Es ist Sarah. Pauline Delabroy-Allard

Es ist Sarah - Pauline Delabroy-Allard


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Geplapper, und man kann fast hören, wie die Knospen aus den Zweigen sprießen, grün, zart, zerbrechlich. Ich schaue zu, wie das Licht die Spitzen der Häuser rosa färbt. Wie viele Male werde ich noch das gewaltige Glück haben, bei all dem zuzuschauen? Einmal? Fünfzehn-, dreiundsechzigmal? Ist es das letzte Mal, frage ich mich, ist es das letzte Mal, dass eine neue Jahreszeit meinen Körper erzittern lässt? Sie schreibt mir in den ersten Tagen des neuen Jahres. Nur ein paar Worte zunächst, auf die ich höflich antworte. Dann mehr und mehr. Sie sagt, dass es schön wäre, wenn wir uns wiedersehen. Sie schlägt vor, ein Konzert in der Philharmonie zu besuchen. Sie schlägt vor, ins Kino, ins Theater zu gehen. Wir sehen uns einmal, zweimal, immer öfter. Der Winter schleicht sich nach und nach davon, auf leisen Sohlen, ohne einen Ton.

      7.

      An einem Märzmorgen schreibt sie mir, dass sie in der Nähe meiner Schule sei, fragt, ob wir zusammen zu Mittag essen wollen. Ich kann nicht. Ich habe keine Zeit, zu viel zu tun, es wäre mir unangenehm, wenn das meine Kollegen mitbekämen. Ich sage zu. Zur vereinbarten Zeit schlüpfe ich hinaus, mit merkwürdiger Freude im Bauch. Draußen ist es schön. Sie wartet an der Metrostation auf mich. Sie redet sofort los, sehr schnell, sehr laut, fuchtelt mit den Armen herum. Sie hat glänzende Augen. Sie läuft auf der Straße, kümmert sich herzlich wenig um die Autos, die sie überfahren könnten. Sie bemerkt sicher nicht, dass ich sie alle fünf Minuten am Ärmel ziehen möchte, weil sie so zerstreut wirkt, dass ich einen Unfall befürchte. Sie ist lebendig.

      8.

      Im koreanischen Restaurant redet sie so viel, dass die Bedienung dreimal wiederkommen muss, um die Bestellung aufzunehmen. Sie ist nie bereit. Sie erzählt mir, dass sie sich nie entscheiden könne, dass das ein Problem sei im Leben. Dass sie alles wolle und das Gegenteil. Sie erzählt, dass sie während der Streiks, die 1995 Frankreich lahmlegten, gelernt habe, in Paris per Anhalter zu fahren. Sie war in dem Jahr fünfzehn. Ich schaue sie an und höre schon nicht mehr zu, ich schaue sie an und frage mich, wie sie mit fünfzehn ausgesehen haben mochte und wie das Leben zu jener Zeit wohl war. Ein paralysiertes Paris, an manchen Tagen verstummt durch das fehlende Gedröhne der Autos in den Straßen, oder zumindest ein bisschen stiller, wie eingerostet. Paris mit einem Frosch im Hals. Und mittendrin die fünfzehnjährige Sarah, bestimmt schon mit den hängenden Augen, bestimmt schon mit ihrem Geigenkasten auf dem Rücken, wie sie im sechzehnten Arrondissement, wo sie aufgewachsen ist, wie eine Seiltänzerin auf dem Bordstein balanciert, den Daumen hochgestreckt, in der Hoffnung, dass sie jemand mitnimmt. In die Schule, ins Konservatorium, zu Freunden zum Proben. Ans Ende der Welt. So stelle ich es mir vor. Mit fünfzehn fuhr Sarah per Anhalter durch das heisere Paris, weil sie wollte, dass man sie ans Ende der Welt mitnahm. So stelle ich es mir vor, und so bleibt es mir im Gedächtnis.

      Später, als sie mich zur Schule zurückbegleitet, oder vielleicht im selben Gespräch, erzählt sie mir, wie sie das erste Mal vor ihrem Vater Bier getrunken hat. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, und ich glaube, dass ihr Vater sie, ihrer Erinnerung zufolge, abholte, nachdem sie eine Woche woanders gewesen war, oder sie zum Zug brachte. Es war auf jeden Fall von einem Bahnhof die Rede. So stelle ich mir die Szene vor. Sarah und ihr Vater, beide auf Metallstühlen in einem Bahnhofslokal. Es ist helllichter Tag, ich erinnere mich, dass sie das erwähnte, als sie mir ihre Erinnerung erzählte. Sie eine junge Frau, ich stelle sie mir schön vor, aber ich weiß es nicht. Er – es ist schwierig zu sagen, wie er aussieht. Vor zwanzig Jahren war er vielleicht noch braunhaarig? Fröhlich? In Gesellschaft seiner jugendlichen Tochter zu Scherzen aufgelegt? Der größte Schatz seines Lebens, sein Augenstern, sein kleiner Liebling. Sie erzählt lachend ihre Erinnerung, ich weiß nicht, warum, aber sie lacht mit Jahren Verspätung, Jahre danach lacht sie schallend über seinen Gesichtsausdruck, als sie ihr erstes Bier bestellte, über den Stolz, den sie empfand, und ihre Selbstsicherheit. Ich stelle mir ihre großspurige Art vor, die unvergessliche Farbe des ersten Bieres, das sie unerschrocken am helllichten Tag bestellt, während sie mit ihrem Vater im Lokal sitzt. Sie teilt mit mir diese Erinnerung und lacht, hört nicht mehr auf zu lachen, lacht so sehr, dass es fast ansteckend ist. Fast zwanzig Jahre danach erzählt sie mir lachend von ihrer Unverfrorenheit.

