Es ist Sarah. Pauline Delabroy-Allard

Es ist Sarah - Pauline Delabroy-Allard


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      23.

      An den darauffolgenden Tagen denke ich nur an das Geschehene, die Bilder ziehen unter meinen Lidern vorbei, sobald ich die Augen schließe. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages den Körper einer Frau berühren und es mir wahnsinnig gefallen würde, so sehr, dass ich andauernd daran denke, Tag und Nacht. Sie ist immer in meinen Gedanken. Sie verfolgt mich, nackt, hinreißend, ein Gespenst, das meine Adern, mein Geschlecht zum Pochen bringt. Sie ist eine Offenbarung, ein Lichtstrahl, eine Epiphanie.

      24.

      Nicht bei ihr zu sein wird sinnlos nach der ersten Nacht.

      25.

      Sie schreibt mir, viel und oft. Worte hageln in unsere getrennten Leben, den ganzen Tag lang und bis spät in die Nacht. Sie schreibt mir, ich antworte, sie schreibt mir wieder. Sie stellt mir Fragen, ob mir das auch gefallen habe, ob mir das seitdem auch nicht mehr aus dem Sinn gehe. Meine Antwort: Ja, ja. Ja. Das äußere Leben existiert nicht mehr. Das tägliche Leben auch nicht. Es gibt nur noch sie. Sie, ihre Schlangenaugen, ihre Brüste, ihren Arsch.

      Um mich zu sehen, wirft sie ihre Termine über den Haufen, wann immer es geht. Es läuft stets auf die gleiche Weise ab. Sie kommt zu mir, in meine Wohnung. Sie flüstert, wenn ich sie bitte, leiser zu sprechen, weil meine Tochter nebenan schläft. Sie zieht das Abendessen immer ein wenig in die Länge, kostet den süßen Moment aus, erzählt Geschichten. Sie trinkt ein Glas Wein und schaut mir unverwandt in die Augen. Sie raucht eine Zigarette am Fenster. Und dann hält sie es nicht mehr aus, kommt auf mich zu. Sie saugt meinen Duft ein, atmet mich ein. Darum geht es, um den Atem, den Schwefel, den Sturm.

      Sie weiß nicht, dass sich bei ihrem Duft alles in mir zusammenzieht. Sie weiß nicht, dass mich nichts anderes mehr interessiert, nichts und niemand. Sie isst jeden Morgen ein Croissant, trinkt dazu einen Milchkaffee. Sie legt jeden Tag Mascara auf. Sie benutzt mir unbekannte vulgäre Ausdrücke. Ich nehme sie in meinen Wortschatz auf. Sie presst ihre Brüste an meine, sobald wir allein sind, und hält mich fest umklammert, als ob sie wollte, dass wir ein Körper würden. Sie geht mit ihrem Streichquartett auf Tournee. Sie reist nach Brüssel, nach Budapest. Sie schreibt mir die ganze Zeit. Sie fragt, ob unser häufiges Getrenntsein auch für mich schwer sei. Sie fleht mich an, auf sie zu warten, sie verspricht mir, so schnell wie möglich zurückzukommen. In unserem Sturm ist sie der Kapitän. Ich werde zur Seemannsfrau.

      26.

      Ein glücklicher Zufall im Kalender. Das Quartett spielt in Venedig, als ich dort gerade im Urlaub bin. Ich reise mit einer Freundin, der ich erkläre, dass eine Bekannte, Sarah, auch in Venedig sei, dass es doch nett wäre, sie zu sehen. Wir vereinbaren ein Treffen an der Piazza San Bartolomeo, an einem Aprilnachmittag. Am besagten Tag verlieren meine Freundin und ich uns im Labyrinth der venezianischen Gassen. Ich bekomme Angst, dass wir zu spät kommen. Ich gehe schnell. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich habe merkwürdige Kopfschmerzen, schmerzende Schläfen. Ich treibe meine Freundin an, die staunend durch die Stadt schlendert. Ich habe Sarah seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Im italienischen Licht, so weit weg von meiner Pariser Wohnung, erscheint mir das, was wir seit ein paar Wochen erleben, verschmolzene Münder, aneinandergepresste Körper, fast als ein Ding der Unmöglichkeit. Es scheint auf einmal unmöglich, dass diese Sache wirklich ist. Ich frage mich sogar, ob sie, Sarah, wirklich ist, ob sie nicht meiner Fantasie entsprungen ist.

      Die Piazza San Bartolomeo, manchmal Campo San Bartolo genannt, ist ein Platz gleich in der Nähe des Rialto. Sehr belebt und beliebt, ist er einer der favorisierten Treffpunkte der Venezianer. In der Mitte des Platzes steht eine Bronzestatue von Carlo Goldoni, einem venezianischen Dramatiker des 18. Jahrhunderts, Erschaffer der modernen italienischen Komödie und Autor, unter anderem, von L’incognita, La putta onorata, La dama prudente, La donna stravagante, La donna bizzarra, La donna sola.

