Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
in unserer Gesellschaft als zutiefst feminin angesehene Fähigkeit, das Leid anderer Menschen mitzufühlen und als das eigene zu empfinden, wird Lauren dazu angetrieben, eine eigene Gemeinschaft zu gründen und den Weg zu einem neuen und besseren Leben zu suchen. Auch die schon erwähnte MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood stellt die Gardeners, die mit Recycling, Pflanzenzucht und Imkerei ihre Lebensgrundlage in einer postapokalyptischen Welt schaffen, als eine Community dar, deren Stärke und Überleben von weiblich konnotierten Tätigkeiten abhängt. Auch in der aktuellen Situation der Corvid19-Pandemie zeigt sich, dass große und weltumstürzende Krisen nicht immer von einer einzelnen Held*innenfigur gelöst werden können, wie Laurie Penny in ihrem Artikel This is not the Apocalypse you were looking for feststellt. »Die Leute in der ersten Reihe sind keine Kämpfer*innen. Sie heilen und pflegen. Genau die Leute, deren Arbeit kaum einmal angemessen bezahlt wird, sind diejenigen, die wir wirklich brauchen, wenn es richtig schlimm aussieht. Pflegekräfte, Ärzt*innen, Reinigungskräfte, Fahrer*innen. Emotionale und häusliche Arbeit waren nie Teil der großartigen Geschichte, die Männer sich gegenseitig über das Schicksal der Menschheit erzählt haben – nicht einmal, wenn sie sich deren Untergang ausmalten.«
Als letzten Aspekt queerer Erzählungen möchte ich noch kurz auf die verwendete Sprache selbst eingehen. Das erste Neopronomen, das ich jemals las, stand nicht in einem Sachtext zum Thema Grammatik oder Nicht-Binärität, sondern in einem Roman, in dem eine nicht-binäre Figur vorkam. Science-Fiction-Geschichten können auch durch die sprachliche Komponente queere Inhalte transportieren. Wenn es geschlechtsneutrale Begriffe und Neopronomen gibt, sich Figuren einander mit ihren Pronomen vorstellen und auf abwertende Sprache gegenüber queeren Personen und anderen Marginalisierten verzichtet wird, wirkt sich dies nicht nur auf die Erzählung, sondern auch auf die Lesenden aus. Je mehr Perspektiven und Identitäten mitgedacht und berücksichtigt werden, desto mehr kann eine fiktive Geschichte auch in der Realität für mehr Akzeptanz und Rücksicht sorgen.
Jenseits der Fiktion
Zum Abschluss des Artikels möchte ich noch einmal auf die Heldenreise eingehen und behaupten, dass diese sich nicht nur in Geschichten, sondern auch in unserem Umgang damit fest verankert hat. Ein Buch verkauft sich besser, wenn ein Aufkleber verkündet, wie viele Wochen es schon auf der Bestsellerliste ist. Wenn wir auf Netflix eine Serie starten, sehen wir automatisch, welchen Platz sie im bundesweiten Ranking gerade hat. Filme werden noch einmal neu ins Kino gebracht, wenn damit der Rekord der meistverkauften Kinotickets gebrochen werden kann. Literaturpreise und Film-Awards sind bestimmt vom Gedanken an ein Siegertreppchen, einen Rekord, einen neuen Helden oder wenigstens eine neue Heldin. Gleichzeitig werden Inhalte, die umsonst verfügbar sind und die Mitglieder einer Community füreinander erschaffen und miteinander teilen – wie Fanfiction in unterschiedlichsten Formen, kostenlose Geschichten, Comics oder ganz andere Erzählformate – noch immer als minderwertig oder schräg angesehen. Dabei finden sich gerade dort oft Inhalte, die neue Wege gehen und die Stimmen marginalisierter Personen hörbar werden lassen.
Wo sind die Preisverleihungen für die Verlagsleiter*innen, die sich um ein diverses Programm bemühen? Für die Showrunner*innen, die darauf achten, dass im Writers Room und im Regiestuhl nicht nur weiße cis Hetero-Männer Platz nehmen? Für die Community-Organisator*innen, die darauf achten, dass sich alle wohl und sicher fühlen? Noch immer ist eine diverse und einander unterstützende Gemeinschaft weniger wert als die einzelne herausragende Person, und das ist deshalb eine zutiefst heteronormative Sichtweise, weil nicht-queere Personen eine Gemeinschaft, in der man sich wohlfühlt und akzeptiert wird, als selbstverständlich wahrnehmen.
Wenn wir also wollen, dass unsere Erzählungen diverser, queerer und inklusiver werden, müssen wir nicht die Fiktion selbst queer denken, sondern auch alle äußeren Umstände, die mit ihr einhergehen.
Joachim Körber
Wann ist ein Mann ein Mann?
