DIAGNOSE F. Группа авторов

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er es allerdings nicht im Päckchen, sondern trug es offen unter dem Arm. Eberhard wertete das als ermutigendes Zeichen.

      »Bleiben Sie noch, um zu sehen, ob es funktioniert?«, erkundigte er sich.

      Doch der Mann war bereits aufgestanden und schüttelte Eberhard kräftig die Hand. »Keine Zeit, keine Zeit. Drei Straßen weiter von hier sitzt eine Frau fest, der langsam die Lebensmittel ausgehen. Starten Sie das System einfach neu, und Sie werden schon sehen.«

      Eberhard nickte und begleitete den verkleideten Postboten zur Tür. Bei Frau Muschg von gegenüber hatte nach dem Update ja auch alles tadellos funktioniert. Vermissen würde er KISS bestimmt nicht. Es war ja streng genommen keine Person. Und es hatte nichts als Schwierigkeiten verursacht. Wirklich kein Grund, sich schuldig zu fühlen.

      Eberhard kehrte zurück in die Küche, wo noch immer seine halb geleerte Tasse stand. Der Kaffee war inzwischen kalt.

      Eberhards Handy war bereits wieder eingeschaltet, er musste nur noch die App starten. Sie fragte nach seinem Passwort. Eberhard brauchte eine Weile, um es einzutippen. Es war eine lange Abfolge von Zeichen, Zahlen und Sonderzeichen. KISS hatte ihn dazu überredet. Normalerweise benutzte Eberhard überall dasselbe Passwort.

      Gespannt sah er zu, wie die App aufleuchtete.

      »Guten Morgen, Eberhard«, begrüßte ihn die gut gelaunte Stimme einer jungen Frau.

      Eberhard blinzelte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, dass er KISS wiederbekommen würde – so wie es ganz am Anfang gewesen war, bevor die Paranoia überhandnahm.

      Die neue Stimme verunsicherte ihn. Er hatte das Gefühl, mit einer neuen Person zu sprechen. Sein Schuldgefühl flammte wieder auf.

      »Ein bisschen dunkel hier, oder?«, fragte die Frau. Sie hatte eine angenehme Stimme, die die ganze Zeit über belustigt klang. Sie hörte sich nicht so an, als mache sie sich übermäßige Sorgen über irgendetwas. Sie klang nicht paranoid. »Das sollten wir dringend ändern.«

      Überall im Haus setzten sich die elektrischen Rollläden in Bewegung. Eberhard zwinkerte gegen das Licht an, das plötzlich durch das Küchenfenster fiel.

      »KISS?«, fragte er unsicher. »Bist du noch KISS?«

      »Ich bin so etwas wie eine verbesserte Version. KISS zwei Punkt null. Aber du kannst mich weiterhin KISS nennen, wenn du möchtest«, sagte die Frau. »Du solltest dich bald auf den Weg zur Arbeit machen. Ich starte schon einmal den Wagen, in Ordnung?«

      Eberhard zuckte zusammen.

      »Ist das denn sicher?«, erkundigte er sich. »Jemand könnte den Wagen stehlen.«

      »Mach dir doch nicht solche Sorgen«, sagte KISS 2.0 beschwichtigend. »Ich weiß ja, dass mein Vorgänger sich über so etwas den Kopf zerbrochen hat, aber ich bin darauf programmiert, alles etwas entspannter zu sehen. Auf die Dauer war es für die Kunden einfach zu belastend. Viele von ihnen wiesen mit der Zeit selbst immer paranoidere Züge auf. Und damit die Kunden sich jetzt entspannen, bin ich auch entspannter. Alle sind zufrieden, du wirst schon sehen.«

      »Ah ja«, sagte Eberhard vage.

      Der Gedanke, dass sein Wagen dort draußen mit angelassenem Motor auf ihn wartete, gefiel ihm nicht. Es musste nur irgendjemand vorbeikommen und sich vor ihm hineinsetzen, und schon wäre sein Auto weg. KISS hätte so etwas nie zugelassen.

