Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
Scalzi, Das Imperium der Ströme 3 (im Erscheinen) [The Last Emperox, 2020]
Kai U. Jürgens
»Ich könnte diese vage, verschwommene Stadt verlassen …«
Zum 40. Geburtstag der Übersetzung von Samuel R. Delanys Roman Dhalgren
Mein Leben hier ähnelt mehr und mehr einem Buch,
dessen Anfangskapitel, ja auch dessen Titel Rätsel
beinhalten, die erst am Ende enthüllt werden.
Dhalgren, S. 956[1]
1
Jede Literatur hat ihre Großromane: Bücher, die bereits dem Umfang nach Herausforderungen darstellen und mit dem respektgebietenden Nimbus versehen sind, ihre Themen auf innovative, komplexe und bisweilen schwer verständliche Weise abzuhandeln. Mitunter geht von diesen erratisch wirkenden Ungetümen eine erstaunliche Aura aus, die sie nicht nur zu erfolgreichen »Longsellern«, sondern auch zu Kultbüchern macht. Ulysses (1922) von James Joyce wäre so ein Fall oder Zettel’s Traum (1970) von Arno Schmidt; ein Zehnkiloobjekt, das seinen Ruf als Überbuch in immer neuen Auflagen (und zwei Raubdrucken) verteidigt.
Im Bereich der Science Fiction kommt dieser Status Dhalgren von Samuel R. Delany zu, ein im Original »voluminös verstörender«[2] 800-Seiten-Roman, der 1975 erstveröffentlicht wurde und trotz ambivalenter Kritiken – sowohl Harlan Ellison als auch Philip K. Dick lehnten das Buch ab – zum erfolgreichsten Titel des Autors wurde; die Gesamtauflage soll eine Million Exemplare schon länger überschritten haben. Acht verschiedene Ausgaben sind über die Jahre erschienen; dazu kommen noch eine Version als E-Book und eine limitierte Auflage für Sammler. Und das, obwohl offenbar kein Verlag bislang die den Autorenintentionen entsprechende Fassung einzurichten vermochte, wie eine von Delany autorisierte und umfängliche Korrekturliste aus dem Jahr 2012 belegt.[3]
In Deutschland erschien Dhalgren im September 1980 als »SF-Special« bei Bastei Lübbe, wobei Michael Görden als Herausgeber fungierte und Michael Kubiak das Lektorat besorgte. Annette Charpentier[4] hat bei Dhalgren »wochen-, ja monatelang an der Übersetzung herumgetüftelt« und schreibt rückblickend: »Ich weiß noch, wie ich mich völlig in den Text versenkt habe, sozusagen von innen heraus übersetzt, und manche Szenen sind mir noch lebhaft im Gedächtnis.«[5] Die Leistung ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass kein Kontakt zum Autor bestand.[6] Dhalgren eröffnete eine Art Werkausgabe, in deren Verlauf der Verlag Bastei Lübbe bis 1988 die meisten Delany-Texte mit Genrebezug veröffentlichen konnte. Dieser weitreichende Schritt dürfte auf das gestiegene Publikumsinteresse in der Nachfolge des Welterfolgs Star Wars (George Lucas; USA 1977) zurückzuführen sein, der den etablierten Science-Fiction-Reihen und ihren Herausgebern neue Spielräume ermöglichte. Dass diese nicht von Dauer sein sollten, zeigt sich schon daran, dass Bastei Lübbe den NEVÈRYON-Zyklus unabgeschlossen ließ, da der vierte Band The Bridge of Lost Desire (1987) dort nicht erscheinen konnte. Dies mag auch damit zu tun gehabt haben, dass Delany in einem Verlag erschien, der vom Feuilleton nicht wahrgenommen wurde, sodass ein literarisch erfahreneres Publikum dort nicht einzuspringen vermochte, wo Genreenthusiasten zunehmend mit Ratlosigkeit und Desinteresse reagierten. Dhalgren konnte zwar im November 1981 noch eine zweite Auflage erreichen, doch die offensichtlichen Ambitionen wurden dem Roman selbst in Reclams Science Fiction Führer zum Vorwurf gemacht – er wäre keine SF, daher an Hochliteratur zu messen und im Hinblick auf Thomas Pynchons Meisterwerk Gravity’s Rainbow (1973; dt. Die Enden der Parabel) »arm an Aussagen und Originalität«.[7] Nachfolgend sollte es dann nur sehr vereinzelt zu einer weiteren Beschäftigung mit Delany im deutschsprachigen Raum kommen. Kein Wunder also, wenn Dhalgren unterdessen weitgehend vergessen ist; ein Schicksal, das das Buch mit seinem Autoren teilt: Die 2012 begonnene Neuedition von Delanys Werken durch den Golkonda Verlag ist trotz aller Sorgfalt bereits drei Jahre später ins Stocken geraten; eine Weiterführung erscheint fraglich. Annette Charpentier: »Für Dhalgren war auch eine überarbeitete Neuausgabe geplant, bei Golkonda, wiederum unter Michael Görden, aber das Projekt wurde nach den sehr mäßigen Verkaufszahlen der Neuauflage der Nimmèrÿa-Geschichten nicht realisiert.«[8]
Bedenkt man, welche Rolle Delany im literarischen Betrieb der USA spielt, dann trägt diese Entwicklung zumindest erstaunliche Züge. Der Autor ist dort nämlich längst keine Genrefigur mehr, sondern wird schon lange als »Schüsselautor der Postmoderne«[9] gewürdigt; er gilt als »writer and thinker whose work had an enormous influence across a startling range of literary and paraliterary genres, including science fiction, autobiography, pornography, historical fiction, comic books, literary criticism, queer theory, and more«.[10] Doch selbst wenn man sich auf seine Anfänge als reiner Science-Fiction-Autor beschränkt, liegt die Messlatte hoch: »Unbestritten war [Delany] zusammen mit Roger Zelazny das Ereignis in der amerikanischen Science Fiction der sechziger Jahre und hat, wie kaum ein zweiter, die Gestalt und die Ausdrucksfähigkeit der Gattung auf ein neues, in diesem Genre nicht zu vermutendes Niveau gehoben.«[11] Dass für Delany hierzulande weder in- noch außerhalb der SF Platz sein soll, bleibt eine irritierende Tatsache. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, welche Akzeptanz die Bücher von Philip K. Dick oder William Gibson unterdessen genießen.
