auch nicht ungern. Im Sommer hat sie Sommersprossen. Sie hat eine hohe Stirn. Sie sieht klug und anziehend aus; bestrickend und böse; launenhaft, mädchenhaft.


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