Parallel. Win Köller

Parallel - Win Köller


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sagte. Ich hatte es verstanden, aber da waren eine Menge offener Fragen. Also fragte ich: „Was ist mit Verbrechern? Was ist mit gesellschaftlicher Ordnung? Was ist mit Leistung, wird diese belohnt?“

      Christian dachte nicht lange nach, bevor er antwortete: „Das ist schwierig zu erklären, wir sammeln nur noch Karmapunkte, um es einfach auszudrücken. Dieses Punktesystem bewertet nach allgemeingültigen ethischen Regeln die Taten jedes Menschen, die über ein in die Haut transplantiertes biomechanisches Erfassungssystem aufgezeichnet, verarbeitet und unmittelbar bewertet werden.“

      „Also lebst du in einer trotzdem kontrollierten Welt?“, entgegnete ich.

      „Kontrolliert schon, aber dieses System ist besser als das monetäre System. Als es noch Geld gab, gab es auch mehr Verbrechen.“

      Ich brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, es klang wie eine Utopie, wie ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte die bestehenden Regelungen nie hinterfragt, ich hatte sie für die besten gehalten, aber mir war nie in den Sinn gekommen, dass alles auch ganz anders sein kann.

      „Das klingt interessant“, sagte Dominic, „Aber sehnst du dich nicht manchmal nach durch Geld belohnten Erfolg?“

      „Doch, manchmal interessiert es mich schon, ich würde gern eine Zeit lang in einer durch Geld geprägten Welt leben. Einfach nur, um zu sehen, wie es ist.“

      „Lass uns tauschen!“, schlug Dominic vor.

      „Ich denke mal darüber nach“, sagte Christian.

      „Wie funktioniert das mit dem biomechanischen Erfassungssystem?“, wollte ich wissen.

      „Ganz einfach“, sagte Christian, „du kriegst so einen Chip.“ Mit diesen Worten holte er einen grünen Chip aus der Innentasche seines Jacketts, der nicht größer als vier Zentimeter war, und gab ihn mir.

      In dem Moment wurde meine Sicht verschwommen, ich fühlte mich seltsam, ein vertrautes

      Geräusch drang an mein Ohr: Der Weckruf meines Handys. Christian und Dominic verschwanden in einem Strudel, und als ich die Augen öffnete, sah ich an die Zimmerdecke. Ich war aufgewacht und spürte einen Gegenstand in meiner Hand. Ich öffnete die Handfläche und sah den Chip.

Kapitel 2

      Der Tag verging weitgehend ereignislos. Ich war gedanklich abgelenkt durch den Traum von letzter Nacht und befand mich in einer Art Wachkoma, ich war körperlich anwesend bei allem, was ich tat, aber geistig nicht präsent. Ich wusste, ich musste mich auf andere Gedanken bringen, daher ging ich zum Kickboxen, wobei ich prompt einen Haken von meinem Trainer kassierte. Immer wenn ich denke, es kann eigentlich nicht mehr schlimmer werden, bekomme ich auf die Fresse. Das ist Teil meines Lebens, aber ich lerne, immer wieder aufzustehen. Ich ging in einem T-Shirt, das vom Schweiß durchnässt war, nach Hause und schnorrte mir unterwegs einen Zug von dem Joint einer Frau, die gerade mit dem Flixbus von Hamburg nach Berlin gefahren war, um 'einen Freund' zu besuchen. Wir tauschten Nummern aus, ich sagte: „Falls ich mal in Hamburg sein sollte“, ohne zu wissen, wann und ob überhaupt es der Fall sein sollte, dass ich mal dorthin fahren würde, womöglich, um auf dem Kiez feiern zu gehen. Das habe ich schon gemacht, abgehakt, außerdem war ich erst vor Kurzem in Hamburg. Ich dachte kurz an meine Zeit in der Hansestadt, an das Feiern mit einer Jurastudentin. Als ich nach Hause kam, setzte ich mich auf mein Sofa, hörte Musik und war eigentlich nicht mal unglücklich. Aber etwas aus dem Traum letzter Nacht ließ mich nachdenken. Was war mit diesem Chip? Und war mein Leben wirklich so schlecht im Vergleich mit den anderen Versionen von mir, die mir im Traum erschienen sind? Hatte ich eine Psychose, oder existierte dieser Chip wirklich? Und wie funktionierte er? Wohin hatte ich ihn gelegt? Ich suchte und fand ihn neben dem Bett. Ich ließ mich auf den Rücken fallen, als mein Handy klingelte. „Hallo?“, fragte ich. „Hallo“, antwortete die Stimme des Anrufers. „Du musst den Chip auf den Fingernagel des Daumens halten“, sagte die Stimme, dann legte der Anrufer auf. Das war eine knappe, aber gehaltvolle Information gewesen. Ich tat, was der Anrufer gesagt hatte, legte den Chip auf den Fingernagel meines Daumens und duschte mich kurz, bevor ich in die Kissen fiel. Was würde jetzt passieren?

