Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
auch Online-Nachschlagewerke sind eine wichtige Quelle. Dazu muss jedoch der Wille der Verfassenden da sein, auch dort Sichtbarkeit zu schaffen. Annalee Newitz beispielsweise nutzt seit 2019 nichtbinäre Pronomen und wurde in der englischsprachigen Wikipedia bereits mit dem gewünschten Pronomen »they« bezeichnet. Die deutschsprachige Wikipedia bezog sich noch in der weiblichen Form auf Newitz und reagierte im April 2020 mit vehementem Protest gegen mehrere Versuche der Umformulierung (die mittlerweile allerdings, auch durch die Mithilfe von Newitz selbst, angenommen wurde).
Der Widerstand gegen die nichtbinäre Umformulierung des Eintrags zeigt, dass noch einiges getan werden muss. Als fiktive Aliens und Cyborgs lässt man sich Nichtbinärität vielleicht noch gefallen, aber noch lange nicht bei realen Menschen. Biologistische Einwände verkommen schnell zu transfeindlichen Argumenten – sobald Dritte beginnen, über Geschlechtsorgane einer realen Person zu spekulieren, sollte allen deutlich sein, dass Nichtbinärfeindlichkeit Hand in Hand geht mit Transfeindlichkeit. Denn Geschlecht ist nicht an Anatomie festzumachen. Wenn eine Diskussion ums korrekte Gendern eines realen Menschen in einem Online-Nachschlagewerk zu Mutmaßungen über Reproduktionsorgane verkommt, wird klar, worum es eigentlich geht: um die Deutungshoheit über Menschen, um Diskriminierung und Präskription von gesellschaftlichen Rollen.
Annalee Newitz ist nicht die einzige nichtbinäre Person, die Science Fiction schreibt. Weitere nichtbinäre Autor*innen sind beispielsweise Sarah Gailey, Rivers Solomon, JY Yang, Kacen Callender, Akwaeke Emezi, Jeannette Ng, Sarah Stoffers und im Comic-Bereich Blue Delliquanti und Ben Kahn – aber diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend. Je mehr Vokabular wir haben, desto mehr Menschen werden Worte für die eigene Identität finden. Die Aufgabe der Zukunft ist nicht, Geschlecht komplett abzuschaffen, wie manche scheinbar progressiv bei Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit fordern, sondern Vielfalt anzuerkennen und als gleichwertig anzusehen.
Schreibende haben die Gelegenheit, nein, sogar die Verantwortung, das Konstrukt von Geschichten mit Lebenswirklichkeiten verschmelzen zu lassen. Um dem gesellschaftlichen Schweigen zum Thema nichtbinäre Geschlechter entgegenzuwirken, ist es nötig, darüber zu sprechen und zu schreiben. Le Guin sagte noch 2014 in einer Rede: »Widerstand und Veränderung beginnen oft in der Kunst, und sehr oft in unserer Kunst – der Kunst der Wörter.« Wenn es um Veränderung der gesellschaftlichen Binärität und Hierarchie von Geschlecht geht, müssen wir auch die Erfahrungen nichtbinärer Schriftsteller*innen in den Mittelpunkt rücken.
Zu guter Letzt …
»Ich liebe nichtbinäre Monster. Ich liebe nichtbinäre Aliens und nichtbinäre Roboter. Ich liebe Space Operas und Paranormal Romance und alles ›Unmenschliche‹, das mir über den Weg läuft. Aber es gibt auch Tage, in denen mich – erschöpft vom Kursberechnen in einer Welt, die mir keinen Platz lässt, die mich nicht als das akzeptiert, was ich bin – meine Fiktion daran erinnern muss, dass ich menschlich bin«, schreibt Christine Prevas über nichtbinäre Repräsentation auf der Website Electric Literature. Und vielleicht eröffnen Fantasy und Science Fiction auch außerhalb des Genres Orte, an denen genderfluide und nichtbinäre Charaktere Raum haben, und sind Wegbereiter für Vielfalt und, ja, nennen wir es beim Namen: mehr gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit.
Silke Brandt
Vampirella in Herland
Das Dilemma um Identität, Sex & Repräsentation
Während Suffragetten des 19. Jahrhunderts – zu denen sich die SF-Autorinnen Mary Shelley und Charlotte Perkins Gilman zählten – eine Egalisierung der Gesellschaft anstrebten, betonte die feministische Bewegung der 1970er die Differenz der Geschlechter. Frauen wurden als friedfertig und sozial kompetent definiert, Männer als aggressiv, destruktiv und in Konkurrenzdenken gefangen. Grundlage lieferten Bücher wie Bertha Eckstein-Dieners Mütter und Amazonen, Liebe und Macht im Frauenreich (1930 als Sir Galahad) sowie Studien der Anthropologin Margaret Mead. Hieraus ging eine feministische SF hervor, die – wie Perkins Gilmans Herland-Utopien (1915, 1916) – oft dem Bildungsroman entsprach: Ursula K. Le Guins EARTHSEA-Saga[1] (1964–2001), Margaret Atwoods Dystopie A Handmaid’s Tale[2] (1985), Joan Slonczewskis A Door Into Ocean (1986) oder Alice Eleanor Jones’ Kurzgeschichte »Created He Them« (1955), in der Reproduktion den Alltag bestimmt. Auch wenn solche Werke brillante Analysen sozialer Ungerechtigkeiten bieten, führten sie zu unrealistischen Konzepten eines biologisch bedingt sanften Geschlechts. Weibliche Friedfertigkeit und Sozialkompetenz bestimmen auch Plot und Weltenbau von SF-Romanen, die eine von Geschlechtszuordnungen befreite Gesellschaft zeigen: Joanna Russ entwirft in And Chaos Died (1970) eine nichtbinäre, egalitäre Gesellschaft, Le Guin schafft in The Left Hand of Darkness[3] (1969) eine ambisexuelle, androgyne Welt, in der Stereotypisierung als Negativbeispiel dient; C. J. Cherryh verfolgt Androgynität sowie Speziesismus in ihrer CHANUR-Saga (1981–92), deren matriarchal organisierte, katzenartige Hani möglicherweise für Sergej Lukianenkos Schließer in Spektrum (2002) Pate standen.
