Perlen und schwarze Tränen. Hans Flesch-Brunningen

Perlen und schwarze Tränen - Hans Flesch-Brunningen


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Er sammelte ein Heer im Stall und marschierte mit ihm ins Schlafzimmer des Schloßherrn. Im Schlafzimmer standen keine Betten; es gab also keine Möglichkeit, strategische Stützpunkte zu besetzen. Die Armee rückte in das Badezimmer ab und der Arbeiter befahl seinen Traumsoldaten, ihre Stiefel und Uniformen abzulegen und ins Wasser zu springen. »Sachschaden: Null. Verluste: Null«, sagte der Arbeiter. »Ein schöner Krieg. Besser ein Marschall an einem Hof als bei einem Heer.«

      Dann öffnete er die Türe zur Tenne, wo er mehrere hochgestellte Zivilisten vorfand. In den vier Ecken des Raumes saßen junge Burschen an Schreibmaschinen. Die gesetzteren Mitglieder der Gesellschaft flüsterten ihm zu: »Psst – wir sind gerade dabei, die Entscheidung zu treffen.« »Entscheidung – worüber?« fragte Sweeney, der Arbeitsmann, und richtete sich auf den Hinterpfoten auf. »Marschall bin hier ich – Entscheidung, wer daran Schuld trägt.«

      »Ich – ich kann Ihnen das sagen!« schrie ich. »Ich – Johnny Truck auch Hans Flesch genannt. Ich kann Ihnen sagen, wer daran schuld ist und mich hier so lange warten läßt.« Meine Wangen waren purpurrot, meine Stirne glühte, und ich schwenkte die Zeitung vor Sweeneys Gesicht. Ich war sehr aufgeregt. »Schau auf die Uhr! Fast eine Stunde zu spät! Nachrichten in Schlagzeilen! Daß ich nicht lach’! Sie sind verantwortlich!«

      »Wer sind sie?« fragte der Mann, und an seiner Seite stand die Frau. Sie wenigstens war nicht zu spät gekommen.

      »Sie sind wir. Wir selbst. Wir sind verantwortlich.«

      »Nicht ganz«, sagte der Portier des Lokals. »Wollen der Herr vielleicht mit mir kommen, bitte?! Der Mann in der Herrentoilette hat Ihnen etwas zu bestellen.«

      »Oh«, sagte ich. »Ich habe ganz vergessen.«

      Ich ging in die Herrentoilette. Ich hatte die Vorstellung, daß Jane nicht komme, weil meine Schuhe so schmutzig waren.

       Hinrichtung

      Ich habe vorher gesagt, daß der Diener in der Herrentoilette ein Neger war, doch seine Haut war nicht ausgesprochen schwarz. Die Farbe war eher gelblich, an den Wangen dunkler und um Augen und Mund lichter. Er beugte sich mit großer Würde nieder und begann, meine Schuhe zu bearbeiten. Er war nicht gesprächig, und ich fühlte mich vereinsamt. Ich sagte etwas über den schrecklichen Nebel, doch der Mann bürstete drauflos, in unbeirrbarer Berufsmäßigkeit. Plötzlich bemerkte ich, daß auf dem Oberleder meiner Schuhe weiße Flecken und Punkte erschienen. Buchstaben formten sich, und bald konnte ich zwischen Schuhspitzen und Absätzen in winzigstem Druck Schlagworte wahrnehmen. Ich las: »GATTE LIEGT OST, GATTIN LIEGT WEST«; und: »EIN ALTER KLASSIKER«; und: »MR. BROWN, FAKTOTUM DES LEDIGEN BISCHOFS«; und: »HOAMG’FUNDA!« – eine Inschrift, die mir besonders widerlich erschien, ich mußte mich vor Scham und Schmerz nahezu erbrechen. Wir waren völlig allein in der Herrentoilette, ich fragte also den Mann sofort, was das zu bedeuten habe; ob er sich nicht darauf verstehe, richtig Schuhe zu putzen oder ob das ein Reklametrick sein sollte für dies oder jenes. Er gab keine Antwort und arbeitete weiter.

      Ich zwang mich, nicht hinunterzusehen, und blickte mich um. Ich lauschte auf die langsam fließenden Bäche, die die Marmorplatten hinabströmten, eine Zeitlang in regelmäßiger Spärlichkeit, dann auf einmal in stärkerem Strom, wie ein Wasserfall brausend und zischend, als müsse das Wasser in einem einzigen Schwung den aufgespeicherten Schmutz der Jahrhunderte wegspülen. Ein zweiter Kunde trat ein; und hinter einem Vorhang trat ein zweiter Schuhputzer in Erscheinung, ein Mann von weißer Hautfarbe, der teuflisch grinste und sich an das zweite Paar Schuhe machte.

