Parallel. Win Köller

Parallel - Win Köller


Скачать книгу
Weg, ob er dir gefällt oder nicht.“

      Ich entschied mich dagegen, Christian und Dominic über die Schultern zu schauen, um zu sehen, wie ihr Weg aussah. Das hier würde nicht das letzte Treffen mit den beiden sein, dessen war ich mir sicher.

      Wieder hörte ich das Klingeln des Weckrufs; wieder verschwammen Christian und Dominic, und ich wachte auf. Ich kämpfte mit einer Tasse Kaffee gegen meine Müdigkeit an. Nach der Arbeit erreichte mich eine Nachricht von Jessica, der es laut eigener Aussage 'unglaublich schlecht' ginge, es war ihr alles zu viel, jemand war gestorben, sie verarbeitete es nicht. Da ich ein großes weiches Herz hatte, ließ ich mich überreden, spät am Abend noch bei ihr vorbeizuschauen. Sie hatte einige Schmerztabletten eingeworfen, war betrunken und auch sonst in einem jämmerlichen Zustand, drehte mitten in der Nacht die Musik auf, bis jemand an die Wohnungstür klopfte, um sich zu beschweren. So sah also ihre Trauerarbeit aus. Ich schlug ihr vor, einfach ins Bett zu gehen, in der Hoffnung, dass sie das beruhigen würde, und legte mich auf die Couch. Die Nacht war unruhig, und ich bekam keinen Schlaf, da Jessica im Schlaf redete. Sie sprach mit einer seltsamen Stimme, die irgendwie fremd klang, so, als würde ein Dämon aus ihr sprechen, oder jedenfalls redete mir das meine Phantasie ein. Ich habe Geschichten von Besessenheit immer für Schwachsinn gehalten, aber jetzt auf der Couch fragte ich mich, ob es so etwas wie Besessenheit von Dämonen nicht doch gab. Da ich nicht schlief, gab es auch keine Begegnung mit Christian und Dominic. Gegen sechs Uhr klingelte es an der Tür. Jessica öffnete geistesabwesend die Tür, vor der ein betrunkener Typ stand. Sie setzte sich mit ihm in die Küche, und ich döste noch eine Weile auf der Couch, bevor ich mich entschloss zu gehen. Als ich ging und einen letzten Blick in die Küche warf, saß der Typ dort in Shorts. Jessica blutete am Bein, ein Glas war kaputt gegangen, und Scherben lagen auf dem Boden. Kein Zweifel, da waren Psychopathen unter sich, mich eingeschlossen. Ich verabschiedete mich schnell und löschte auf dem Weg nach Hause Jessicas Telefonnummer. Ich würde sie nie wieder anrufen und keinen Anruf von ihr entgegennehmen, das war beschlossene Sache. Es lag nicht an ihr, ich mochte sie, aber irgendwie waren wir momentan nicht auf einer Wellenlänge. Ich musste mein Leben entgiften. Jede Person, die mir Zeit raubte wurde jetzt aus meinem Leben verbannt. Sobald die Nummer gelöscht und der Entschluss gefasst war, hörte ich zum ersten Mal das Piepen des Chips auf meinem Daumennagel. Ich hatte einen Karmapunkt erhalten.

Kapitel 3

      Als ich zu Hause war, kreisten meine Gedanken noch einige Minuten um Jessica, aber sie erschien mir jetzt schon wie eine Person aus einem anderen Leben. Manchmal ist die Realität wie ein seltsamer Traum, den es zu vergessen gilt. Ich öffne einen Brief, der auf dem Schreibtisch liegt. Es ist die Kündigung des Stromversorgers; aufgrund unbezahlter Rechnungen wird mir der Vertrag in einer Woche gekündigt, und ich muss mir einen neuen Stromanbieter suchen. Fast zeitgleich erreicht mich die SMS von einer Freundin, Anna, sie schreibt, sie wäre in der Psychiatrie, fragt, ob ich sie mal besuchen komme. Ich sage erst einmal zu, dann denke ich nach. Selbst wenn ich dort hinfahre und sie besuche, um vielleicht wieder Karmapunkte zu sammeln, kann ich meine Rechnung nicht bezahlen. Diese Tatsache ist traurig, aber wahr. Ich werde hinfahren, ihr womöglich etwas schenken, den Besuch so kurz wie möglich halten und dann wieder nach Hause fahren. Die Erfahrung von letzter Nacht hat gezeigt, dass ich auch Karmapunkte sammle, wenn ich egoistisch handle, wenn ich meinem eigenen Instinkt folge und Situationen, die sich zu meinem Nachteil entwickeln können, einfach verlasse oder von vornherein vermeide. Der Fall gerade eben ist wohl so eine Situation gewesen. Ein Problem bleibt bestehen: In dieser Welt, in der ich lebe, kann ich mit Karmapunkten nichts anfangen, denn hier wird mit Geld bezahlt, und das ist der Schlüssel zu allem. Ich beneide in diesem Moment weniger Dominic, seinen Erfolg und sein Geld. Ich bemerke vielmehr, dass ich mich in einem falschen Universum befinde. Jetzt, da ich gemerkt habe, wie ich Karmapunkte bekomme, gibt es keine Möglichkeit, diese gegen etwas einzutauschen. Ich lebe in einem Universum, das guten Taten keinen Wert beimisst und sie nicht entlohnt. Gut zu handeln lohnt sich lediglich, um ein reines Gewissen zu haben. Aus diesem Grund bin ich hier fehl am Platz. Abgesehen davon, dass ich hier nur mit Psychopathen befreundet bin, ist meine Lage auch sonst hoffnungslos. Da war es wieder, das irgendwie ausweglos scheinende und trotzdem Chancen anbietende Jetzt, der Moment, in dem die Zeit stillsteht.