      Auf der Piazza San Bartolomeo ist niemand zu sehen. Nun ja, doch, Hunderte von Leuten, eilende Venezianer, Touristen unterschiedlicher Herkunft, Gruppen, Kinder, sicher alle glücklich, hier zu sein, in Venedig, an einem Tag im April. Aber niemand. Ich prüfe jedes Gesicht, ich finde sie nicht, ich habe es gewusst, ich habe sie erfunden, ich habe alles nur erfunden, das ist nicht wirklich, nichts davon, das ist nicht wirklich, all das, ihr Arsch, ihre Brüste, ihre Schlangenaugen.

      Ich weiß nichts davon, aber sie ist zu früh am Treffpunkt, auch sie sucht mich, durchkämmt die Menge, schaut in jeden Winkel zwischen den rosafarbenen Fassaden, ihr ist zu warm in der Aprilsonne, sie hat Angst, mich erfunden zu haben, dass all das nicht wirklich ist, sie wartet, hat Bauchschmerzen. Sie sieht mich, sie durchbohrt mich mit ihrem Blick, nichts existiert mehr, nur noch unsere Blicke, die sich begegnen, auf der Piazza San Bartolomeo, unsere Körper, die sich aufeinander zubewegen wie durch eine dunkle magnetische Kraft, als wären wir verhext.

      Sie gibt mir unauffällig ein Zeichen, ein Augenzwinkern, als meine Freundin einen Augenblick lang abgelenkt ist, dann steht sie auf, um zur Toilette zu gehen. Ich erhebe mich ebenfalls, gebe vor, dringend jemanden anrufen zu müssen, lasse meine Freundin, die in den Reiseführer vertieft ist, allein zurück. Sie erwartet mich, an das Waschbecken gelehnt. Ihre Lippen schmecken nach Campari, ihre Zunge nach grünen Oliven. Sie verschlingt mich. Sie murmelt endlich, endlich, endlich, endlich, endlich.

      Als wir zurückkommen, kichernd und mit roten Wangen, sagt meine Freundin: »Das hat aber gedauert!«

      27.

      Vor ihrem Abflug hat sie eine Schnitzeljagd in Venedig organisiert. Sie hat mir Nachrichten mit Hinweisen hinterlassen, Scharaden, Rätsel, die ich lösen muss. Ich finde kleine Geschenke, die sie hier und da verteilt hat. In einer Konditorei nenne ich wie angewiesen meinen Namen. Sobald ich ihn ausspreche, serviert man mir einen frisch gepressten Orangensaft und Gebäck mit Marmelade, dazu einen Brief. Es ist Frühling, das Licht ist grausam schön, die Sonne plätschert in den Kanälen, die Stadt berauscht mich. Sie liebt mich, dort steht es schwarz auf weiß. Sie liebt mich.

      28.

      Sie wird bald fünfunddreißig. Sie ist fröhlich, unwiderstehlich lustig. Sie ist enthusiastisch, exaltiert, theatralisch. Alles versetzt sie in Staunen, weckt ihr Interesse. Sie lernt gerne etwas dazu. Sie ist zierlich, trägt Kleidung in Größe 36. Manchmal Größe 34. Sie vergeht vor Lust bei echtem spanischen Schinken. Sie mag Wurst ganz allgemein, Fleisch. Sie ist Fleischesserin. Sie spricht Spanisch, kennt Madrid gut, aber hegt eine besondere Liebe für Italien. Das erste Trio von Brahms gehört zu den Dingen, die sie auf der Welt am liebsten hat. Sie hat keine Geduld, für nichts. Sie will alles, und zwar sofort.

      29.

      Mit ihrem Streichquartett fährt sie auf Tournee durch ganz Europa. Sie schreibt mir aus Ungarn, aus Belgien, aus den Niederlanden, aus Spanien, aus Portugal, aus Italien, aus der Schweiz. Zwischen den Reisen hat sie ein paar Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden frei, um nach Hause zu fahren, um auszupacken, einzupacken, die Noten auszutauschen, zu schauen, ob in ihrer Wohnung alles in Ordnung ist. Sie stopft alles in den Koffer, kommt lieber zu mir. Sie sagt, dass es nicht so schlimm sei, wenn sie zwischen zwei Flügen nicht nach Hause komme, dass sie, um saubere Kleidung zu haben, in der nächsten Stadt neue Sachen kaufen werde. Sie kommt zu jeder Tages- und Nachtzeit, legt ihre dunkelblaue Lederjacke ab, zieht sich aus, wirft sich augenblicklich auf mein Bett, fällt über mich her. Am nächsten Morgen trinkt sie einen Milchkaffee, verschlingt ein Croissant. Sie überprüft ihre Abfahrtszeit, ihre Abflugzeit. Sie zieht sich an. Sie streift die Lederjacke über. Wenn sie geht, ihren Geigenkasten auf dem Rücken, den Koffer in der Hand, umarmt sie mich, vergräbt ihre Nase in meiner Halsbeuge. Sie weint jedes Mal. Zuerst ganz leise, dann immer stärker. Sie krallt sich an mir fest, sie schnieft, sie schluchzt. Ihre Wangen sind mit Mascara beschmiert, ihr ganzes Gesicht mit Rotz. Sie sagt, dass sie dieses Leben nicht mehr führen wolle, dass es keinen Sinn habe, dass sie dableiben wolle, ins Kino gehen, mit mir zu Abend essen,


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