      Was passierte, war das reinste Chaos. Zunächst war da wieder dieses komische Gefühl, mir war schwindelig und schlecht. Dann begann ich zu träumen. Ich war ein Träumer, das war, was ich war. Das Erste, was ich sah, war Christians Gesicht. Daneben saß Dominic, der mich amüsiert ansah.

      „Du bist unpünktlich, aber schön, dass du da bist“, sagte er, was ich unkommentiert ließ.

      „Du hast den Chip implantiert?“, fragte mich Christian. „Ja“, sagte ich, „was erwartet mich jetzt?“

      Christian dachte kurz nach, dabei sah er aus, als würde er einem Kind die Relativitätstheorie erklären müssen.

      „Du wirst an das Karma-Punktesystem unserer Welt gewöhnt. Das wird dir in der Welt, in der du lebst, aber nicht viel bringen. Jedes Mal, wenn du etwas machst, was im weitesten Sinne eine gute Tat ist, hörst du ein kurzes Piepen, die anderen hören es nicht, nur du, und damit hast du einen Karmapunkt gesammelt. In meiner Welt gibt es für Karmapunkte sehr viel, da du aber in einem monetären System lebst, wird es dir nicht viel bringen.“

      „Es sei denn“, warf Dominic ein, „ihr wechselt euch aus, ihr tauscht die Welten. Das ist etwas, was Christian und ich jetzt machen werden. Wir werden heute Nacht jeder die Welt des anderen betreten und eine Weile das Leben des anderen leben.“ Dabei lächelte er verschmitzt. Mein Hassgefühl auf Dominic kehrte unmittelbar zurück. Er war selbstgefällig. Um ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, fragte ich: „Sag mal, du hast doch eine Freundin, oder? Wenn Christian in deiner Welt ist, darf er mit ihr schlafen?“

      „Das haben wir alles schon besprochen. Das sehe ich ziemlich entspannt. Ich glaube eh, dass sie mir fremdgeht, ich ihr übrigens auch.“ So sah sie also aus, die heile Beziehung in Dominics Musikproduzenten-Welt. Ich ließ auch das unkommentiert. Mir fehlten die Worte. Während ich nicht einmal ein Date mit einer Frau zustande brachte und mein Lebensinhalt das Erstellen sinnloser Statistiken war, ließ er unseren Doppelgänger mit seiner Frau schlafen und sah das Ganze auch noch entspannt. Ich fand das reichlich unverschämt.

      „Ich bin gespannt“, sagte Dominic, der sich sichtlich über den bevorstehenden Tausch freute. „Ich auch“, sagte Christian, „eine Welt, in der Geld etwas wert ist, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Umso interessanter, mal da zu sein. Eine Zeit lang keine Karmapunkte zu sammeln, das ist für mich wie Urlaub.“

      „Wie tauscht ihr überhaupt? Wie funktioniert das?“

      „Dreh mal deinen Kopf herum und schau hinter dich. Da ist ein Weg, den du gekommen bist, der dich zurück in dein Leben führt. Wir haben alle drei einen eigenen Weg, der uns hierher führt. Und wenn wir tauschen wollen, gehen wir einfach den Weg des anderen.“ Ich sah zurück. Ich sah den Weg, den ich gekommen war. Er sah aus wie eine staubige Landstraße ohne Asphalt, brauner Sand bedeckte ihn, darauf sah ich meine Fußspuren, aber sie waren nicht die einzigen. Auch so etwas wie Reifenspuren oder Spuren wie von einer Kutsche waren dort zu sehen. Der Weg muss mehrmals begangen worden sein, es fanden sich Büschel von niedergetretenem Gras, und über dem Weg hingen Bäume herab, die Schatten auf ihn warfen, aber das Licht war kein helles Tageslicht, eher das Licht, was bei einer Mondfinsternis entsteht, eines, das unwirklich wirkt. Um den Weg herum lagen faule Früchte, die von den Bäumen gefallen waren. Ich wusste sofort, dass diese meine ungenutzten Chancen repräsentierten. Ich fragte mich, was die Reifenspuren zu bedeuten hatten. Der Weg war, ebenso wie dieser Ort, irgendwie jenseits der Zeit, also könnten die Spuren auch etwas symbolisieren, was zu dem Zeitpunkt meines Lebens, an dem ich mich befand, noch gar nicht stattgefunden hatte. Angst vor Autos und anderen Verkehrsmitteln hatte ich immer schon, das war nichts Neues. Wenn das der Weg in mein Leben war, war es auch der Weg zurück, den ich gehen würde, wenn ich sterbe. Vielleicht würde ich bei einem Autounfall sterben. Der Gedanke schien absurd, aber logisch. Es war ein klarer Gedanke, der mich erschauern ließ. Ich wusste nicht, ob ich das, was ich dort sah, auch wirklich sehen wollte. Die verpassten Chancen, die niedergetretenen Grasbüschel und die Reifenspuren. Ich drehte meinen Kopf langsam zurück und sah die beiden an.


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