Samuel R. Delany
2
Welche Perspektiven ergeben sich nun auf Dhalgren, wenn man das Buch vierzig Jahre nach Erscheinen liest? Lässt man die Tatsache beiseite, dass die fünfeinhalb Zentimeter Buchrücken in der Tat schwer handhabbar sind, zeigt sich der Roman trotz seiner zeitgenössischen Bezüge – wie Raumfahrt, Vietnamkrieg und Jugendkultur – kaum gealtert, zumal überzeitliche Aspekte dominieren: Selbsterfahrung, kreative Entfaltung und das Ausleben der eigenen Sexualität sind ebenso zeitlos wie der nach wie vor schwelende Konflikt zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe. Auch wenn Dhalgren in vielen Dingen ein »typischer« Roman aus den USA der 1970er-Jahre ist, lässt er sich keineswegs auf die Dekade festlegen. Vor allem erzählerisch erscheint er weiterhin frisch: Die größte Herausforderung beim Lesen besteht darin, die bewusste Vagheit und Verschwommenheit zu akzeptieren, die das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht – der Erklärungsmangel wird »zu einem wesentlichen Faktor«[12] in der literarischen Ausgestaltung. Dhalgren ist fragmentarisch, sprunghaft und gegen jede lineare Lektüre entworfen, was eine kausale Interpretation erschwert. Obwohl der Roman durchaus eine wiedergebbare Geschichte erzählt, bleiben viele Details – wie etwa die Zeitstruktur und die Beschaffenheit bestimmter Ereignisse – dauerhaft offen und müssen in dieser Offenheit auch akzeptiert werden. Dies ist speziell aus der auf Eindeutigkeit abzielenden Genreperspektive eine Herausforderung, und so schreibt William Gibson treffend: »Dhalgren is not there to be finally understood. I believe its ›riddle‹ was never meant to be ›solved‹.«[13]
3
Zunächst kurz zum Autor und zur Handlung. Der 1942 geborene Samuel R. Delany hatte bereits mit zwanzig Jahren begonnen, SF zu veröffentlichen, wobei seine frühen Arbeiten literarisch weniger ergiebig sind. Ab 1966 jedoch publizierte er in rascher Folge ambitionierte und vielschichtige Bücher, die beinahe durchgehend preisgekrönt wurden: Babel-17 (1966; dt. Babel-17), The Einstein Intersection (1967; dt. Einstein, Orpheus und andere) sowie Nova (1968; dt. Nova) gehören mit den beiden Erzählungen »Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones« (1968; dt. »Zeit, angenommen als eine Helix aus Halbedelsteinen«) und »Aye, and Gomorrha« (1966; dt. »Jawohl, und Gomorrha«)[14] zu den wichtigsten modernen Science-Fiction-Arbeiten überhaupt und sind im US-amerikanischen Kontext dieser Zeit mit den besten Texten von Thomas M. Disch, Robert Silverberg und Roger Zelazny gleichzusetzen; ihre Zugehörigkeit zur »New Wave« dürfte unstrittig sein. Delanys Talent und seine breit gefächerten Interessen sollten ihn mit Dhalgren (1975) erstmals in einen Bereich bringen, der mit dem Etikett »Science Fiction« nur ungenügend erfasst wird; dies gilt auch für seine nachfolgenden Romane Triton (1977) und Stars in My Pocket Like Grains of Sand (1984; dt. In meinen Taschen die Sterne wie Staub), die aber formal konventioneller ausfallen. Seither hat Delany Science Fiction weit weniger beschäftigt als etwa die Fantasy (RETURN TO NEVÈRŸON-Serie, 1979–1987),