      9.

      Ich frage sie, was sie unter Latenz versteht. Sie legt den Kopf ein wenig schräg, als ich ihr erkläre, dass dieses Wort wie bei einer Doppelbelichtung über den Bildern meines Lebens liegt, dass es mir nicht aus dem Sinn geht, dass ich nicht genau weiß, warum es mich nicht loslässt.

      Nach kurzem Schweigen: »Das ist die Zeit zwischen zwei bedeutenden Ereignissen.«

      10.

      Die Tage ziehen vorbei. Der Frühling richtet sich ein, ruhig, ohne Eile. Es ist ein Frühling wie jeder andere, ein Frühling, der melancholisch stimmt. Sarah richtet sich in meinem Leben ein, ruhig, ohne Hast. Sie lädt mich ins Theater ein, ins Kino. Sie raucht in meiner Küche, an einem Abend, als ich sie zum Essen einlade. Sie erzählt mir ein Geheimnis. Sie sagt, dass es ein Geheimnis sei, das sie noch nie jemandem verraten habe. Sie bemerkt meine Verwirrung nicht. Sie schenkt mir die letzte Aufnahme ihres Streichquartetts. Eine Platte von Beethoven. Sie weiß nicht, dass ich sie in den darauffolgenden Tagen ununterbrochen höre. Sie weiß nicht, dass ich Fachliteratur über Kammermusik lese. Sie weiß nicht, dass ich alles wissen will, alles verstehen, alles kennen. Sie vermutet zu keinem Zeitpunkt, dass ich mir schreckliche Vorwürfe mache, auf dem Konservatorium keine bessere Schülerin gewesen zu sein.

      Mein Lebensgefährte amüsiert sich über diese plötzliche, unerwartete und ein wenig vorschnelle Freundschaft. Ich verrate ihm nicht, dass ich, sobald ich die Wahl habe, mit ihm oder mit ihr Zeit zu verbringen, sie wähle. Um sie spielen zu hören, gehen er und ich gemeinsam zur Streichquartettbiennale in die Philharmonie. Es ist ein Sonntagnachmittag. Als wir dort eintreffen, ist der Saal voll, es sind keine Plätze mehr frei. Ich streite mich mit dem Mann an der Kasse, mache ihm schöne Augen, bettele, tobe. Mein Lebensgefährte sagt, das ist doch nicht so schlimm, wir können sie ein anderes Mal hören. Er sagt, nun komm aber, lass uns in der Sonne einen Kaffee trinken. Ich weigere mich aufzugeben. Ich heule vor Wut. Er versteht nicht, was mit mir los ist. Schließlich ergattere ich im letzten Moment zwei Plätze. Wir müssen auf Klappstühlen sitzen, weit entfernt von der Bühne. Ich kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, was dort vor sich geht. Zum ersten Mal sehe ich die drei anderen Mitglieder des Quartetts. Als sie alle vier hintereinander auf die Bühne kommen, muss ich fast auflachen, so nervös bin ich. Zum ersten Mal sehe ich sie schön frisiert, elegant, vornehm. Sie trägt ein berückendes rückenfreies Kleid, sehr lang, schwarz. Ein Gruß ans Publikum, dann beginnen sie ihr Spiel. Es verschlägt mir den Atem. Nach dem ersten Satz des ersten Quartetts will ich schon fast applaudieren. Ich kenne die Gepflogenheiten nicht. Ich verstehe nichts. Mein Blick bleibt an der kleinen Gestalt auf der weit entfernten Bühne haften. Die Zugabe verblüfft mich. Ein Satz aus einem Quartett von Bartók, heißt es, ausschließlich als pizzicato gespielt. Ich verstehe nichts von dem, was ich höre. Ich applaudiere wie wild, laut und lange, bis mir die Handflächen schmerzen.

      11.

      Sie fragt mich, was ich an meinem freien Mittwoch ohne meine Tochter mache. Ich gehe ins Kino, allein. Das schreibe ich ihr. Ich teile ihr den Namen des Kinos mit, die Uhrzeit der Vorstellung. Ich ertappe mich dabei zu hoffen, sie möge danach am Ausgang stehen, auf mich warten. Der Film handelt von Liebeleien, die über eine große Liebe hinwegtrösten. Ein Schwarz-Weiß-Film. Die Hauptdarstellerin ist sehr schön. Es erinnert mich an einen Film der Nouvelle Vague. Ich genieße es, allein im Kino zu sein. Ich frage mich, ob sie kommen wird. Der Film ist zu Ende. Ich laufe hastig nach draußen. Keiner da. Es regnet. Ich gehe schnell, mit gesenktem Kopf, schaue zu, wie meine Stiefel ganz von allein über das nasse Pflaster der Rue de la Verrerie eilen. Mein Telefon klingelt. Sie ist es. Sie fragt wo bist du, sie sagt ich bin in der Rue de la Verrerie, ich bin gleich da.

      12.

      Sie wünscht mir Glück, als ich an einem der strahlenden ersten Sonnentage zum Gericht muss.


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