      Ich zog die Möglichkeit eines Identitätstausches in Betracht. Ich wollte in einer Welt ohne monetäres System leben, in der meinen Taten ein Wert zugemessen wird. Aber Christian und Dominic hatten bereits getauscht, und wie sollte ich ihnen überhaupt die Vorzüge meines Daseins schmackhaft machen? Ich bin praktisch pleite, habe einen langweiligen Job und bin mit Psychopathen befreundet. Das klang nicht sehr verlockend.

      Meine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Ich fragte mich, welche Gründe dieses gescheiterte Dasein hatte. Es waren einige Ursachen dafür auszumachen. Ich dachte daran, dass ich einmal Musiker hatte werden wollen. Seit frühester Kindheit war ich mit Kurt befreundet, und als sein großer Bruder im Keller des Hauses sein Schlagzeug aufstellte, spielte Kurt Schlagzeug und ich bald darauf Gitarre. Ich brachte mir das Nötigste selbst bei, und wir gründeten eine Band. Ein Student, der bei uns im Haus wohnte, spielte ebenfalls Gitarre, er lehrte mich einiges. Obwohl ich eigentlich Astronaut hatte werden wollen, war mein Berufswunsch jetzt Rockmusiker. Leider ging Kurt irgendwann nach Holland, um Schlagzeug zu studieren. Wir probten trotzdem weiter, und obwohl Kurt vorschlug, wir sollten nur zu zweit auftreten, schafften wir es irgendwann, eine Band mit Bassist und Sänger zu formieren. Irgendwann, nachdem ich Jahre mit Kurt im Proberaum verbracht hatte, bekamen wir die Möglichkeit, aufzutreten. Alle waren gespannt. Am Tag des Auftritts war Kurt nicht da, er war in Holland. Als ich ihn anrief, fragte er, ob wir heute auftreten, nur, um später sein Handy auszustellen. Ich selbst war zu unorganisiert, um die Situation zu retten, aber wie sollte eine Band ohne Schlagzeuger auftreten? Das ging nicht. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich der Meinung, dass es irgendwie mit der Band hätte weitergehen sollen, mit oder ohne Kurt, aber die Band löste sich auf und besiegelte damit das Ende meiner Musikerkarriere. Mit einem Musikproduzenten mein Leben zu tauschen, das war absolut angebracht. Es würde mir Genugtuung verschaffen, auch wenn ich größtenteils die Aufnahmen anderer Menschen im Studio abmischen würde. Einen Tausch zu versuchen war besser, als aufzugeben.

      Ich hatte ein Problem damit zu resignieren, dabei habe ich das über lange Zeit getan. Ich habe ignoriert, dass ich meinen Job nicht mag, habe mir eingeredet, das alles sei irgendwie gut, und bin meinen Problemen aus dem Weg gegangen. Dabei mochte ich Probleme, Probleme konnten gut sein. Ich konnte mein Dasein jetzt nicht mehr umkrempeln, ein Identitätstausch war die einzige Lösung. Ich verbrachte den Abend, indem ich irgendwann doch zumindest für ein paar Stunden resignierte und einen Film sah, bei dem ich einschlief.

Kapitel 4

      Christian und Dominic saßen mir gegenüber. Sie waren amüsiert über mein spätes Erscheinen.

      „Ich sehe, du hast Karmapunkte gesammelt“, sagte Christian. „Ja“, antwortete ich, „nur, dass sie mir nichts bringen.“ Christian nickte wissend. „Wir haben getauscht“, sagte Dominic, und ich hätte ihm am liebsten einen linken und rechten Haken versetzt. „Ich weiß“, sagte ich, „wie ist es?“

      „Es ist gut“, antwortete Dominic. „Ich habe zwar kein Geld, aber jede Menge Karmapunkte. Du glaubst nicht, wie es in Christians Welt ist. Es ist das reinste Hippieparadies, also zumindest, wenn du genügend Karmapunkte hast. Damit habe ich in diesem Augenblick noch Probleme.“ Ich wurde neugieriger.

      „Erzähl doch mal“, forderte ich ihn auf, aber Christian und Dominic machten keine Anstalten, mir etwas Genaueres von ihrem Tausch zu erzählen. Sie wurden mir langsam, aber sicher unsympathisch. Ich hatte sie bis jetzt als Freunde gesehen, auch wenn sie eigentlich nicht real waren, und der einzige Beweis, dass dieser Traum zumindest Auswirkungen auf die Realität hatte, der Karmachip war, den ich besaß. Dominic stand auf und ging den Weg, der hinter ihm lag, und auch Christian verabschiedete sich. Ich rief noch: „Warte!“, aber Christian war bereits fort. Sobald er einige Schritte auf seinem Weg gegangen war, verschwand er – und mit ihm der Weg. Ich hatte mitgezählt: Er war etwa fünf Schritte gegangen, bevor er verschwand. Jetzt war der einzige noch vorhandene Weg der in mein eigenes Leben.

      Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich würde in Dominics Leben laufen, sobald ich die


Скачать книгу