Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
siebenundzwanzigjähriger »Indio-Amerikaner« (S. 95) macht sich, nachdem er in einer Höhle eine Kette aus Prismen gefunden hat, auf den Weg nach Bellona, einer verbotenen Stadt, die von einer unbestimmten und lokal begrenzten Katastrophe heimgesucht wurde. Beim Betreten erhält er, der seinen Namen nicht kennt, von zwei jungen Frauen eine als »Orchidee« bezeichnete Waffe und kurz darauf vom Ingenieur Tak Loufer einen Namen: Kid (auch »Kidd« oder »The Kid«). Er lernt Mitglieder einer Jugendgang kennen, die sich als »Skorpione« bezeichnen und auf der Straße hinter Hologrammen verstecken. Von der attraktiven Lanya, die kurz darauf seine Geliebte wird, bekommt er ein bereits benutztes Notizbuch, auf dessen leeren Seiten er Lyrik und spontane Beobachtungen festhält; dabei gibt es Hinweise darauf, dass die Aufzeichnungen zumindest Teile des Texts von Dhalgren enthalten. Kid bemerkt am Nachthimmel einen zweiten Mond und lernt nach und nach verschiedene Subkulturen von Bellona kennen, die sich auf ihre Weise mit der zerstörten Infrastruktur der Stadt arrangiert haben. Familie Richards beispielsweise simuliert eine »Heile Welt«, in welcher der Vater jeden Tag zur Arbeit geht, wohingegen ihre (weiße) Tochter unentwegt versucht, eine sexuelle Beziehung mit dem (schwarzen) George Harrison einzugehen, obwohl er sie einem – allerdings fragwürdigen – Zeitungsbericht nach vergewaltigt haben soll. Als ihr Bruder droht, ihre Neigung publik zu machen, stößt sie ihn in einen Fahrstuhlschacht. Kid hilft den Richards bei einem Umzug, wird aber um seinen Lohn geprellt. Seine Gedichte finden bei dem Dichter Ernest Newboy Anklang, und er erhält von dem Zeitungsverleger Roger Calkins das Angebot, sie in Buchform erscheinen zu lassen. Kid entscheidet sich für den Titel Messing Orchideen. Er nimmt am Überfall auf ein Kaufhaus teil und bemerkt, dass er fortgesetzte Schwierigkeiten mit der Zeitwahrnehmung hat. Sein Buch wird wunschgemäß anonym veröffentlicht; kurz darauf erscheint über Bellona eine riesenhaft aufgeblähte Sonne, die jedoch keine Hitze ausstrahlt. Kids Versuche scheitern, dieses Phänomen wie auch das Rätsel um den zweiten Mond mit dem Astronauten Captain Michael Kamp zu lösen, der ebenfalls keine Erklärung findet. Kid und Lanya gehen mit dem fünfzehnjährigen Denny eine dauerhafte Ménage à trois ein, die aber weitere sexuelle Eskapaden nicht ausschließt. Kid rutscht immer mehr in die Rolle eines Anführers der Skorpione hinein, was bisweilen zu ruppigem Verhalten bei Streitereien führt. Zufällig entdeckt er, dass die hochgeachteten Insignien der Skorpione – wie etwa seine Kette – Produkte industrieller Massenfabrikation sind. Das Erscheinen der Messing Orchideen wird bei Roger Calkins gefeiert, dabei muss sich Kid anhören, er habe die Gedichte gar nicht selber geschrieben, sondern in besagtem Notizbuch vorgefunden. Nach einer Phase vorübergehenden Selbstbewusstseins wachsen nun seine Selbstzweifel.
Während die ersten sechs Teile von Dhalgren größtenteils personal erzählt werden, dominiert im siebten und letzten Kapitel die Ich-Perspektive. Der Text zerfällt in zahlreiche, teilweise mehrspaltig montierte Fragmente, die bisweilen Streichungen aufweisen und von einer Herausgeberinstanz kommentiert sind. – Kid hat mit George Harrison Kinder gerettet und wundert sich, dass der Farbige in dem entsprechenden Zeitungsartikel nicht vorkommt. Kurz darauf wird Kid aufgrund seiner vergleichsweise hellen Hautfarbe verdächtigt, für ein rassistisches Attentat verantwortlich zu sein, was er abstreitet. Kid bringt die Arbeit am Notizbuch zu Ende und hört von einem zweiten Gedichtband, den er geschrieben haben soll, von dem er jedoch nichts weiß. Er begegnet endlich Roger Calkins, der sich in ein Kloster zurückgezogen hat und als Politiker versteht; an Kids Literatur hat er kein Interesse, wohl aber an dessen Rolle in Bellona. Schließlich schreibt Kid in der dritten Person über sich selbst und stellt fest, dass sein Leben mehr und mehr einem Buch ähnelt, bei dessen Lektüre sich der Eindruck einstellt, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956). Es kommt zu einer psychoanalytischen Sitzung bei Madame Brown, in deren Verlauf Kid äußert, dass er Bellona – die »vage, verschwommene Stadt« (S. 489) – verlassen will. Bei einem ausgelassenen Fest erinnert er sich an seine Vornamen »Michael Henry«; der Reporter Bill, mit dem er sich kurz darauf unterhält, ist offenbar jener »William Dhalgren«, dessen Name Kid auf einer Liste begegnet ist, die dem Notizbuch beilag. Kurz darauf findet eine unbestimmte Katastrophe statt, bei der es sich auch um jene handeln könnte, die Bellona vor Handlungsbeginn zerstört hat. Kid verlässt die Stadt und gibt seine Orchidee einer jungen Frau, die nach Bellona will; dabei kommt es zu zahlreichen spiegelbildhaften Entsprechungen der Szene zu Beginn des Romans. Der letzte Satz des Buchs geht (beinahe) nahtlos in den allerersten über: »Warte hier, weg von dem schrecklichen Waffenarsenal, heraus aus den Hallen aus Dunst und Licht, jenseits der Leinwand und in die Berge bin ich gekommen / um / die herbstliche Stadt zu verwunden.« (S. 1011 und S. 5) Der Roman erweist sich als Text ohne Anfang und Ende, der nach dem Prinzip einer Möbiusschleife funktioniert; er könnte daher auch an einem anderen Punkt beginnen oder abschließen.