Kurze Geschichte einer Verunsicherung
»Wann ist ein Mann ein Mann?« Diese Frage stellte 1984 der Schauspieler und Sänger Herbert Grönemeyer in seinem Song »Männer«. Darin verteidigte er teils recht brachial einen Männertypus, den viele, nicht nur Frauen, als Relikt der patriarchalischen Gesellschaft längst für überholt hielten, den Mann, der »wie blöde« rackert und »ständig unter Strom« steht. Die Frage ist, weshalb fühlte sich ein prominenter Sänger veranlasst, solchermaßen in einen öffentlichen Diskurs einzugreifen, den er sicher nicht losgetreten, aber mit seinem hitparadentauglichen Kommentar möglicherweise auf eine neue Stufe der Öffentlichkeit gehoben hatte?
Tatsache ist, dass die sogenannte Frauenbewegung etwa ab Mitte der 1960er-Jahre einen enormen Aufschwung erlebte und in den 1970er-Jahren zunehmend mehr Zulauf bekam; das sorgte für Irritationen unter der männlichen Bevölkerung, besonders in Deutschland, wo der Begriff »Feminismus« eher negativ besetzt ist und daher bis heute kaum verwendet wird – man bevorzugt hierzulande die eher Amtsdeutsch klingende Vokabel »Frauenfrage«. Gerade die Deutschen taten und tun sich traditionell schwer mit den Frauenrechten (so dürfen verheiratete Frauen in Deutschland erst seit 1962 ohne Zustimmung des Ehemannes ein eigenes Bankkonto eröffnen).
Aber natürlich beginnt die Geschichte des Kampfes um die Gleichberechtigung der Frau nicht erst in den 1960er-Jahren. In England zum Beispiel machte man sich schon deutlich früher Gedanken darüber, was Ausdruck fand u. a. in Schriften wie A Vindication of the Rights of Woman (1792) von Mary Wollstonecraft (Mutter der durch ihren Roman Frankenstein weltberühmt gewordenen Mary Shelley) oder The Female Advocate or An Attempt to Recover the Rights of Women from Male Usurpation (1799) von Mary Ann Radcliffe (nicht zu verwechseln mit Ann Radcliffe, der Verfasserin von Schauerromanen, der das Buch manchmal aufgrund der Namensähnlichkeit fälschlicherweise zugeschrieben wird). Beide Frauen setzen sich vehement dafür ein, dass Frauen Männern gleichgestellt und nicht von diesen unterdrückt werden, worin ihnen u. a. der Sozialphilosoph Charles Fourier beipflichtete, der gar mit der These hervortrat, dass Fortschritt auf gesellschaftlicher Ebene ohne mehr Rechte für Frauen gar nicht möglich wäre. »Der soziale Fortschritt […] erfolgt aufgrund der Fortschritte in der Befreiung der Frau«, schrieb er in seiner 1808 erschienenen Schrift Die Theorie der vier Bewegungen. [1]
Die Überlegungen, die in theoretischen Büchern niedergelegt wurden, fanden letztlich auch Niederschlag in der Literatur. Zu den bekanntesten feministischen Utopien zählt der Roman Herland (1915) der amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman. In dem Roman existiert eine entlegene, nur von Frauen bewohnte Enklave, die in Abwesenheit von Männern eine freie Gesellschaft ohne Krieg und Unterdrückung geschaffen haben. Neben dem utopischen Gesellschaftsentwurf geht es der Autorin in erster Linie darum, zu zeigen, dass Frauen – was heute nicht mehr so aufregend oder gar schockierend wirken mag, wie es damals vor allem auf das männliche Lesepublikum gewirkt haben muss – alles können, was Männer auch können. Das verdeutlicht sie unter anderem auch daran, dass sie ihren Frauen in Herland Positionen zuweist, die als Männerdomänen galten, die bestehenden Verhältnisse also nur ein wenig auf den Kopf stellt. Ähnlich, wenn auch mit deutlich satirischem Charakter, geht die norwegische Schriftstellerin Gerd Brantenberg in ihrem Roman Egalias døtre (1977, deutsch: Die Töchter Egalias) vor, indem sie in ihrem fiktiven Land Egalia die Männer zum schwachen, unterdrückten und ausgebeuteten Geschlecht, die Frauen dagegen zum starken und bestimmenden macht. Auffällig an beiden Büchern ist, dass keines die traditionellen Geschlechterrollen infrage stellt, sondern sie lediglich auf den Kopf stellt.
Was uns noch einmal zurück zu Herbert Grönemeyer führt. In seiner eingangs erwähnten kleinen Apologie des »Machismo« betont Grönemeyer, »Männer haben’s schwer«, denn sie »werden als Kind schon auf Mann geeicht«. Das wirft eine interessante Frage auf, nämlich die, ob und inwieweit geschlechtertypisches Verhalten tatsächlich zwangsläufig ist, mit anderen Worten, wird es uns in die Wiege gelegt oder anerzogen oder, nochmal anders formuliert, ist »Geschlecht«, abgesehen von tatsächlichen biologischen Unterschieden, etwas Reales oder nur ein gesellschaftliches Konstrukt?
Auch diese sogenannte Gender-Diskussion lässt sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen und fand neben theoretischen – und mitunter sehr abstrakten und akademischen – Diskussionen auch Eingang in die Literatur. Verwunderlich ist das, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, sicher nicht.