DIAGNOSE F. Группа авторов

DIAGNOSE F - Группа авторов


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einen schmalen Gegenstand in der erhobenen Hand. Er wartete einige Augenblicke ab. Als sich sein Gegner nicht mehr rührte, humpelte er zu Francesca herüber.

      Blut sickerte aus seinem Haaransatz hervor und rann über sein Gesicht. Er weinte. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Können Sie mich hören?«

      Francesca nickte.

      Er fummelte etwas aus einem Fach in dem Bedienpult. Eine Spritze. Die junge Frau zuckte zusammen. »Das hebt die Betäubung auf«, erklärte er und stach die Nadel in ihren Oberarm, drückte den Kolben in den Zylinder. Bereits nach Sekunden klärten sich Francescas Sinne, und Gefühl kehrte in ihre Gliedmaßen zurück. Lippen und Zunge waren trocken.

      Ihr Retter brach vor ihrem Behandlungsstuhl auf die Knie. »Sie hätten das Angebot annehmen sollen.« Er atmete schwer.

      »Was für ein Angebot?«

      »Den Chip zu entfernen. Sie haben Ihnen doch sogar Geld geboten.«

      Francesca fuhr sich verwirrt durch die Haare. Ein Angebot? Geld? DeepFlow! »Sie meinen die Firma?«

      Er nickte schwach. Sein Kittel war an der Seite aufgerissen. Blut troff aus dem Riss, und etwas Längliches ragte daraus hervor.

      »Sie sind ja verletzt! Was ist überhaupt passiert? Wer ist das?« Sie deutete auf den reglosen Körper auf dem Boden.

      »Er arbeitet für DeepFlow. Sie haben mich gezwungen.« Sie verstand ihn kaum, so leise redete er.

      »Zu was gezwungen?«

      »Die Daten auf dem Chip. Es gab Hunderte Ausfälle in letzter Zeit. Bei allen Herstellern. Keiner weiß, warum.« Malecha brach ab. Sein Kopf sackte nach unten auf ihren Schoß.

      Es dauerte ein paar Sekunden, bis Francescas Gehirn die Mosaiksteinchen geordnet hatte. Es ging nicht nur um Vertuschung. Wenn eine Firma die Ursache für die Ausfälle herausfand, gewann sie einen wertvollen Wettbewerbsvorteil. Für die Analyse benötigten sie die defekten Chips der Kunden. Wer nicht wollte, wurde mit Geld geködert oder mit Gewalt gezwungen. Ob die Patienten bei der Extraktion der Chips den Verstand verloren oder draufgingen, war egal. Hauptsache, die Zahlen stimmten am Ende. Sie rechtfertigten jedes Mittel.

      Francesca war wie vom Donner gerührt. Also war man tatsächlich hinter ihr her gewesen. Sie hatte sich das nicht eingebildet.

      Das Gegenmittel wirkte. Der Versuch aufzustehen gelang. Den Körper ihres Arztes ließ sie dabei zu Boden gleiten. Sie kniete sich neben ihn und ertastete seine Halsschlagader. Kein Puls. Sofort sprang sie auf und rannte zur Tür. Nach wenigen Schritten überkam sie Übelkeit. Sie stützte die Hände auf den Knien ab und atmete mehrmals tief durch, bevor sie endlich nach dem Fernsprecher am Empfang griff.

      Die Ermittlungen verliefen im Sande. Da sowohl Doktor Marcin Malecha als auch sein Kollege die Auseinandersetzung nicht überlebt hatten, gab es niemanden, der Francescas Schilderung der Geschehnisse bestätigen konnte. Die Auswertung der Spuren belegte zumindest, dass sie selbst als Täterin nicht infrage kam.

      So stand ihre Aussage gegen die Ausführungen der bestens ausgestatteten Rechtsabteilung der Firma DeepFlow. Ein von der Firma bezahlter Gutachter bestätigte nach Analyse der Krankenakte, dass Francesca kognitive Beeinträchtigungen aufwies und Wahnvorstellungen zu ihren Symptomen gehörten. Sie war eine traumatisierte Multilinkuserin, die unter dem Einfluss starker Medikamente stand. Ihre Aussage war somit zweifelhaft.

      Außerdem fanden sich angebliche Indizien, nach denen ihr Arzt Kontakte in die kriminelle Szene gepflegt hatte. Er hatte in mittelgroßem Stil verschreibungspflichtige Medikamente verkauft und so Spielschulden beglichen. Scheinbar war ihm das zum Verhängnis geworden, man hatte ihn beseitigt. Der Schwarzhaarige war nicht polizeibekannt, die Behörden sahen aber eine Verbindung zum organisierten Verbrechen als wahrscheinlich an. In Summe hatte all das dazu geführt, dass die Fallakte schnell geschlossen wurde.