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Dieses Prinzip ist eine Anlehnung an Finnegans Wake (1939) von James Joyce, da der letzte Satz in den ersten übergeht. Auch wenn man diesen Aspekt nicht überbetonen sollte – eine Schleifenstruktur besitzt auch das 1973 erschienene Album The Dark Side of the Moon von Pink Floyd –, führt das Stichwort Joyce zu Delanys Erzählung Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones: Alle falschen Identitäten des Erzählers beginnen mit den Initialen »H. C. E.« und sind damit eine Anspielung auf die Figur des Humphrey Chimpden Earwicker aus Finnegans Wake. Tatsächlich nimmt die preisgekrönte Arbeit über einen kriminellen Händler und eine Ermittlerin viele Motive aus Dhalgren vorweg; genannt seien das subkulturelle Milieu, das Thema der Namensfindung und die Existenz einer Stadt namens Bellona. Zudem werden nicht alle Fragen beantwortet – womit die Figur handelt, bleibt genauso unklar wie der Hintergrund jener Instanz, die die Namen von Halbedelsteinen als Losungsworte verbreitet. Auch Aye, and Gomorrha weist auf Dhalgren voraus: Die Kurzgeschichte um eine Kultur, in der asexuelle »Raumer« gegen Bezahlung fetischistische Beziehungen mit Menschen beiderlei Geschlechts (den »Frelks«) unterhalten, ist bereits von jener sexuellen Ambiguität, die den späteren Roman prägt; dazu passt, dass der Erzähler erneut ein Indio-Amerikaner (wenngleich mit betont dunkler Hautfarbe) ist, dessen Name ungenannt bleibt. Auch hier würde ein genauerer Vergleich weitere Parallelen zutage fördern.
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Dhalgren lässt sich in erster Linie als die Geschichte von Kid und damit als Entwicklungsroman beschreiben. Der junge Mann betritt Bellona als Namenloser, der sich selbst nicht kennt und nun neue Erfahrungen macht, die ihn an die Spitze der Skorpione, in eine Dreierbeziehung und schließlich zum Schreiben führen. Doch er lernt auch seine negativen Seiten kennen, zum Beispiel seinen Hang zur Gewalttätigkeit, der sich in einem sinnlosen Raub – Beute: »drei Dollarnoten« (S. 886) – entlädt. Und er zweifelt an seinen kreativen Fähigkeiten. Nach einer ersten Phase, die von Anmaßungen und Größenwahn (»Selbst-Pontifikation«, S. 537) bestimmt ist, wird er mit massiver Kritik und dem Vorwurf konfrontiert, fremde Texte als die eigenen ausgegeben zu haben. Er schreibt zwar weiter, steht seiner Lyrik aber zunehmend gleichgültig gegenüber; als neue Gedichte verbrennen, gibt er sich unbeeindruckt: »Ich konnte sie nicht leiden. Deshalb ist es gut … daß sie weg sind.« (S. 958). Ob ein zweiter Lyrikband erscheint, bleibt bezeichnenderweise offen, zumal sich Kid weigert, ihn von Roger Calkins verlegen zu lassen, dem gegenüber er abstreitet, noch länger ein Schriftsteller zu sein: »Ich glaube, ich bin kein Dichter … nicht mehr, Mr. Calkins. Ich bin auch nicht sicher, ob ich je einer war.« (S. 938). Was Kid in erster Linie bleibt, sind die Vornamen »Michael Henry«, an die er sich erinnert hat. Zwar fehlt ihm der mit »F« beginnende Nachname, womit der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, aber um ein greifbares Ergebnis handelt es sich allemal.
Kids Biographie wird im Buch vergleichsweise ausführlich dargestellt, während die meisten anderen Figuren geschichtslos bleiben. Auffällig sind zwei Eigenschaften an ihm: Sein linker Fuß ist unbekleidet (am rechten trägt er zunächst eine Sandale, dann einen Stiefel), und er hat ein Sauberkeitsproblem. Kid erscheint schmutzig, bisweilen stinkend; seine Reinigungsprozesse – wie etwa das Bad bei den Richards[15] – werden ausführlich dargestellt, vermögen an seinem Zustand aber dauerhaft nichts zu ändern. Beide Elemente lassen sich auch in anderen Texten von Delany nachweisen und werden hier als private Obsessionen gewertet, die aus Dhalgren allein nicht abzuleiten sind.[16] Kid gibt gleich zu Beginn sein Alter mit »Siebenundzwanzig« (S.