Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
zeigt sich Bellona als ein schwer bestimmbarer Ort, an dem sich Straßen und Orte unentwegt zu verändern scheinen und selbst die Richtung des Sonnenaufgangs Rätsel aufgibt: »Die ganze Stadt bewegt sich, ändert sich, formt sich um. Immerzu. Und formt uns um …« (S. 50) In ihrer Rolle als Katalysator für Selbstfindungsprozesse ist Bellona genau das, was Kid interessiert, zumal sie auch eine zeitliche Entrückung auszeichnet. Die Protagonisten sind sich bewusst, in einer »ewigen« (S. 624) bzw. »zeitlosen« (S. 825/900) Stadt am »Rand von Wahrheit und Lügen« (S. 604) zu leben, die von der Umwelt »vergessen« (S. 84) wurde und in der selbst Naturgesetze nur bedingt Gültigkeit besitzen; Roger Calkins trägt dieser Tatsache Rechnung, indem er die Bellona Times mit willkürlichen Datumsangaben ausstattet, auf die ebenso wenig Verlass ist wie auf manche der abgedruckten Artikel. Damit unterscheidet sich Bellona fundamental von typischen Katastrophenstädten der Science Fiction, die eindeutig gestaltet sind; in ihrer Rolle als kreativer Impulsgeber erinnert sie allenfalls an die Palm Springs nachempfundene Künstlerkolonie Vermilion Sands in dem gleichnamigen Buch von J. G. Ballard (1971; dt. Die tausend Träume von Stellavista).
Doch Bellona ist mit zwei Himmelsbeobachtungen verbunden: Einer sich aufblähenden Riesensonne, die kurz am Himmel zu sehen ist, und der Tatsache, dass der Erdmond hier einen zweiten und erheblich kleineren Begleiter hat, der nur halb ironisch den Vornamen von George Harrison erhält.[23] Kid – »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen« (S. 556) – versucht, beide Phänomene mit Captain Michael Kamp zu klären, einem Teilnehmer der fünften erfolgreichen Mondlandung,[24] der damit als wahrheitsstiftende Instanz fungiert; hierzu passt, dass Kid gerne selber »zum Mond gehen« (S. 591) möchte, um eine vergleichbare Position einzunehmen. Aber Kamp kann die beiden Objekte nur als Erscheinungen klassifizieren, die außerhalb von Bellona nicht nachweisbar sind, da sie sonst Gegenstand astronomischer Untersuchungen geworden wären: »Doch niemand hat mir davon berichtet.« (S. 578) Beide Phänomene lassen sich zumindest metaphorisch deuten – die kalte und folgenlos dahinglühende Sonne repräsentiert Kids rasch verblassende literarische Ambitionen (bzw. deren Wirkung in der Öffentlichkeit), während die Mondbenennung im Kontext der schwelenden Rassenkonflikte gesehen werden kann – nicht ein (weißer) Mond bestimmt die Szenerie, es müssen derer zwei sein. Dies klingt auch in Amy Taylors Predigt an: »Ihr habt also den Mond gesehen! Ihr habt also den George gesehen – den rechten und linken Hoden Gottes, so schwer am Morgen, daß sie durch die Schleier brachen und nackt über uns baumelten?« (S. 604) Die Darstellung ist – zumal im Rahmen einer Predigt – polemisch, bestätigt den Einheitsgedanken jedoch indirekt.
In Bellona trifft Kid schließlich auf William Dhalgren. Die Figur erscheint zunächst als Name auf einer Liste, die im Notizbuch enthalten ist[25] und verloren geht; schließlich kann sich Kid nur noch an ihn erinnern.[26] Er begegnet Dhalgren bezeichnenderweise auf jenem Fest, bei dem ihm seine Vornamen einfallen; dabei wird deutlich, dass es sich um jenen Bill handelt, der zuvor ein Interview mit ihm gemacht hat.[27] William weigert sich spaßhaft, Kid seinen Nachnamen zu nennen, solange der nicht den seinigen sagt, doch Kid erkennt, wen er vor sich hat: »Aber ich weiß, wie er heißt. Das kann nicht anders sein! Er kann nicht irgend jemand anders sein!« (S. 990) Die Figur ist eng mit Kids Selbstfindungsprozess verknüpft, auch wenn dieser unabgeschlossen bleibt und es letztlich erneut dem Rezipienten überlassen wird, in ihr den »William Dhalgren« der Liste zu identifizieren und sie mit dem Titel des Romans in Verbindung zu bringen. Dass hierbei letzte Gewissheiten verweigert werden, bestätigt erneut Delanys Grundkonzept.
