DIAGNOSE F. Группа авторов

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hier rumstehen, bis ich verrottet bin und ihr meine Knochen lutschen könnt?«

      Auf einmal wusste er, was zu tun war. »Raban, dem Weisen, sei Dank!«, rief er aus.

      Das Jahr mühsamen Studiums der Fauna und Flora sowie aller realen und mythischen Lebensformen Virtuls in Rabans Bibliothek war, wie sich oft gezeigt hatte, nicht umsonst gewesen.

      Nachdem er einige Aufträge für Raban erledigt hatte, hatte dieser Zarko persönlich in die Kunst der Gestaltwandlung eingeweiht. Immerhin war er inzwischen ein Stufe-Drei-Polymorph. Außer in unbelebte Materie und Pflanzen gelangen ihm alle Verwandlungen in Lebewesen, deren geistiges Niveau nicht höher als sein eigenes war.

      Allerdings bestand bei jeder Verwandlung die Gefahr, dauerhaft in dieser Gestalt verbleiben zu müssen, wenn er nicht innerhalb von sieben Stunden wieder in seinen eigenen Körper schlüpfte. Hinzu kam, dass dieser Prozess ein sehr kräfteraubender Vorgang war.

      Zarko hatte zwar auch eine solide Grundausbildung im Schwert- und Axtkampf absolviert – aber was sollte er mit diesen Waffen gegen Steine ausrichten? Einen anderen Weg gab es also nicht.

      Er konzentrierte sich und schloss die Augen. Nach einigen Sekunden versteifte sich Zarko, seine Knochen knackten. Sein Körper wurde größer, härter und überragte schließlich die Felsen. Er wurde zu einem grauen Steinriesen.

      Zarko brüllte guttural, packte mit seinen Pranken einen der lebenden Steine und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand der Schlucht, sodass er zerbrach. Bevor Zarko es sich versah, waren die Felsen so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

      Zarko-Steinriese brüllte triumphierend. Der Weg war frei. Unbehelligt verließ er die Schlucht. Nach einer weiteren Wegbiegung stand er endlich vor dem halb zerfallenen Tor der rostigen Höhlen.

      Zarko verwandelte sich zurück. Er musste ausruhen. Die Verwandlung hatte ihm viel Kraft abverlangt. Er gönnte sich einen Schluck Wasser. Shit, mein Vorrat geht zur Neige, dachte er. Ich muss sparsamer sein. Wer weiß, was mich noch erwartet.

      Carlo May hatte die Schnauze gestrichen voll. Vor sechs Monaten hatte er das letzte freie Einzimmerappartement seines Mietshauses, am Rande Frankfurts gelegen, an Marko Zarkowitzky vermietet. Die ersten drei Monate hatte dieser im Voraus bezahlt, plus der Kaution, aber seitdem hatte er, trotz mehrerer Mahnungen, nichts mehr von ihm erhalten. Keinen Cent. Carlo May wollte für klare Verhältnisse sorgen: entweder Geld oder raus!

      Da Zarkowitzky weder auf sein Klingeln noch auf sein Rufen reagierte, öffnete Carlo mit seinem illegalen, aber durchaus nützlichen Generalschlüssel die Wohnungstür. Carlo handelte dabei entsprechend seinen Erfahrungen mit Mietern. Heutzutage weiß man nie, wen man sich ins Haus holt, dachte er. Und Vorsicht ist besser, als hinterher den Schaden zu haben.

      Im Appartement war es beinahe dunkel. Er stolperte über leere Flaschen und Türme aus alten Pizzaschachteln. Es roch übel. Carlo May kämpfte sich zum Fenster durch und ließ das Rollo nach oben schnellen. Er riss das Fenster auf. Frische Luft vertrieb den Mief.

      Zarkowitzky lag verkrümmt am Boden. Carlo May schüttelte ihn, rief seinen Namen und gab ihm ein paar Ohrfeigen, doch Zarkowitzky rührte sich nicht. Schließlich fühlte er seinen Puls, der kaum tastbar war. Daraufhin verständigte er den Notarzt. Bis der eintrifft, kann ich mich ja schon mal nach meiner Kohle umsehen, dachte er.

      Die Dunkelheit in den Höhlen war undurchdringlich, ein leicht säuerlicher Geruch lag in der Luft. Zarko tastete sich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit durch tunnelartige Gänge, die sich hinter dem Tor durch den Untergrund schlängelten. So kam er nicht weiter.

      Ihm war bewusst, dass er mit seinen Kräften haushalten musste. Um voranzukommen, verwandelte er sich jedoch erneut, und zwar in einen Gruftalb. Gruftalben waren kleinwüchsige, aber sehr flinke, wehrhafte, menschenähnliche Wesen mit riesigen gelben Augen, die eines perfekt konnten: im Dunkeln sehen.

      Jetzt erkannte er, woher die rostigen Höhlen ihren Namen hatten: Die Wände bedeckte ein rotbrauner, teilweise schwarzer Belag aus Rost, der metallisch schimmerte. Schöner Effekt, dachte Zarko.

