Parallel. Win Köller
hasste mein eigenes Leben genug, um etwas zu riskieren, Christian und Dominic begann ich ebenfalls zu hassen. Hass macht Pläne, schreibt Max Frisch in Andorra, das stimmt. Mein Plan war nicht besonders durchdacht, aber ich würde ihn auf seine Effektivität und Umsetzbarkeit prüfen.
Ich wachte auf, denn wie immer um diese Zeit erklang der Weckruf. Auf mich wartete ein anderes Leben als das, welches für die nächsten 24 Stunden vor mir lag. Bei der Arbeit war nicht viel zu tun, sodass ich immer wieder ins Tagträumen verfiel darüber, was mich in Dominics Welt, der Welt eines erfolgreichen Musikproduzenten, erwartete. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie viele Chancen ich ungenutzt gelassen hatte, um dort zu landen, wo ich jetzt war. Ein Traum von einem Musikerdasein, der sich nicht erfüllt hatte. Ein Leben, das ich zu stehlen im Begriff war. Es war das Leben einer anderen Person, ich würde Privilegien genießen, die mir durch die Leistung eines anderen Menschen zustanden, nicht durch meine eigene. Meine zweite Leidenschaft, die Meeresbiologie, hatte ich ebenfalls aufgegeben. Ich war in die Großstadt gezogen, um ein Leben in der Künstlerszene zu führen, leider war nicht viel dabei herumgekommen, vor allem kein Geld. Was jetzt blieb, waren Statistiken, die sich vor mir auf dem Schreibtisch ansammelten und die ich zu bearbeiten hatte. Ich atmete tief ein, stieß einen Seufzer aus und lächelte voller Vorfreude bei dem Gedanken an die kommende Nacht.
Nach der Arbeit setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr einige Kilometer aus der Stadt hinaus, bis ich in ein abgelegenes Dorf kam, in dem ich seit Jahren nicht mehr gewesen bin. Ich erinnerte mich, hier in meiner Jugend oft mit meinen Freunden gefeiert zu haben. Wir hatten uns als Punks gesehen, hörten Punk und benahmen uns so, wie wir dachten, dass Punks sich benehmen. Irgendwann in dieser unbeschwerten Zeit gab es einen Rückschlag. Das Telefon klingelte, und ein Bekannter sagte mir, dass ein gemeinsamer Freund von uns, Karl, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Karl lag in diesem Dorf begraben, und da ich bis zum Abend noch einige Stunden Zeit hatte, beschloss ich, das Grab aufzusuchen. Es dauerte eine Weile, bis ich es fand. Ein Zweig hing über dem Grabstein, genau über Karls Namen. Ich wurde traurig. Er hatte nicht lange gelebt, siebzehn Jahre. Er war, genau wie ich, im April geboren, einige Tage älter als ich, und obwohl ich mein Dasein als trostlos empfand und das Gefühl hatte, nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, war ich am Leben, und Karl war tot. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich eine Frau sah, welche die Blumen auf dem Grab goss. Ich fragte sie, ob sie jemanden kannte, der hier beerdigt ist. Sie zeigte auf Karls Grab und sagte: „Das ist mein Sohn.“ Dann deutete sie auf das Grab daneben. „Und dort liegt mein Mann, der ist letztes Jahr auch gestorben.“ Ich sagte ihr, dass ich Karl gekannt hatte, dass wir zusammen gefeiert haben, dass ich, obwohl es schon zwanzig Jahre her ist, immer noch so etwas wie eine Verbindung spürte und dass ich glaubte, Menschen lebten in der Erinnerung anderer Menschen weiter. „Schön, dass Sie mal wieder vorbeikommen“, sagte sie. Dann verabschiedete ich mich. Als ich ging, sah ich noch einmal auf den Grabstein zurück.
Jeder Tag ist ein Ereignis war auf der Rückseite in den Stein gehauen. Es stimmte, ich hatte es lange nicht mehr so gesehen. Obwohl mich der Gedanke an Karl mit Trauer erfüllte, erinnerte ich mich auch gern an diese Zeit, da ich in einer Welt voller Möglichkeiten lebte, nichts war entschieden, das Leben lag vor mir, und ich war trotz aller Rückschläge positiv gestimmt, bereit, die Welt zu erobern oder wenigstens entscheidend zu verändern. Mein Leben war hell, ich hatte Freunde, mein Weg lag vor mir und war hell erleuchtet. Ich war von meinem Weg abgekommen, wieso sollte ich sonst unbedingt mein Leben tauschen wollen? Ich hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, dass jeder Tag ein Ereignis war, alles war monoton, einschläfernd, von immer wiederkehrender Routine bestimmt. Ich lebte in einem Dämmerzustand. War mein Leben wirklich hoffnungslos, oder ging es vielleicht nur darum, die Dinge in einem anderen Licht zu betrachten? Ich fühlte das Besondere eines Tages nicht, da ich der Ansicht war, meine Chancen vertan zu haben. Der Zug war abgefahren, in vielerlei Hinsicht. Nur heute hatte ich seit Langem wieder etwas gespürt. Den Abschiedsschmerz von Karl und den Schmerz der alleingelassenen Mutter. Jeder Tag ist ein Ereignis. Ich fuhr auf dem Fahrrad nach Hause. Trotz allem stand mein Entschluss fest. Ich würde mein Leben gegen ein anderes eintauschen.
