Craving Lily. Nicole Jacquelyn
wurde frech, das wusste ich, konnte den Impuls aber nicht unterdrücken. Sie hatten mich auf einen Stuhl geschoben, nachdem sie sich ins Haus gedrängt hatten. Keiner der Männer hatte mich angerührt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich aufhalten würden, wenn ich versuchen würde, abzuhauen, mir aber ansonsten keinen Schaden zufügen wollten. Ich musste nur dafür sorgen, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet blieb, damit sie nicht das Haus durchsuchten.
Der kräftigere Kerl sah zur Haustür und murmelte etwas Unheilvolles, was den jüngeren noch nervöser machte. Sie warteten auf etwas, doch ich wusste nicht, auf was.
„Weißt du, du solltest hier besser abhauen“, sagte ich zu dem zappeligen Typen. „Wenn jemand bemerkt, dass du hier bist, bist du tot.“
„Halt die Klappe, Miststück“, sagte der Kräftige mit so starkem Akzent, dass ich eine Weile brauchte, um die Worte zu verstehen. „Halt einfach die Klappe.“
„Ich meine es ernst. Ihr beiden seid am Arsch“, fuhr ich fort und beobachtete den Jüngeren beim Hin- und Herlaufen. „Haut einfach ab, und ich muss niemandem sagen …“
Der Kräftige muss stinksauer gewesen sein, weil ich seine Warnung ignoriert hatte, denn eine große Faust knallte gegen die Seite meines Kopfes und alles wurde schwarz.
Als ich eine Weile später wieder aufwachte, dachte ich kurz, dass die Blindheit zurückgekommen wäre. Ich konnte nichts sehen, nicht eine einzige Form oder auch nur Licht. Erst als meine Augen zu brennen begannen, begriff ich, dass ich nicht blind war. Dann fing ich an zu husten, weil überall um mich herum Rauch war.
Kapitel 1
Leo
„Willst du heute Abend zu der Party am Kanal gehen?“, fragte mich Cecilia, als ich mich neben sie auf die Couch fallen ließ. Ich war so verflucht müde, hatte ihr aber versprochen, vorbeizukommen, also hatte ich mich zum Haus ihrer Eltern geschleppt. Es war verdammt seltsam, dort zu sein. Ich hasste es.
Es war erst etwas über ein Jahr her, seit ich auf der Party im Garten des Hauses ins Gesicht geschossen worden war, aber ich hatte nie jemandem erzählt, wie unwohl ich mich fühlte, wenn ich in dieses Haus ging. Das hätte ich sonst noch ewig zu hören bekommen.
„Nein, nicht heute Abend“, stöhnte ich und ließ den Kopf auf die Couchlehne sinken. „Ich bin total erledigt.“
„Hi, Leo“, rief eine süße Stimme. Cecilias kleine Schwester Lily kam ins Zimmer, gefolgt von ihrer Cousine Rose. Sie bewegte sich nicht schnell, es war aber auch kein Zögern in ihren Schritten zu bemerken, als sie zu uns kam und sich auf den Teppich vor uns kniete.
„Kannst du das nicht anderswo machen, Lil?“, zickte Cecilia sie an, als Lily ein Buch auf den Couchtisch legte.
„Nein“, murmelte Lily. „Mom hat gesagt, ich soll es hier unten machen. Es ist ja nicht so, dass ich euch sehen könnte, also tut, was immer ihr wollt.“
„Oh, nein, bitte nicht“, grummelte Rose. „Ich kann euch nämlich sehen.“
„Ignorier sie einfach“, sagte Lily leichthin. „Das tue ich jedenfalls.“
„Ach, Löwenzahn“, ärgerte ich sie und lächelte über ihre besserwisserische Miene. „Du weißt, dass du mich nicht ignorieren kannst.“
„Ich tue mein Bestes“, konterte sie und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Sie schlug das Buch auf und ich beugte mich vor, um einen Blick auf die sehr einfache Geschichte für Kinder zu erhaschen, die in Schrift und Braille geschrieben war.
„Bereit?“, fragte Rose und drehte sich ein bisschen, sodass sie mir und Cecilia den Rücken zuwandte.
