Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов


Скачать книгу
wird,[17] ist die Frage ebenso wenig zu klären wie die nach seinem Aussehen. Einerseits werden seine Hände als »abstoßend« (S. 6) beschrieben, andererseits gilt er durchaus als »schön« (S. 7). Die hier aufscheinende Zerrissenheit ist typisch für Kid, der durchaus eine Figur mit Defiziten ist: Geboren im Staat New York als Kind einer Cherokee-Indianerin und eines weißen Methodisten, hatte er »ganz gute Noten in der High-School, aber nicht überragend« (S. 51); seine Zeit an der Universität war von Alkoholmissbrauch und anderen Problemen überschattet: »Ein paarmal habe ich mich beinahe umgebracht. Ich meine nicht Selbstmord. Einfach so, durch Dummheit.« (S. 51) Das College hat er ohne Abschluss verlassen und eine Zeit lang in der Provinz gearbeitet; er war zudem in Japan, Australien und kommt nun aus Mexiko. Doch Kid befand sich wegen Depressionen zwischenzeitlich auch in einer Heilanstalt, wobei zu seinen Symptomen – »ich konnte mich an bestimmte Dinge nicht erinnern« (S. 50) – eine Gedächtnisstörung und Halluzinationen gehörten. Dieses Krankheitsbild wird später aufgegriffen, wenn Kid bemerkt, dass er Probleme mit der Zeitwahrnehmung hat; auch spielt es im Gespräch mit der Therapeutin eine große Rolle, der er eingesteht: »Ich glaube, ich werde verrückt« (S. 968) und erläutert: »Ich füge schnell Dinge in mein Realitätsmodell hinein. Vielleicht zu schnell. Vielleicht macht mich das verrückt.« (S. 966). Die Therapeutin kommentiert: »Sie sind sehr verstört. Sie sind ansehnlich, intelligent, kräftig, vital, begabt. Aber die Grundstruktur Ihrer Persönlichkeit ist ungefähr so stabil wie eine gesprungene Teetasse.« (S. 973) Dies alles macht Kid sowohl zu einer beschädigten Figur als auch zu einem hochgradig unzuverlässigen Erzähler, dessen kognitive Defizite Dhalgren zumindest teilweise prägen. Zudem wird angeboten, in dem Buch das Resultat einer Geisteserkrankung zu sehen, was letztlich jedoch genauso wenig Ertrag erwirtschaftet wie jede andere ausschließliche Lesart.

      Kid beginnt, das Buch für seine eigenen Texte zu verwenden, wobei er zunächst bescheiden anmerkt: »Ich schreibe einfach so Sachen auf.« (S. 185) Erst anlässlich der Begegnung mit dem Schriftsteller Ernest Newboy bezeichnet er sich als Lyriker, was dieser mit einem Publikationsangebot im Namen von Roger Calkins quittiert. Kurz darauf formuliert Kid sein Ziel: »Ich möchte Dichter sein. Ich möchte ein großer, berühmter, wunderbarer Dichter sein.« (S. 216) Diese Rolle besetzt er rasch, auch wenn er gegenüber Frank – einem weiteren Schriftsteller – zugibt, noch nichts veröffentlicht zu haben und erst kurze Zeit Dichter zu sein; der Zusatz »Seit ich hier bin« (S. 364) verweist auf die spezifische Rolle Bellonas als Katalysator. Kid hat erste Erfolge und träumt von künstlerischem Ruhm, muss jedoch bei einem weiteren Gespräch Newboy gegenüber eingestehen, dass nicht alles im Notizbuch von ihm stammt, was dieser mit »Das ist aber peinlich« (S. 447) kommentiert. Die Frage, was Kid geschrieben hat und was nicht, wird auf der Party diskutiert, die Roger Calkins veranstalten lässt und auf der Frank zunächst die Gedichte als »pompös und überemotional« (S. 791) kritisiert, um dann – »Ich frage mich übrigens, […] ob er sie wirklich selber geschrieben hat« (S. 800) – die Autorschaft anzuzweifeln. Im 7. Kapitel zeigt sich Kid über das Erreichte verunsichert. Einerseits beendet er das Notizbuch, weil es vollgeschrieben ist, andererseits räumt er ein: »Manchmal kann ich nicht sagen, wer was geschrieben hat.« (S. 872) Auch ist die Chronologie der Einträge unklar. Entsprechend häufen sich Selbstzweifel: »Ich bin kein Dichter« (S. 903) und »Ich schreibe nichts« (S. 927) – eine Aussage, die allerdings im Widerspruch zu den neuen Gedichten steht, die am Ende des Romans verbrennen. Der Eindruck, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956), den Kid auf sein Leben bezieht, überträgt sich mehr und mehr auf das Buch, das schließlich in einer Katastrophe endet. Die Stadt wird zerstört, und Kid verlässt Bellona in dem Glauben, keine Dichterpersönlichkeit mehr zu sein. Doch da das Romanende in den Anfang übergeht, wiederholt sich der Zyklus, diesmal womöglich mit einer weiblichen Version von »Kid«, die das vollgeschriebene Notizbuch weiterführt: Es ist ja bereits jetzt in »vier völlig verschiedene[n] Handschriften« (S. 446) gehalten, sodass eine weitere trotz des vollgeschriebenen Zustand denkbar wäre.

      6

      Dies alles spielt sich in Bellona ab, deren Name nicht zufällig auf die römische Kriegsgöttin verweist. Zum einen wirkt die Stadt im Kontrast zu ihrem Umfeld wie ein abgegrenzter mythologischer Bereich, zum anderen erscheint sie tatsächlich als ein gewalttätiger und anarchistischer Ort. Tak Loufer erklärt Kid, in Bellona wäre er »frei«: »Keine Gesetze; keine, die man erfüllt, keine, die man bricht. Kannst tun, was du willst.« Und: »Sehr schnell, überraschend schnell wirst du […] genau zu dem, der du bist.« (S. 29) Doch Bellona ist keine »Hippie-Stadt« (S. 56), sondern hat eine »komplizierte Sozialstruktur« (S. 851), die Aristokraten, Bettler und Vertreter der Bourgeoisie ebenso einschließt wie Bohemiens – wobei die Richards als Vertreter eine kleinbürgerlichen Mittelschicht negativ gezeichnet werden, auch wenn Madame Brown sie als »normale, gesunde Familie« (S. 971) bezeichnet. In diesem Panorama kann man ein Modell für andere Metropolen in den USA sehen; etwa von New York,


Скачать книгу