7
Dhalgren ist ein Experiment zum Thema Freiheit und der Frage, wie weit Freiheit gehen und wie die dazu passende Gesellschaft aussehen könnte. Freiheit meint hier Unbestimmtheit, nämlich die weitgehende Abwesenheit von Gesetzen, selbst Naturgesetzen, aber auch von Identität. Diesem Ansatz entspricht die äußere Form, die Eindeutigkeiten vermeidet, um der Rezeption Spielräume zu eröffnen und Material zum intellektuellen Jonglieren zur Verfügung zu stellen. Damit ragt Dhalgren konzeptuell, thematisch wie stilistisch deutlich über die Grenzen der Science Fiction hinaus und ist für diese Rolle im Sinne eines emanzipatorischen Akts bewusst entworfen worden. Dies belegen nicht zuletzt die Bücher, die in Dhalgren erwähnt werden: Tak Loufer liest John Keats und Rimbaud, aber ebenso Titel zu den Hell’s Angels, den Thriller Deliverance (1970; verfilmt 1972) von James Dickey und den Sexroman Evil Companions (1968) von Michael Perkins,[28] dessen Einbandmotiv von der Surrealistin Leonor Fini ausdrücklich erwähnt wird. Diese Mischung ist betont unkonventionell und wird in dieser Eigenschaft auch ausgestellt. Und: »Es gab noch reichlich Science Fiction von Russ (etwas, das sich The Female Man nannte), Zelazny und Disch.« (S. 58) Tatsächlich ist Dhalgren unter anderem Thomas M. Disch, Judith Merril und Joanna Russ gewidmet; mit Disch, dessen Roman 334 (1972; dt. Angoulême) im Hinblick auf übereinstimmende Motive noch zu prüfen wäre, verband ihn damals eine intensive Freundschaft.[29] Das literarische Panorama, das hier aufscheint, ist so heterogen und egalitär wie Dhalgren selbst und macht zugleich deutlich, wie sich Delany die ideale Rezeption des Buchs vorstellt: Nämlich als unvoreingenommene Lektüre, die sich aus dem Bereich der Science Fiction ebenso speist wie aus dem der Nicht-Science-Fiction. Eine solche Ausrichtung wirkt unterdessen vertrauter, als dies 1975 der Fall gewesen sein mag; eine Herausforderung für das deutschsprachige Publikum bleibt sie weiterhin. Umso mehr wäre es an der Zeit, Dhalgren eine zweite Chance zu geben.
Der Verfasser bedankt sich bei
Annette Charpentier, Christopher Ecker
und Guido Sprenger für wertvolle Hinweise
und hilfreiche Kommentare.
[1] Alle Seitenangaben aus: Samuel R. Delany, Dhalgren, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1980.
[2] Jürgen Joachimsthaler: »Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Samuel R. Delanys Intervention ins Reich der Imagination(en)«. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität, hg. v. Sandra Kersten & Manfred Frank Schenke, Frank & Timme, Berlin 2005, S. 71–120, hier: S. 91.
[3] Kevin J. Ring: Corrections for the Vintage Books Edition of »Dhalgren«, 3rd, 4th, and 5th printings. http://www.oneringcircus.com/dh_errata.html.
[4] Annette Charpentier ist seit 1979 Übersetzerin und hat u. a. Bücher von Piers Anthony, Brian W. Aldiss, Marion Zimmer Bradley, Samuel R. Delany, William Morris und Mervyn Peake (Gormenghast, 1946–1959) übertragen. In ihrer Eigenschaft als Gesprächstherapeutin und Familienmediatorin wurden mehrere Ratgeber von ihr veröffentlicht.
[5] E-Mail an den Verfasser vom 12. Mai 2020.
[6] E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.
[7] Reclams Science Fiction Führer, hg. v. Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs & Ronald M. Hahn, Reclam, Stuttgart 1982, S. 121.
[8] E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.
[9] Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.
[10] Kenneth R. James, Introduction. In: Samuel R. Delany, 1984. Selected Letters, Voyant Publishers, Rutherford 2000, S. IX. Hier zit. n. Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.
[11] Florian F. Marzin: Mythologie und Sprache. Die Beziehung von Sprache und Mythologie in den Romanen Samuel R. Delanys. In: Das Science Fiction Jahr #7, Ausgabe 1992, hg. v. Wolfgang