Parallel. Win Köller
gehe shoppen“, sagte sie, nahm sich aus einem Korb von dem Glastisch eine Rolle Fünfzig-Euro-Scheine, lächelte mich an und verabschiedete sich.
Ich schlenderte durch meine Wohnung. Hinter dem Wohnzimmer entdeckte ich das geräumige Studio, liebevoll eingerichtet, einen großen Aufnahmeraum mit Mikrofonen, einem Schlagzeug, verschiedenen E- und Bassgitarren sowie einen Raum mit einem Mischpult. Ich schaltete den Computer an und suchte die letzten Aufnahmen. Die letzte Spur war gestern Nachmittag aufgenommen und abgespeichert worden, unter dem Namen MC Priority feat. Ms. Butterfly. Ich klickte auf Play und hörte ein paar Takte lang einen guten Hip-Hop-Beat. So etwas war ich in der Lage zu produzieren, dachte ich stolz, bis die Stimme eines Rappers erklang. Er rappte in einem abwechslungsarmen Flow darüber, dass er reich sei, alle bitches klarmachte und Kokain konsumierte. Ich mochte Hip-Hop, aber ich hielt das hier für Müll, sowohl technisch als auch textlich. Ich konnte zwar selbst nicht rappen, aber es wunderte mich schon etwas, was ich da produzierte. Der Chorus dagegen war wieder ziemlich gelungen, eine Frauenstimme sang eine eingängige Melodie mit Ohrwurmcharakter. Das war vermutlich die Stimme von Ms. Butterfly. Ich fand den Track gut, aber den Text nicht. Als ich auf den nächsten Track klicken wollte, klingelte es an der Tür. Ich ging einen weiten Korridor entlang und sah am Ende eine schwere Eichentür, neben der sich ein Monitor befand. Ich sah durch die Kamera einen schmächtigen jungen Mann, der aussah, als sei er gerade achtzehn geworden. Ich drückte den Türöffner, und vor mir stand MC Priority.
„Ey, yo, Domic! Long time no see… Seit gestern zumindest, ha,ha!” Ich vermutete, wir hatten uns verabredet, um die Aufnahmen von gestern noch einmal zu überarbeiten.
„Komm rein“, sagte ich, und wir gingen den Korridor zurück ins Studio.
MC Priority machte an der Stelle weiter, an der er aufgehört hatte. Er reimte coke auf dope, ich schlug ihm vor, das zu ändern, und er reimte dopehead auf Moped. Ich war mir sicher, diesen Reim schon mal irgendwo gehört zu haben, aber wenigstens reimte es sich, und ich kümmerte mich erst einmal nicht mehr um seine Lyrics, sondern drehte verlegen an den Knöpfen des Mischpults etwas herum, obwohl der Sound perfekt war. Er rappte weiter darüber, dass er Louis-Vuitton Taschen trug und ich sagte ihm, dass sei eigentlich eher was für die „bitches“. Priority schlug vor, die Zeile zu ändern, betonte aber, es sei eine gute Idee, darüber zu rappen, dass er Pistolen trage. Da er das in der ersten Strophe schon gemacht hatte, fand ich, es sei über Waffen schon etwas gesagt, und wir beschlossen, die Louis-Vuitton-Zeile doch im Track zu behalten. So verging etwa eine Stunde, in der Priority abwechselnd auf sein Handy und auf sein Textblatt sah, rappte, zufrieden oder unzufrieden mit dem Ergebnis war und wieder rappte: „ I am MC Priority, got the bitches on their knees, rock your body under palmtrees and pay no fees. I pay you back, motherfucker, (hier rappte er etwas, was ich nicht verstand), and all you fags carrying Louis-Vuitton bags. “
Ich fand das nicht einmal schlecht. Unter meinem Einfluss war sein Text sogar etwas besser geworden, nur brauchte er eine halbe Ewigkeit, um den Text einzurappen. Wir beschlossen, eine Pause zu machen, denn MC Priority wollte Gras rauchen. Wir gingen vor die Tür. Dort wurde mir schlagartig klar, dass ich in Amerika war. Am Straßenrand standen Palmen, und ein Dodge parkte in der Einfahrt. MC Priority hatte seinen Ferrari auf der anderen Straßenseite geparkt, beide Autos hatten Nummernschilder, auf denen California stand. Es war ein sonniger Tag in einem ruhigen Stadtteil von Los Angeles, Kalifornien.
Ich zog einmal an der Tüte, die MC Priority rauchte, mir wurde schwindelig, und Priority erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, um anschließend vom gestrigen Abend zu erzählen, den er am Sunset Strip mit seiner Crew verbracht hatte. Während ich mit ihm Smalltalk machte, wurde mir klar, warum dieser junge Mann einen Plattenvertrag hatte. Er war nicht besonders talentiert, aber passte perfekt in die Vermarktungsstrategie einer Plattenfirma. Er würde mit der nötigen Promotion als Newcomer in die Charts einsteigen. MC Priority war sich nicht bewusst darüber, wie sehr er in der Hand von Plattenfirmen und Produzenten wie mir war, was ihn in meinen Augen etwas bemitleidenswert machte. Trotzdem war er mir sympathisch, er hatte eine positive Ausstrahlung. Er war in Deutschland geboren, nahm in Kalifornien seine Musik auf, laut eigener Aussage mochten sie hier den German MC. Er liebte seine Arbeit, das war ein großer Vorteil, und auch ich mochte meinen neuen Job, was ich von meinem alten Statistikerdasein nicht behaupten konnte. Ich hatte getauscht, es war gut, und ich atmete tief durch. Ich hatte einen Traumjob, im wahrsten Sinne des Wortes.