      Francesca glaubte kein Wort der Darstellungen von DeepFlow. Konzerne legten sich die Dinge so zurecht, dass sie unbeschadet aus jeder Krise hervorgingen. Ihr war das mittlerweile egal. Sie wollte ein normales Leben ohne Medikamente und Psychologengespräche haben. Die Erlebnisse in der Arztpraxis hatten den Leidensdruck verstärkt. Der Chip musste weg. Das Wie war zweitrangig.

      Ein Wettbewerber von DeepFlow nutzte die Gunst der Stunde und wartete mit einer Überraschung auf. Er bot ihr eine kostenfreie Desintegration des Chips durch Nanoagenten an, vermittelte Francesca einen Topexperten für das neue Post-Multilink-Syndrom und bereitete das Ganze medial auf. Eine Firma, die Verantwortung übernahm und sich besser als andere um die Konsumenten sorgte, war ein großartiges Werbevehikel.

      Francescas anfängliches Misstrauen schwand nach und nach. Im Vorfeld bat sie der Experte zu mehreren Gesprächen und änderte dabei auch ihre Medikation ab. Seitdem fühlte sie sich klarer im Kopf, wacher, fitter. Ihr Tagesablauf war strukturierter, und sie fand die Kraft, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen.

      Also saß sie wieder in einem steril weißen Stuhl und wartete darauf, dass der Spezialist die Infusion durchführte. Ihr neuer Arzt betrat den Raum. »Wie geht es Ihnen, Frau Ivorno?«, begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln.

      »Gut, danke der Nachfrage.«

      »Wie läuft es mit der Jobsuche?«, fragte er, während er das Bedienfeld aktivierte.

      »Ebenfalls gut. Langsam weiß ich, auf was ich hinauswill.«

      »Und das wäre?«

      »Irgendetwas zwischen Medizinstudium und Suchtberaterin«, lachte sie.

      Er fiel in das Lachen ein. Dann griff er nach der Infusionsspritze und setzte sie an ihren Hals.

      Es zischte. Schweigend beobachtete er sie mit professionell-analytischem Blick.

      Am Rande von Francescas Gesichtsfeld wallten Schatten. Die Dunkelheit glitt langsam heran. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stammelte sie.

      Ihr neuer Arzt schlug die Beine übereinander und umgriff sein Knie mit verschränkten Fingern. An einem der Finger steckte ein goldener Ring. Dieser trug einen markanten schwarzen Stein.

      Dann fiel Francesca ins Nichts.

      Diagnostischer Kommentar

      In dieser Story können gleich mehrere Diagnosen differenzialdiagnostisch diskutiert werden. Die Protagonistin weist Halluzinationen auf. Die Diagnose einer wahnhaften Störung, F22.0, wäre allerdings fraglich, weil die Halluzinationen auf den defekten Gehirnchip zurückgehen. Übertragen auf die Gegenwartsrealität wäre ihre Ursache am ehesten hirnorganisch zuzuordnen, was mit der F06.2, einer organischen wahnhaften Störung, codiert wird.

      Zudem leidet Francesca unter Entzugssymptomen sowie unter einer depressiven Symptomatik. Letztere kann man, je nach Auslöser und Schweregrad, als F43.2, Anpassungsstörung, und/oder als F32.1, mittelgradige depressive Episode, codieren.

      Die Codierung einer Entzugssymptomatik gemäß ICD-10 dürfte hier schwerfallen, da die mit ihr einhergehenden psychischen und Verhaltensauffälligkeiten derzeit (noch?) ausschließlich mit psychotropen Substanzen in Verbindung gebracht werden (F10–F19: von Alkohol über andere Drogen bis hin zu Lösungsmitteln), nicht jedoch mit einem Hirnchip, wie er in der Story beschrieben wird. Hier bleibt der technische Fortschritt und die Aufnahme entsprechender Diagnosen in zukünftigen Ausgaben der ICD abzuwarten.

      Den Verfolgungswahn der Protagonistin lasse ich diagnostisch undiskutiert, da dieser im Verlauf der Geschichte nicht bestätigt wird; Francesca wird tatsächlich verfolgt und manipuliert.

      Der Autor selbst sieht die Hauptsymptomatik seiner Protagonistin in den zuerst genannten Halluzinationen und Wahnvorstellungen seiner Protagonistin.

6 (UB)

(006) L


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