      Ich warf einen verstohlenen Blick hinüber und bemerkte dort dieselbe Erscheinung. Dort konnte ich lesen: »FRONT VORSPRUNG WIRD ABGESCHRIEBEN« und: »FRAU DES DOPPELMORDES ANGEKLAGT« und: »ICH SAH JUNGE BURSCHEN IN EINEM NETZ« und: »TAUBSTUMME FUSSBALLMANNSCHAFTEN«. Ich fühlte mich erblassen, mit einem Schwarzen konnte ich es in der Hautfarbe bestimmt nicht aufnehmen. Ich mußte weiß sein wie Elfenbein, fast so weiß wie die Marmorfliesen des Pissoirs. Der Schwarze war mit der Arbeit fertig. Ich deutete auf meine Schuhe, die ihre Schlagworte deutlicher zeigten denn je. »Was soll das heißen?« fragte ich recht verärgert. »Schluß mit diesen Dummheiten! Für Eure billige Reklame zahle ich nichts.«

      Der Neger kümmerte sich nicht um meine Worte. Er bürstete jetzt meinen Überrock ab, mit graziösen Gebärden, fast zärtlich. Er fuhr mit der Bürste über meine Ärmel und dann über meine Brust. Ich las: »WEIBLICHE GANGSTER IN PICCADILLY« und: »DU MUSST LERNEN ZU HASSEN« – das war über meinem Herzen eingeschrieben und auf meinem rechten Ärmel: »KÖNIGLICHE KRAWATTENNADEL VERLOREN« und auf meinem linken: »SPIELZEUGRAUB AN KLEINKIND«.

      Ich wandte mich dem andern Kunden zu, der mit dem zweiten Diener ein lebhaftes Gespräch angeknüpft hatte; sie sprachen über Pferderennen. An seine Brust war geschrieben: »SCHULARBEITEN VERLESEN IN BEWEISVERFAHREN«; sein Rücken wies die Inschrift: »PROBLEM DER WOCHE!« mit einem großen Ausrufungszeichen dahinter. Weiß Gott, welche Mahnworte in meinem Rücken eingegraben waren.

      »Aber das ist doch einfach Blödsinn«, rief ich und zeigte auf meine Schuhe. »Können Sie denn nicht lesen? Bezahlt man Sie dafür?« Der Schwarze zuckte mit den Achseln. Er sagte: »Es ist die Wahrheit. Es steht in der Zeitung. Wir sind von Zeitungen eingewickelt.« Mein Negerdiener streckte die Hand hin, ganz wie ein alter Bettler, der alte Ansprüche hat. Ich mußte ihm was geben. Ich fischte aus der Tasche einen Schilling, doch der alte Neger schüttelte den Kopf. »Geben Sie mehr und ich zeige Ihnen auch mehr«, sagte er. Ich war wütend, mußte aber seine Würde bewundern. Als ich ihm dann eine halbe Krone gab, schien er endlich zufrieden zu sein. »Sehen Sie mal zu, was jetzt passiert!« sagte der andre Kunde. »Ich habe meinem Mann nur zwei Schillinge gegeben. Der ist dabei wenigstens ein Christenmensch.« Ich war schwindlig, als sei ich auf einem Ringelspiel gefahren. Die Marmorplatten traten in den Hintergrund zurück. Das Wasser fiel in einem gewaltigen Sturz nieder und hörte dann plötzlich auf zu fließen. Meine Augen öffneten sich, und mein Mund schrie: »Ich weiß! Oh, ich weiß! Es ist ihre Schuld! Die Journalisten!«

      Vor der wässerigen Fläche, in verschiedenen Stellungen und Gestalten, erschienen die Journalisten. Sie waren aneinandergekettet und schoben Arme und Beine in ruckartigen Bewegungen hin und her. Sie brüllten und schrien mit hohen Stimmen, und mit ihren Händen schienen sie unsichtbare Worte in die Luft zu schreiben. Dort stand ein alter Mann mit einem langen, grauen Bart, der ihm die halbe Brust bedeckte. Dieser da sah bleich drein; ein andrer war frech und fesch; jener wieder hatte einen kecken Schnurrbart. Auch eine junge Frau stand mitten unter ihnen, ein kleines Reptil mit einer schlanken Figur und abgebissenen Fingernägeln. Überhaupt hatten alle was an ihren Fingernägeln in Unordnung. Es waren unnatürliche Nägel, im ganzen zu kurz, schmutzig und mit Tintenflecken bis zum zweiten Fingerglied hinauf. Sie wanden sich alle, als fühlten sie Schmerz, doch aus ihrem Geschrei konnte ich einen Ton höllischen, triumphierenden Gelächters heraushören.

      Als ich auf sie zu schießen begann, brachte auch mein Kollege eine Maschinenpistole zum Vorschein und untermalte die Salven meines Maschinengewehrs mit den härteren Tönen der kleineren Waffe. Ich lief ihre Reihe ab, von rechts nach links; und dann kehrte ich mich um und nahm sie von links nach rechts unter Feuer. Zuerst schienen sie unverwundbar zu sein; sie setzten einfach ihre frühere Tätigkeit fort, wobei sie bloß ein wenig lauter schrien und noch herausfordernder lachten. Mein Zorn wuchs, und ich versuchte, sie zu überschreien. Mein Kollege grinste und tat seine scheußliche Arbeit.

      Denn scheußlich wurde sie. Als ich ihre Reihe zum drittenmal abgelaufen hatte, schien ich endlich Blut zu ziehen. Als erster fiel der junge Mann mit dem bleichen Gesicht – er konnte wegen seiner Ketten den Boden nicht berühren, so hing er also da, schwebend zwischen den Gestänken in der jauchigen Luft. Und als dann der Greis mit dem grauen Bart zum fünftenmal getroffen wurde, da mußte auch er aufgeben; er platzte mit einem Lachen heraus und ließ den Kopf in den Tod fallen.

      Damit hatte es noch nicht sein Bewenden. Zwischen den Beinen der Sterbenden kamen andere zum Leben. Sie sahen aus wie Zwerge, doch nicht verkrüppelt oder unnatürlich; eher wie Liliputaner. Meistens waren es Frauen, alte und grauhaarige Frauen, aber auch junge und frische, mit Kindern dazwischen, die noch winziger


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