Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

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geforscht – Merkmalen, die queere oder hetero Sexualität, queeres oder cis-Gender ausmachen. Die Forschungen des jüdischen, homosexuellen Wissenschaftlers wurden zwei Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört. Damit wurden Jahrzehnte der intensiven, internationalen Forschung an queerer Sexualität und Trans*geschlechtlichkeit wieder ausradiert. Jahrzehntelang ging es jetzt wieder darum zu beweisen, dass zur menschlichen Varianz und Vielfalt gehört, dass nicht alle Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen zugeordnet wurde, korrekt beschrieben werden.

      Immer noch obskur

      Nach wie vor ist vielen Menschen die Vorstellung von Geschlecht und Identität außerhalb der »Gender-Binarys« nicht geheuer. Die Einführung eines diversen, auch »dritte Option« genannten Geschlechtseintrags wurde 2018 in Deutschland beschlossen. Leider bedeutet er bislang alles andere als eine rechtliche Gleichstellung oder gar die selbstbestimmte Definition des eigenen Geschlechts. Es gibt ihn vor allen Dingen, damit Eltern sich bei inter* Kindern nicht sofort nach der Geburt für ein binäres Geschlecht entscheiden müssen, wie es vor der Gesetzesänderung der Fall war. Es geht also explizit nicht darum, Menschen mehr Vielfalt zuzugestehen, als an ihren Geschlechtsorganen zu erkennen ist. Und in den Köpfen angekommen ist das sogenannte »dritte Geschlecht« (das es ja zudem wegen der Vielfältigkeit und des Spektrums menschlicher Geschlechter gar nicht als abschließende Zahl geben kann) nicht. Wie auch? Das gesellschaftliche Narrativ hat unsere Sprache und unser Leben um Zweigeschlechtlichkeit herum organisiert: Öffentliche Toiletten, Kleidung, Spielzeug, Konsumartikel in allen Varianten – sogar die Farbe der Scheren, mit denen die Nabelschnur eines Säugling in manchen Geburtszimmern durchtrennt werden, sind binär aufgeteilt.

      Darüber, was diese Einteilung mit uns macht, welche einem Geschlecht zugewiesenen Eigenschaften wir höher schätzen und wie wir Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichstellen können, wird an vielen Stellen geredet, innerhalb und außerhalb feministischer Kontexte. Doch diese Diskussionen können nur dann zu tatsächlicher Gerechtigkeit führen, wenn sie auch die bislang unsichtbaren, an den Rand gedrängten Geschlechter mitdenken, mitmeinen und mit aussprechen. Selbst Feminist*innen beäugen jedoch die, die bislang kaum irgendwo dazugehören, misstrauisch. Die SF-Rollenspielautorin Avery Alder nennt das Zugehörigkeitsgefühl, das sich aus einer solchen gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit entwickelt, »Belonging outside belonging« (»zu etwas gehören, was nirgendwohin gehört«).

      Und wegen dieses An-den-Rand-Drängens von nichtbinären Menschen führt auch der Weg ihrer Repräsentation in der Science-Fiction-Literatur über das »Andere«, das »Outside Belonging«.

      Das Nichtbinäre als das Fremde

      Fantasy und Science Fiction können Wegbereiter für Realitäten sein, die von unserem Status quo abweichen, der die Existenz von nichtbinären Geschlechtern zumeist leugnet, wo immer es geht. In welchem anderen Genre ist es möglich, Geschlecht anders zu definieren und neue Varianten des Zusammenlebens zu finden, die nicht auf einer binären Einteilung in zwei Geschlechter beruhen, die zugleich zwei gesellschaftliche Klassen etabliert haben?

      Doch der erste Schritt in Richtung einer Gesellschaft, die mehr als zwei Geschlechter kennt, scheint einen Schlenker über das Fremde und Nichtmenschliche zu erfordern. Nichtbinäre Figuren existieren – jedoch neben menschlichen Männern und Frauen; als KIs, Aliens und Roboter. Beispielsweise die genderfluiden Aandrisk in Becky Chambers’ WAYFARER-Saga durchlaufen, ähnlich wie die (generisch männlich beschriebenen) Gethenianer in Le Guins Die linke Hand der Dunkelheit, andere geschlechtliche Zyklen und bewegen sich auf einem Spektrum zwischen männlich und weiblich.

      Die Pflanzenspezies der Floryll in Bernd Perplies’ Am Abgrund der Unendlichkeit sind zweigeschlechtlich, sodass Perplies ein Neopronomen aus den deutschen Pronomen zusammengesetzt hat.

      Breq, die Perspektivfigur aus Ann Leckies Die Maschinen, erzählt im generischen Femininum. Breq selbst, eine Schwarm-KI, die durch unglückliche Umstände in einem einzigen Körper gelandet ist, ist jedoch nicht weiblich. Auch »Murderbot« aus Martha Wells Tagebuch eines Killerbots ist ungeschlechtlich und stellt generell menschliche Kategorien infrage. (Im Roman tauchen aber auch menschliche nichtbinäre Nebenfiguren auf!)