Die Kritik an Frauenfiguren in Kunst, Film und Literatur hatte auch Folgen für feministische SF: Explizite Sexualität wurde außerhalb von parabelhaften Unterdrückungsszenarien zum Tabu, da sich die Autorinnen selbst der Objektivierung und Kommerzialisierung schuldig machen könnten. Es galt, der Anatomie selbst eine Stimme zu geben, ein weibliches Schreiben jenseits der Fremdbestimmung zu praktizieren. Die Philosophin Hélène Cixous verlangte bereits 1976: »Schreibe! Schreiben gehört dir, du selbst gehörst dir; dein Körper ist deiner, nimm ihn. Ich schreibe Frau: Frau muss Frau schreiben. Und Mann Mann. So wird er hier nur eine Randbemerkung bleiben; es obliegt ihm zu sagen, wo er seine Maskulinität und wo seine Femininität verortet.«[1] Ein Ausweg aus dem Dilemma wurde nötig: Wie kann eine Autorin Protagonistinnen entwerfen, ohne sich zu verleugnen, sexistische Ausbeutung zu replizieren? Lösungsversuche schufen die Grundlage für aktuelle Diversity-Politik. Anstatt das biologische Geschlecht als Marker für soziales Verhalten zu definieren, ging es um sexuelle Identität und Sozialisation: Mütter waren heterosexuelle, in patriarchalen Mustern gefangene Frauen; Amazonen lesbische Separatistinnen, die außerhalb von Normierung und Fremdbestimmung lebten. Selbst wenn sie oft nur eine Verkehrung der Tradition erreichten (kurze Haare, Hosen, kein Make-up), stand zumindest Sexualität im Fokus – wobei bisexuelle Frauen als Verräterinnen galten, die sich wie Penthesilea ins Lager des Feindes schlichen.
Diese Unterscheidung schuf ein SF-Subgenre, das an die High Fantasy angelehnt war: spekulative Amazonengeschichten, auch verfasst von Vertreterinnen der Hard SF, z. B. Cherryhs FORTRESS-Serie (1995–2006), die UNICORN-Saga (1991–98) und Kurzgeschichten der Nonkonformistin Tanith Lee, deren Erzählungen stets um Sexualität und Macht kreisen. Das Figurenkonzept stützt sich auf Mythen der Antike, Bronze- und Wikingerzeit bzw. historische Personen wie Jeanne d’Arc, Boudica oder skythische Kriegerinnen. Neben der von Marion Zimmer Bradley herausgegebenen SWORD AND SORCERESS-Reihe (1984–2013) gab es alternative Stimmen: Monique Wittigs Prosa oder Christian Lautenschlags Der Araquin (1981 als Marockh Lautenschlag). Das Crossover aus High Fantasy und Dystopie ist eine innovative Ausnahme: Amazonen existieren als Subkultur in einem despotischen Feudalsystem, die Protagonistin, Candryi Nava, ist eine Verstoßene im Exil, die eine unmöglich erscheinende Aufgabe lösen muss, um wieder von ihrem Frauenvolk aufgenommen zu werden. Candryi ist gebrochen und zynisch; ihre Verbündete eine androgyne, bisexuelle Kriegerin/Diplomatin, die mal einen männlichen (Janas), mal einen weiblichen Namen (Ahiraquae) verwendet, deren Loyalitäten unklar sind und deren Kontakte zur Herrscherschicht ihr starke Ambivalenz verleihen. Nicht nur Männer sind in inhumanen Strukturen verhaftet, auch das Amazonenreich unterwirft sich esoterischen Traditionen, ist zersetzt von Intrigen und Machtkämpfen. Trotz des radikalfeministischen Kontextes sind diese Frauenfiguren an Helden der klassischen High Fantasy angelehnt: In Ahiraquae ist Aragorn aus Lord of the Rings[4] zu erkennen; Candryis Suche nach dem mystischen Stein Araquin gemahnt an Frodos Heldenreise. Ähnliche Figuren entwirft Wittig in Aus deinen zehntausend Augen, Sappho (1977), das Cixous’ Forderung nach einem sich selbst schreibenden Körper auf die Spitze treibt: eine erotische Phantasie in Form eines wild-surrealistischen Bewusstseinsstroms, in dem die Erzählerin den Körper ihrer Geliebten bis ins anatomische Detail seziert – eine manische, seltsam kalte Hommage an die Weiblichkeit. Wie Cynthia Vespia mit ihrem Gladiatorinnen-Trash The Crescent (2014), sind Lee und Wittig Ausnahmen, die explizite Sexualität als handlungstragend einsetzen.
Feministische