Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
Alder hat in einem Talk über queeres Spieldesign aufgezeigt, wie sehr Heteronormativität auch Grundlage von Spielmechaniken ist und wie man diese aufbrechen kann. Viele der von ihr genannten Aspekte lassen sich ebenso auf Erzählstrukturen und Weltenbau in der Literatur anwenden.
Die Rolle der Gemeinschaft
Ein erstes Beispiel ist die Berücksichtigung der großen Rolle, die die Gemeinschaft spielt, und das Teilen der eigenen Ressourcen mit dieser. Eine solche Erzählung findet sich beispielsweise in dem Cyberpunk-Roman The Tiger Flu von Larissa Lai. Dieser entwirft eine Gemeinschaft geklonter Frauen, unter denen die sogenannten Starfish eine besondere Rolle spielen: Sie können Organe und Gliedmaßen nachwachsen lassen und geben diese an andere Mitglieder der Community weiter. In einem Interview zum Buch gibt Lai an, dass eine der Inspirationen für den Roman die Idee war, dass Menschen in einer Gemeinschaft biologisch voneinander abhängig sind. Das Weitergeben der Organe nimmt außerdem Bezug auf die Geschichte Those Who Walk Away from Omelas von Ursula Le Guin. Während dort ein Kind, das unter der Stadt gegen seinen Willen gehalten wird, leidet und alles Negative für die Gesellschaft aufzusaugen scheint, befindet sich die Starfish in The Tiger Flu in einer Liebesbeziehung mit einer anderen Frau der Gemeinschaft und sieht das Versorgen der anderen Frauen mit Teilen ihres Körpers als ihre Pflicht an.
Gemeinschaft und schwierige, komplizierte Beziehungsgeflechte sind ein weiteres Merkmal von queerem Weltenbau. Eine der am häufigsten vorkommenden unrealistischen Darstellungen von queeren Figuren ist diejenige, die sie allein auftreten lässt. Eine einzige queere Person in einem ansonsten heteronormativen Personenkreis mag sich als Konzept interessant anhören, ist aber völlig lebensfern gedacht. Queere Menschen suchen und finden einander, und oft ergeben sich dabei Gemeinschaften, die davon geprägt sind, aufeinander angewiesen zu sein und deshalb auch trotz größerer Differenzen zusammenzuhalten. Die bekanntesten Formate über queeres Leben, beispielsweise Serien wie Queer as Folk, The L Word oder Pose, beinhalten stets auch diese Gruppendynamik. Im Gegensatz dazu beginnen viele klassische Heldengeschichten damit, dass eine Gemeinschaft zurückgelassen wird oder verloren geht, wenn das Abenteuer ruft. Gerade beim freiwilligen Aufbruch der Held*innenfigur geht damit auch die Annahme einher, dass sich eine neue Gemeinschaft schon finden wird oder in die alte zurückgekehrt werden kann. Dies ist eine Annahme, die queere Menschen in der Realität nicht ohne Weiteres treffen können. Das Festhalten an einer Gemeinschaft trotz Differenzen zwischen ihren Mitgliedern, die Abhängigkeit voneinander und das stetige Aushandeln der Bedingungen des Zusammenlebens sind also weitere Elemente, die Erzählungen und fiktive Welten weniger heteronormativ machen. Solche Gemeinschaften finden sich beispielsweise in der Roman-Dilogie Semiosis und Interference von Sue Burke, in der von der Erde stammende Menschen einen neuen Planeten besiedeln und sich hierbei mit intelligenten Pflanzen arrangieren und mit diesen kommunizieren müssen. Auch in der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers geht es immer wieder um das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Spezies. Die MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood entwirft sowohl die Gardeners als Gemeinschaft, die nur gemeinsam gegen die Umweltkatastrophen anarbeiten kann, als auch die Idee von mehreren Spezies, die sich nach dem Untergang der Zivilisation miteinander arrangieren müssen.
Einen weiteren Aspekt von queeren Erzählstrukturen bezieht The Stars Change von Mary Anne Mohanraj mit ein. In dieser Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine übergreifende Romanhandlung ergeben, werden aus unterschiedlichsten Perspektiven die Ereignisse eines Bombenangriffs auf eine Stadt auf einem fremden Planeten erzählt, die von menschlichen Siedelnden und verschiedenen Aliens bewohnt wird. Das Besondere hierbei ist, dass all die unterschiedlichen Protagonist*innen der einzelnen Erzählungen durch verschiedenste Formen sexueller oder romantischer Beziehungen verbunden sind. Auch dies ist ein Merkmal queerer Gemeinschaften, die sich dadurch auszeichnen, dass auch Ex-Geliebte, ehemalige Affären oder Ehepartner*innen immer noch Teil derselben Gemeinschaft bleiben. The Stars Change thematisiert zudem auch das Konfliktfeld zwischen Herkunftsfamilie und Gemeinschaft – mal auf ganz deutliche Weise, indem eine der Protagonist*innen die Beziehung zu ihrer Freundin aus Angst vor der Reaktion ihrer Familie beendet, mal eher verklausuliert, indem ein Angehöriger einer Alienspezies lieber den Freitod wählt als sich, wie es seine Aufgabe wäre, seiner Familie als Nahrung zur Verfügung zu stellen.