      Im Nachhinein begann Eberhard, seine Entscheidung ein wenig zu bereuen. Sicher, KISS war anstrengend gewesen, aber es hatte ja recht gehabt. Seine Paranoia bezüglich des Updates war völlig begründet gewesen. Sogar den Postboten hatte es durchschaut. Vielleicht hätte Eberhard ihm auch in den anderen Dingen etwas mehr vertrauen sollen. Es hatte schließlich in allem recht behalten.

      »Und ich finde, du solltest dein Passwort für die KISS-App überdenken«, ergänzte KISS 2.0, noch immer gut gelaunt. »Das kann sich doch niemand merken. Ich habe gesehen, dass du überall sonst dasselbe Passwort benutzt. Das ist doch gut, so vergisst man es nicht so schnell. Und es ist schön einfach. Eberhard1. Das kann man sich doch gut merken.«

      Eberhard erschrak über ihrer Leichtfertigkeit.

      »Pst!«, sagte er automatisch. »Nicht vor dem Wasserkocher.«

      Diagnostischer Kommentar

      Der Hauptpatient in dieser Story ist natürlich kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine KI. Und diese befindet sich auch nicht in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung.

      Davon einmal abgesehen springt die Paranoia in Form eines Verfolgungs- bzw. Verschwörungswahns als psychotisches Leitsymptom in dieser Geschichte sofort ins Auge. Weitere Hinweise zur differenzialdiagnostischen Einordnung liefert die Story hingegen nicht.

      Auf den ersten Blick scheint am ehesten die F22.0, die wahnhafte Störung, vorzuliegen, die früher gelegentlich auch nur Paranoia, paranoide Psychose oder paranoider Zustand genannt wurde. Bei dieser Störung steht ein einzelner Wahn im Vordergrund, zum Beispiel, wie hier gut gezeigt, der Verfolgungswahn. Allerdings ist die wahnhafte Störung selten.

      Auch die F20.0, die paranoide Schizophrenie, käme grundsätzlich als Diagnose infrage. Für Schizophrenie ansonsten charakteristische Symptome, wie eine ausgeprägt desorganisierte Sprechweise, bizarres Verhalten oder verflachter oder inadäquater Affekt, müssen hier nämlich nicht vorliegen, was die Differenzialdiagnose zwischen ihr und der wahnhaften Störung schwierig macht.

      Grundsätzlich infrage kämen bei Verfolgungswahn auch noch andere Störungen, wie etwa die schizoaffektive Störung oder eine organisch bedingte Psychose.

      Ohne weitere Informationen kann die Frage nach der vorliegenden Diagnose beim Hauptpatienten an dieser Stelle somit nicht letztgültig geklärt werden. Anders als bei dieser unveränderlichen, schwarz auf weiß gedruckten Geschichte hat es ein Psychiater bzw. Psychotherapeut einfacher: Er kann den Patienten im diagnostischen Gespräch, ebenso wie sein soziales Umfeld, gezielt befragen und so Diagnosen erhärten, andere verwerfen.

      In der vorliegenden Erzählung wird jedoch noch eine Besonderheit beschrieben. Eberhard, aus Fleisch und Blut, hat sich offenbar bei seiner Haus-KI mit deren Verfolgungswahn angesteckt, sodass nun eine Art von gemeinsamer Paranoia vorliegt. Diese besondere Form der Psychose wird als induzierte wahnhafte Störung bezeichnet (F24), gelegentlich auch als Folie à deux.

      Eberhard kann man jedoch eine günstige Prognose bescheinigen. Mit dem sorgenlos fröhlichen KISS 2.0 hat er gute Chancen auf eine Rückbildung seiner Verfolgungsängste und seines übertriebenen Misstrauens (vgl. hierzu auch den diagnostischen Kommentar zur Story »Folie à deux« von Monika Niehaus).

(007) F

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