      Er kam jetzt deutlich schneller voran. Irgendwann verbreiterte sich der Gang und weitete sich zu einer Halle, in der bequem ein ganzes Fußballstadion Platz gefunden hätte. Die hohen Wände vereinigten sich zu einer Art Kuppel.

      Am anderen Ende der Halle erkannte Zarko zwei Sockel. Auf jedem von ihnen ragte die Statue einer bronzenen Riesenameise, aufgerichtet auf ihren hinteren Beinpaaren, in die Höhe. Die vorderen Gliedmaßen der Ameisen hielten jeweils eine exotisch aussehende Klinge.

      Mit seinen Gruftalbaugen konnte Zarko etwa fünfzig Meter hinter den Statuen ein über und über mit seltsamen Zeichen verziertes, kreisrundes Tor erkennen, das den weiteren Weg versperrte.

      Sind das Schriftzeichen der alten Höhlenbewohner? Wer waren sie? Jene Riesenameisen? Das fragte sich Zarko-Gruftalb, während er zwischen den Statuen hindurch langsam auf das Tor zuschritt. Der Hallenboden war übersät von Skeletten, menschlichen wie nichtmenschlichen. Einige hielten sogar noch ihre Waffen in den Knochenfingern. Eine dicke, rostrote Staubschicht bedeckte sie.

      Zarkos Schritte wirbelten den Staub auf, der ihm unangenehm in der Nase kratzte. Er fragte sich, wer oder was diese armen Kreaturen ins Jenseits befördert hatte.

      Er hing diesen Gedanken nach, als ihn knarrende Geräusche aufschreckten. Er fuhr herum. Hinter ihm verschloss sich der Gang, der ihn in die Halle geführt hatte. Gleichzeitig öffneten sich Dutzende kleinerer Tunnel, die versteckt in den Wänden geschlummert hatten, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet.

      Der Notarzt legte Marko Zarkowitzky, dessen Zustand kritisch war, eine Infusion mit Kochsalzlösung und sprach gleichzeitig über sein Headset mit dem diensthabenden Arzt der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses: »Simon, alter Metzger, ich schicke dir jetzt Patient Zarkowitzky, Marko, dreiundzwanzig.

      Er ist nicht ansprechbar, Blutdruck neunzig zu sechzig, Puls einhundertzwölf, arrhythmisch. Erhöhte Atemfrequenz. Ich habe ihm das Übliche zur Kreislaufstabilisierung injiziert und NaCl angehängt. Keine sichtbaren Verletzungen, außer einer frisch vernarbten, anderthalb Zentimeter großen Stelle an der rechten Schläfe, circa ein halbes Jahr alt.

      Patient ist völlig dehydriert, geschätzte letzte Flüssigkeitszufuhr vor zwei Tagen. Deutliche Anzeichen von Verwahrlosung und Mangelernährung.

      In den Augen hat der Gute diese neuen, verspiegelten Gamer-Kontaktlinsen, voll aktiviert natürlich. Da ich sie nicht abschalten kann, müsst ihr das übernehmen. Übrigens, dazu passt auch die frische Narbe am Kopf – ist typisch für die Cerebrum-Bio-Chip-Träger.

      Vorläufige Verdachtsdiagnose: hochgradige Spielsucht, kombiniert mit massiver körperlicher Vernachlässigung. Zusammenbruch nach mehreren Tagen Nonstop-Gaming. Mein Rat: Zieh einen Neurologen und einen Elektronikspezialisten hinzu. Alles klar? Na dann – frohes Schaffen!

      Sehen wir uns nach Feierabend auf ein Bier bei Lissy? O Gott, da kommt schon der nächste Notruf rein! Bis dann, Alter!«

      Hunderte von handtellergroßen Ameisen ergossen sich aus den Öffnungen, krabbelten emsig über die blank abgenagten Knochen, wirbelten den rötlichen Staub auf und drohten Zarko-Gruftalb einfach zu überrennen.

      Angesichts der Skelette, mit denen der Hallenboden übersät war, war sich Zarko sicher, dass sie auch ihn innerhalb kürzester Zeit in ein solches verwandeln würden. Er wusste nun, woher der leicht säuerliche Geruch in diesem unterirdischen Reich herrührte: Die heranstürmenden Ameisen verströmten ihn.

      Mehr als beunruhigt schaute er sich um, griff mit der Rechten nach seiner Blutgier-Klinge, während er in die Linke den Knochenspalter nahm. Zarko wirbelte im Kreis herum, beide Waffen nach unten gerichtet, und drosch auf die Ameisen ein. Körperflüssigkeiten spritzten aus zerfetzten Leibern, aber so sehr er sich auch erwehrte – gegen diese Massen konnte keine Waffe, kein Gruftalb, kein Mensch, nicht einmal ein ausgehungerter Riesenameisenbär etwas ausrichten.


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