Als wir den Track gemixt hatten, verabschiedete sich MC Priority: „See ya tomorrow!“
Ich ging ins Haus und suchte nach einer Art Terminkalender, der mir darüber Aufschluss gab, was ich mir heute noch vorgenommen hatte. Auf einem Memo-Zettel, der an die Kühlschranktür geklebt war, stand: 16 Uhr, Dr. Keyconer. Im Internet fand ich seine Adresse. Ich nahm die Autoschlüssel, setzte mich in den Dodge und gab die Straße ins Navigationsgerät ein. Ich fühlte mich nicht krank, warum sollte ich zu einem Doktor gehen?
Wie sich herausstellte, war Doktor Keyconer kein Arzt für körperliche Beschwerden, er war ein Psychotherapeut, mein Psychotherapeut, und als ich in seinem Wartezimmer saß, fragte ich mich, warum ein Musikproduzent einen Therapeuten brauchte. War ich Kleptomane? Drogen- oder sexsüchtig? Nichts in meiner Umgebung ließ darauf schließen. Ich hatte jede Menge Geld, vielleicht konnte ich nicht damit umgehen. Schließlich rief mich Dr. Keyconer in sein Sprechzimmer. Wir begrüßten uns kurz, und ich setzte mich ihm gegenüber auf einen Stuhl.
„Ich schlage vor, wir machen dort weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben“, sagteKeyconer. „Das Verhältnis zu Ihrem Vater beschrieben Sie als schwierig. Er ist immer sehr fordernd aufgetreten, und nach der Trennung Ihrer Eltern blieben Sie bei Ihrer Mutter. Ihren Vater sahen Sie alle vierzehn Tage am Wochenende.“
„Ja, das ist richtig“, antwortete ich, und es stimmte tatsächlich, Dominic schien gar kein so anderes Leben als ich gelebt zu haben. Eigentlich war alles, was Dr. Keyconer sagte, für mein eigenes Leben zutreffend. „Sie haben die Trennung von Ihrer ersten Freundin als eine Kränkung erlebt und sind in Liebesdingen verletzt worden.“ Auch das stimmte, und auch das bejahte ich. Das war nichts Besonderes, jeder Mensch wird emotional verletzt, ich hatte schon ein paar Mal diese Erfahrung gemacht.
„Sie erwähnten einen Jungen namens Kurt, mit dem Sie Musik machten und erste Auftritte hatten, er war Schlagzeuger“, sagte Dr.Keyconer, und ich muss ihn in diesem Augenblick ungläubig angesehen haben, denn er fügte hinzu: „Das haben Sie doch gesagt, oder irre ich mich?“ Ich fing mich wieder und antwortete reflexartig: „Ja, ja, stimmt schon. Das habe ich gesagt.“
Die Tatsache, dass es auch in Dominics Leben einen Kurt gab, dass sich unsere Leben so sehr ähnelten, fand ich merkwürdig.
„Mit diesem Kurt haben Sie Ihre erste Musik aufgenommen, sich aber später von ihm abgewandt. Er starb an einer Überdosis Heroin, und Sie geben sich die Schuld dafür.“
Das war zu viel. Das war also der Grund für diese Psychotherapie. Kurt war tot? Kurt war tot, und ich gab mir die Schuld dafür. Zuerst hatte ich geglaubt, die Geschichte meines eigenen Lebens zu hören, bis zu dem Punkt, an dem von Auftritten und Aufnahmen die Rede war. Das war in meinem Leben nie passiert, das hier war Dominics Leben. Hier war Kurt tot, in meinem wirklichen Leben nicht. Hier war ich erfolgreich, gab mir aber die Schuld an seinem Tod. In meinem Leben als Vincent war ich so etwas wie ein Versager, aber Kurt lebte, wir tranken ab und zu ein Bier. Vielleicht war das der entscheidende Unterschied zwischen meinem und Dominics Leben. Hier hatte das Konzert stattgefunden, ich hatte eine Karriere als Musiker begonnen. In meinem anderen Leben hatte ich die Karriere nicht begonnen und war nach einiger Zeit der Orientierungslosigkeit bei meinen Statistiken gelandet. Sollte der Grundstein meines Erfolges an diesem einen Abend gelegt worden sein? Mit dem Konzert, das in Dominics Leben tatsächlich stattfand? Befand ich mich als Vincent, der Statistiken erstellte, in einer Art alternativen Realität, die dadurch entstanden war, dass das Konzert nicht stattfand? Das waren viele wichtige Fragen, die es zu beantworten galt.
Aber zunächst fragte Dr. Keyconer: „Welche Rollen spielen Drogen eigentlich in Ihrem Leben?“
„Gar keine“, antwortete ich, allerdings fiel mir in dem Moment ein, dass