      Octavia Butler hat in ihrer LILITH’S BROOD-Trilogie bereits in den 1980ern einen Wandel zu einer nichtbinären Erzählperspektive vorgenommen, wenn sie auch das Außerirdische als Katalysator dafür nutzt: Lilith, die Hauptperson des ersten Bands, lernt die drei Geschlechter der außerirdischen Oankali kennen, und ihr Sohn, der Protagonist des dritten Bandes Imago, transformiert dank außerirdischer Gene zum Ooloi genannten dritten Geschlecht und bietet somit eine menschliche Identifikationsfigur auf dem Weg zu einer neuen Identität.

      Viele nichtbinäre Menschen kennen einen solchen Weg: Es fehlten lange das Vokabular und der gesellschaftliche Platz, um das gespürte Nichtdazugehören in Worte zu fassen und zu begreifen. Doch einen eigenen Platz zu behaupten ist oftmals lebenslange Arbeit, und dabei hilft es natürlich nur begrenzt, auf fiktive Aliens, Roboter und Menschen mit Aliengenen deuten zu können.

      Nichtbinär als menschliche Identität

      Ich kann nachvollziehen, dass etwas, das in unserer Gesellschaft sehr lange nicht akzeptiert und daher als nicht existent markiert wurde, den Umweg über das Erfundene, das Fremde gehen muss, bevor es vertrauter wird. Doch diese Übertragung von »Belonging outside belonging« auf Außerirdische und KIs ist nur als erster Schritt hilfreich. Während im Englischen sogar schon bei Shakespeare das Singular-»they« zur Beschreibung eines geschlechtlich nicht definierten Charakters genutzt wird, gibt es in der deutschen Sprache keine Pronomen für nichtbinäre Geschlechter – »es« empfinden die meisten Menschen durch die Versachlichung als abwertend. Viele nichtbinäre Menschen nutzen Neo-Pronomen, wie z. B. xier oder sier. Dass diese Neo-Pronomen akzeptiert und in der Alltagssprache verwendet werden, ist jedoch noch Science Fiction. An Neo-Pronomen entzünden sich immer wieder auch in der Verlagswelt Diskussionen, die letztlich genau auf die oben erwähnte Nicht-Akzeptanz und unterstellte Nicht-Existenz herauslaufen. Meine erste Begegnung mit Neo-Pronomen fand in der Science Fiction statt: Ein nur auf wenigen Seiten vorkommender Nebencharakter in Chuck Wendigs STAR WARS-Trilogie NACHSPIEL nutzt im englischen Original das Neo-Pronomen »zhe«. In der deutschen Übersetzung wird der Charakter – vermutlich der viel beschworenen »Lesbarkeit« geschuldet – weiblich gegendert, und das ist symptomatisch.

      Die Ablehnung von Neo-Pronomen in der Prosa, in journalistischen Texten und generell im Schriftdeutsch hat noch eine weitere Kehrseite: Dadurch, dass wir sie nur sehr selten lesen, fühlen sie sich (noch) wie Fremdkörper in der Sprache an und markieren damit in fiktiven Texten Figuren als »anders«, als Abweichler*in, oft genug sogar als Nicht-Mensch. Sie sagen letztlich meist: »Sieh, wie fremd diese Kultur/Alien-Spezies ist, sie hat mehr als zwei Geschlechter!«

      Aber nichtbinäre Menschen existieren, und wir möchten uns in der Fiktion, die wir lesen, auf positive, realistische, vielfältige und vor allen Dingen menschliche Weise repräsentiert sehen. Für viele von uns ist Fiktion und vor allen Dingen Science Fiction das einzige Fenster, das uns einen Einblick in uns selbst bietet. SF bietet das einzige Vokabular, um zu lernen, sich selbst zu beschreiben. Viele von uns nutzen nach wie vor binäre Pronomen, tragen geschlechtsspezifische Kleidung und Frisuren und sind nicht »out« – werden also gesellschaftlich auch nicht wahrgenommen, weil Geschlecht immer noch stark am Aussehen festgemacht ist. Anfeindungen sind die Konsequenz für alle, die »out« sind, nichtbinäre Pronomen nutzen oder gar Berücksichtigung in Formularen und Bürokratie wünschen.

      Eine Gesellschaft, die Nichtbinärität nicht sehen will, für unnatürlich (wie Roboter) oder gar ausgedacht (wie Außerirdische) hält, ist einschüchternd und enthält Vokabular und Erkenntnisse vor. Die wenigsten von uns sind sich seit frühster Kindheit sicher, nichtbinär zu sein – wie auch? Wie kann man etwas sein, das es gar nicht gibt, das die Gesellschaft nicht als existent zurückspiegelt? Nichtbinärität ist ein langes, vielleicht lebenslanges Auseinandersetzen mit der eigenen Identität und dem Geschlechterkonstrukt unserer Gesellschaft, dem Nicht-aufgehoben-Fühlen in den beiden vorhandenen obersten Schubladen. Science Fiction kann Menschen Vokabular und Freiheit geben, ebenso wie eine Inklusion in Sprache und Schrift. Gendersternchen, Gendergap und der zum Beispiel in Lübeck amtliche Doppelpunkt lassen eine freie Stelle für Identitäten


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