Die Nacht kam, und ich döste auf dem Bett ein. Bald sah ich Christian und Dominic vor mir.
Christian, der jetzt Dominics Leben lebte, redete lebhaft: „Aber was soll ich denn machen? Ich habe doch überhaupt keine Ahnung, wie du dich vorher ihr gegenüber verhalten hast. Sie sagt, ich sei verändert.“
„Das wird sich schon geben“, sagte Dominic, der jetzt in Christians Welt ohne Geld lebte, „bis jetzt hat sie sich nach Streitereien immer wieder eingekriegt. Vielleicht rastet sie einmal aus, aber das war´s dann auch. Du bist erfolgreich, sie kommt zurück zu dir und wenn nicht, haben andere Mütter auch noch schöne Töchter. Hallo, Vincent, wie geht es dir?“ Mir war nicht danach, ein weiteres Gespräch zu führen, an dessen Ende ich mich doch wieder in mein eigenes trostloses Dasein verabschiedete, es musste etwas passieren. Ohne zu zögern und ohne zurück zu sehen, rannte ich an Christian vorbei, auf den Weg in Dominics Leben, aber ich hörte, wie Christian rief: „Halt, bleib stehen, du verstößt gegen die Abmachungen!“ Auch Dominic schrie etwas, aber ihre Stimmen wurden immer leiser und verstummten schließlich ganz, ich war mehr als fünf Schritte gerannt, mindestens fünfzig.
Ich wachte auf, mich umgab ein guter Geruch, und ohne dass ich die Augen öffnete, wusste ich, dass ich mich in einem gesünderen und trainierteren Körper befand als den, den ich aus meinem eigentlichen Leben gewohnt war. Ich öffnete die Augen und sah mich selbst in einem Spiegel, der über dem Bett angebracht war. Ich sah gut aus, obwohl es noch früh am Morgen war, ich fühlte mich erholt und sah im Spiegel, dass eine Frau mit blondem Haar neben mir lag. Das Gesicht war im Spiegel nicht zu erkennen, da sie sich auf die Seite gedreht hatte. Ich war nackt, sie war auch nackt. Offensichtlich hatten wir Sex gehabt, ich empfand die Art von Glücksgefühl, die ich nur nach gutem Sex kannte. Auch wenn Dominic etwas von einem Streit erzählt hatte, hatten wir uns offensichtlich wieder vertragen. Sie murmelte etwas im Halbschlaf. Ich stand auf und ging in die Küche, um nach Kaffee zu suchen. Auf einer Marmorplatte stand eine teure Espressomaschine und dort befand sich auch eine Dose mit Kaffee, daneben war eine Kochplatte, und hinter der Anrichte ging es ins Wohnzimmer, in dem teure Möbel um eine Glasplatte standen. Eine goldene Schallplatte hing an der Wand sowie Fotos, auf denen Dominic mit Berühmtheiten zu sehen war: Beyoncé, Eminem, Steven Tyler von Aerosmith, die Red Hot Chili Peppers und Arnold Schwarzenegger. Warum ein Musikproduzent sich mit Arnold Schwarzenegger traf, wollte mir nicht einleuchten, aber anscheinend war Erfolg in einem Bereich so etwas wie die Garantie, auch andere erfolgreiche Menschen zu treffen. Bei dem Gedanken daran, welche Möglichkeiten mir in diesem Leben jetzt offenstanden, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Ich versuchte, mich der Espressomaschine zu widmen, stellte eine Tasse unter den Hahn und füllte die Maschine mit Pulver. Dann drückte ich einen Knopf. Es ertönte das laute Geräusch, das Espressomaschinen bei der Herstellung des Getränks absondern. Bislang kannte ich das nur aus italienischen Restaurants, die ich besucht hatte. So eine Maschine, die mehrere Tausend Euro wert war, in meiner Küche zu haben, das war neu für mich. Der Espresso lief aus dem Gerät, aber aus einer anderen Öffnung als aus der, unter die ich die Tasse gestellt hatte. Ich versuchte, den Rest der Flüssigkeit zu retten, indem ich die Tasse schnell umstellte, als die Frau, die eben noch mit mir im Bett gelegen hatte, neben mir stand und sich an mich schmiegte, wobei sie mir einen Kuss auf die Wange drückte. Ihr Körper war schön, sie war schlank, beinahe so groß wie ich, und schaute mich aus verträumten grünblauen Augen an.
„Ich habe die letzte Nacht sehr genossen“, hauchte sie mir ins Ohr, dann ging sie in die Richtung, in der ich das Bad vermutete. So ließ es sich leben. Gut, dass sie nicht gesehen hatte, wie dumm ich mich beim Bedienen der Espressomaschine angestellt hatte. Ich war ein erfolgreicher Musikproduzent, und das hier war mein Leben, meine Wohnung, und ich musste den Eindruck erwecken, mich souverän durch diese Welt bewegen zu können. Sich in der Welt eines anderen zurechtzufinden, das war nicht einfach, aber ich war willens, es zu versuchen. Bis jetzt fühlte ich mich dabei sehr gut.
Als die blonde Schönheit, deren Namen ich nicht wusste, aus dem Bad zurückkehrte, fragte sie mich, was ich heute vorhatte. Das war eine gute Frage, ich wusste es selbst nicht, dufte es mir aber nicht anmerken lassen.
„Ich