„Ich denke schon.“ Lilys Miene wurde ernst. Ihr Finger berührte die erste Seite und glitt über das Papier, bis sie die kleinen Erhöhungen fand. Ihre Lippen bewegten sich, als sie langsam mit der Fingerkuppe über die Braille-Schrift fuhr. Langsam sagte sie: „Es war einmal …“
„Oh, Mann, das hast du ja noch gar nicht gesehen“, flüsterte Cecilia und nahm einen Stift vom Beistelltisch. „Sieh dir das an.“
Bevor ich sie aufhalten konnte, warf sie den Stift auf Lily.
Wut stieg so schnell in mir auf, dass ich ihr Handgelenk fest umfasst hatte, bevor sie auch nur den Arm senken konnte.
Vor Überraschung blieb mir der Mund offenstehen, denn Lily wich dem Stift aus und fing ihn auf, als hätte sie ihn gesehen.
„Was zum Teufel soll das, Cecilia?“, fragte sie, und ihre Wangen röteten sich.
„Pass auf, was du sagst“, konterte Cecilia und riss sich von mir los. „Du weißt, dass du nicht so reden sollst.“
„Fick dich!“, rief Lily kochend vor Wut. Sie schlug mit den Fäusten auf den Couchtisch, was das ganze Ding zum Klappern brachte.
„Ihr seid solche Arschlöcher“, zischte Rose und sah uns finster an.
„Ich wusste, dass du ihn fangen würdest“, sagte Cecilia und warf mir einen Blick zu, bevor sie sich wieder an ihre Schwester wandte. „Du fängst sie immer.“
„Nicht, wenn ich mit etwas anderem beschäftigt bin“, schrie Lily, offensichtlich verlegen, zurück. „Was zum Teufel ist los mit dir? Warum tust du so etwas?“ Sie stand auf und fiel fast zur Seite, weil sie auf den Stift trat und wegrutschte.
Mein Herz hämmerte und mein Magen zog sich zusammen, als Tränen in Lilys Augen traten. Himmel noch mal. Ich war nicht in Cecilias kleine Demonstration eingeweiht gewesen und fühlte mich trotzdem höllisch schuldig.
„Was zur Hölle ist hier los?“, fragte Farrah, die ins Zimmer gelaufen kam.
Lily hob das Kinn und sagte kein Wort, als ihre Mutter ein paar Schritte auf uns zukam.
„Also?“ Farrah sah uns reihum an, bis ihr Blick schließlich an Rose hängenblieb. „Was ist passiert?“
Als Rose sich weigerte, zu antworten, sah Farrah Lily an. „Erzählst du mir mal, warum ich dich bis nach oben Obszönitäten schreien gehört habe?“
„Petzen werden verprügelt“, murmelte Lily mit düsterer Miene. Dann hob sie die Faust in Roses Richtung und wartete darauf, dass sie ihre Knöchel dagegen stieß.
„Himmel, du hast zu viel Zeit im Club verbracht“, schnaubte Farrah. „Und du auch.“ Sie zeigte auf Rose und sah dann zu Lily, die versuchte, den Stift mit ihrem Fuß zu verstecken.
„Cecilia“, sagte Farrah ausdruckslos und richtete den Blick auf uns. „Sag mir, dass du deine Schwester nicht mit einem verdammten Stift beworfen hast.“
„Sie fängt ihn immer auf!“, antwortete Ceecee und zuckte mit den Schultern. „Es ist ja nicht so, dass ich dachte, ich würde sie damit treffen.“
Farrah sah mich an, dann wieder Lily, ehe sie etwas sagte. „Die beiden haben zu viel Zeit im Club verbracht.“ Sie wies auf Rose und Lily. „Aber ihr habt eindeutig zu wenig Zeit dort verbracht. Du musst lernen, was Loyalität bedeutet, Cecilia. Deine Schwester ist keine verdammte Zirkusnummer.“
Ceecees Kinn zitterte. Sie warf mir einen Blick zu, sprang auf und rannte aus dem Zimmer.
„Ich hätte gedacht, dass du es besser weißt“, sagte Farrah an mich gerichtet verächtlich, doch Rose unterbrach sie.
„Er hat versucht, sie aufzuhalten, Tante Farrah“, sagte Rose ruhig. „Vielleicht solltest du das Onkel Casper sagen, damit er morgen, wenn er die blauen Flecken auf Ceecees Handgelenken sieht, Leo nicht umbringt.“
„Ich wusste nicht, was sie vorhatte“, sagte ich, wobei ich meine Worte an Lily richtete, die verlegen schweigend herumstand. „Als mir klar wurde, dass sie den Stift werfen wollte, versuchte ich, ihren Arm festzuhalten, bevor sie ihn loslassen konnte.“