Vom Suchen nach Identität
Die Suche nach der eigenen Identität, die tiefer geht als die Frage nach Herkunft oder Rolle in einer Gruppierung, ist eine weitere Möglichkeit, queere Geschichten zu erzählen. Die wenigstens cis-heterosexuellen Menschen denken darüber nach, ob sie auch wirklich heterosexuell sind, ob sie sich wirklich als cis bezeichnen dürfen, ob sie wirklich Teil der queeren Community sind. Für jene Personen, die von der heteronormativen Norm abweichen, bedeutet dies oft ein lebenslanges und immer wieder neu geführtes Nachdenken über und Definieren der eigenen Sexualität, Genderidentität und auch Körperlichkeit. Körperliche oder soziale Dysphorie, also das Gefühl von Unwohlsein mit dem eigenen Körper oder der von anderen auferlegten Geschlechterrolle, ist etwas, was vor allem trans und nicht binäre Personen (aber auch andere queere Menschen) kennen. Auf drastische Weise wird dies z. B. im Horror-Computerspiel The Missing thematisiert. Die Protagonistin J. J. kommt dem Ziel, ihre Freundin zu retten, nur näher, indem sie ihren eigenen Körper auf verschiedenste Weise verstümmelt, auseinanderreißt und als Werkzeug einsetzt, was sich im Verlauf des Spiels als Metapher für ihre (nicht geoutete) trans Identität herausstellt. Auch wenn Geschichten über queeren Schmerz immer vorsichtig betrachtet werden sollten, da zu oft queere Personen nur über ihre Identität und das Leiden darunter dargestellt werden, kann eine solche Umsetzung Aussagen über den Kampf treffen, den queere Menschen ausfechten müssen. Ein Review zum Spiel von Julie Muncy fasst es so zusammen: »Es geht um das dauerhafte Spielen einer Rolle, die nicht deine ist. Um den Schrecken, von deinem Umfeld nicht als ›männlich genug‹ angesehen zu werden. Um den stummen Schmerz, wenn deine Eltern und Freund*innen unsensible oder noch schlimmere Kommentare über die Art von Person machen, die du im Geheimen bist. Es ist der Schmerz von Geheimnissen, von systematischer Unterdrückung, von einer Gesellschaft, die etwas dagegen hat, dass du die Wahrheit über dich herausfindest.«
Ebenso wichtig wie Geschichten über den schmerzlichen Kampf mit der eigenen Identität sind solche, in denen die Suche nach ihr erfolgreich ist und in der die Grenzen der Erwartungen der Gesellschaft gesprengt werden können. Auch wenn es nicht direkt um queere Figuren geht, darf hier wohl die Serie Westworld genannt werden, in der es immer wieder darum geht, wie vor allem weibliche Figuren gegen die ihnen zugedachten Rollen rebellieren. Ein weiteres Beispiel ist der zweite Teil der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers, A Closed and Common Orbit (dt. Zwischen zwei Sternen), in dem eine KI und ein geklontes Mädchen versuchen herauszufinden, wer sie sind und wer sie sein wollen.
Die Akzeptanz des Andersseins
Im Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive liegt eine große Chance darin, Gesellschaft anders zu denken, das Anderssein zu akzeptieren und anzunehmen und Eigenschaften positiv herauszustellen, die in unserer patriarchal-heteronormativen Gesellschaft abgewertet werden. Oft geht es in fiktiven Science-Fiction-Welten nur darum, wie sich diese technisch, biologisch oder physikalisch von unserer unterscheiden, während das Neu-Denken von Zusammenleben, Geschlechterrollen, Sexualität und Gesellschaftsstrukturen eine sekundäre Rolle spielt und reale Gegebenheiten nicht hinterfragt und übernommen werden. Eine wichtige Rolle beim Entwerfen einer im Grundsatz queeren Gesellschaft spielt der Gedanke, dass alle Personen mit ihren Eigenheiten, besonderen Stärken und Schwächen, ihrem Anderssein und ihren Absurditäten willkommen und wichtig sind. Dies gilt nicht nur für Queerness, sondern auch für körperliche und neurologisch-psychische Abweichungen von der Norm. So entwerfen beispielsweise Judith und Christian Vogt in ihrem Roman Wasteland eine Gemeinschaft, in der neurodiverse Personen (wie beispielsweise der bipolare Protagonist) ihren Platz finden und akzeptiert werden, ohne dafür ihr Anderssein durch Medikamente der Mehrheit anpassen zu müssen. Auch die Vorstellung der Kleinfamilie wird in diesem Roman aufgebrochen (beispielsweise durch drei in einer polyamoren Beziehung lebende Frauen, die gemeinsam eine große Gruppe von Enkeln erziehen), ebenso wie im dritten Band der WAYFARER-Reihe Unter uns die Nacht von Chambers, in der menschliche Siedelnde auf einem anderen Planeten in Kleinsteinheiten leben, die anarchistisch anmuten und gemeinsam über ihre Belange entscheiden. Auch Sexarbeit wird in diesem Buch positiv und ohne Stigma dargestellt.
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