Das brennende Meer. Erik Eriksson

Das brennende Meer - Erik Eriksson


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es das Postboot, das sie gesehen haben, waren sie sich dessen sicher?«

      »Ja, sie haben gesagt, dass sie sicher seien.«

      »Aber keine Menschen?«

      »Nein, das Boot war voll Wasser und ohne Besatzung.«

      »Sie sind bestimmt irgendwo bei einer Insel an Land geschwommen, sie sind sicher davongekommen, Vater ist ein guter Schwimmer, das habe ich selbst gesehen.«

      Birgitta schlug die Augen nieder und saß eine Weile schweigend da.

      »Ja, so ist es wohl gewesen«, sagte sie. »Sie sind irgendwo an Land geschwommen und kommen bald zurück.«

      Als Johanna über den Hofplatz vor dem Posthaus ging, war sie davon überzeugt, dass ihr Vater es geschafft hatte. Und als sie an der kleinen Holzbrücke an dem Graben, der zur Sköthusbucht führte, angelangt war, blieb sie einen Augenblick stehen, lehnte sich an das Brückengeländer und blickte hinunter auf die schwarze Wasserfläche und hin zu den alten Schuppen, in denen einige der Bauern aus dem südlichen Teil von Grisslehamn ihre Boote liegen hatten. Es sah friedlich aus, alles wirkte geordnet und unbeschwert.

      Sie hatte den halben Weg nach Byholma zurückgelegt, als sie bemerkte, dass ihr jemand über den Acker rechts von Västergården entgegenkam. Es war dunkel, aber sie glaubte, denjenigen, der da herankam, an seinem Gang erkennen zu können. Sie verlangsamte ihre Schritte und ließ den vorläufig noch Unbekannten näher kommen. Als er noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war, sah sie, dass es Ruben war, der jüngere der beiden Brüder ihrer Mutter.

      »Hast du etwas erfahren?«, fragte er.

      »Man hat das Boot gesehen«, antwortete Johanna. »Die Männer sind noch nicht da, wahrscheinlich sind sie zu einer der Inseln in der Nähe von Signilskär geschwommen.«

      »Lass uns hoffen und glauben«, sagte Ruben.

      Mehr wurde zunächst nicht gesagt. Ruben ging langsamer, sie gingen nebeneinander auf dem dunklen Weg.

      »Wie am See Genezareth«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Als Jesus den Sturm sich legen hieß und über das Wasser ging. Alles ist für uns möglich, wenn wir nur glauben.«

      »Und als er tausenden von Menschen Speise gab, das war auch am See von Genezareth«, sagte Johanna.

      »Gottvertrauen«, sagte Ruben, »handelt von Überzeugung und von der Hoffnung, die nicht stirbt. Auch die Jünger waren ja Fischer.«

      »Ich weiß, dass er lebt«, sagte Johanna.

      »Wir können heute Abend ein wenig lesen, wenn du willst.«

      »Ja, das können wir.«

      Ruben hatte Johanna das Lesen gelehrt. Die Bibel war ihr erstes Lesebuch gewesen. Sie hatten jedoch nur im Neuen Testament gelesen und meist über das, was sich am See Genezareth zugetragen hatte. Sie erkannten sich selbst wieder in den Geschichten über Boote und Fischerei, die einfachen Menschen, die täglichen Einschränkungen, das war ihr eigenes Leben.

      Als Johanna und Ruben nach Hause kamen, hatten die Hofleute schon zu Abend gegessen. Maria stellte Brot und Milch für die Tochter heraus, setzte sich mit ihr vor den Herd, wo das Feuer glühte und wo ein geteerter Span brannte und etwas Licht in der Küche verbreitete.

      Johanna wiederholte, was sie schon mehrfach erzählt hatte. Ihr Vater war an Land geschwommen, hatte sich auf eine der Inseln gerettet, es war nur eine Frage der Zeit, bis man im Posthaus benachrichtigt wurde. Sie war sich ihrer Sache ganz sicher, sie berichtete mit Überzeugung, und ihre Mutter glaubte, dass die Rettung sogar auf irgendeine Weise bezeugt worden war, dass Johanna etwas erfahren hatte, was Anlass zu Hoffnung gab. Das mit Wasser vollgelaufene Postboot geriet in den Hintergrund, das, was eigentlich eine Bestätigung für das Unglück war, wurde jetzt eher zu einem Beweis dafür, dass es den Männern wirklich gelungen war, sich zu retten. Das Boot war ja leer, also musste sich die Besatzung irgendwo anders befinden.

      Am Abend lasen Ruben und Johanna aus dem Matthäusevangelium vor, über die Wunder am See von Galiläa. Sie wechselten sich im Vorlesen ab, die Übrigen in der Küche hörten zu.

      Es war dunkel im Haus, aber Maria hatte Holz in das Feuer im Herd gelegt, und die Flamme erhellte den Raum. Johanna saß mit der Bibel direkt neben dem Herd, sie ließ die zuckenden Flammen auf die geöffneten Buchseiten fallen. Sie las langsam, betonte Silbe für Silbe.

      »Als Jesus am Ufer des Sees von Ga-li-lä-a entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder, wie sie das Netz in den See warfen; sie waren nämlich Fischer.«

      Als Johanna fertig war, saß sie eine Weile schweigend da. Der ältere der beiden Brüder ihrer Mutter, Filip, war eingeschlafen; er schnarchte leise vor sich hin, er hatte Branntwein getrunken. Das tat er jeden Tag. Auch Ruben trank, aber er wurde dann lustig und sang Lieder. Wenn Filip trank, wurde er böse und müde. Johanna ging ihm lieber aus dem Weg, wenn der Vater nicht zuhause war. Es war natürlich der Vater, der auf dem Hof Nygården das Sagen hatte, die unverheirateten Brüder der Mutter waren als Tagelöhner gekommen, wurden jedoch Familienmitglieder, als ihre Schwester in den Hof einheiratete.

      Jetzt schnarchte Filip auf seiner Schlafbank, er lag mit offenem Mund auf dem Rücken. Er seufzte ein paar Mal tief auf, wischte sich mit der Hand über den Mund, ohne aufzuwachen, drehte sich auf die Seite und wurde ein wenig leiser.

      »Wie groß ist der See Genezareth?«, fragte Johanna. »Ist er so wie das Åländische Meer?«

      »Ich weiß es nicht genau«, antwortete Ruben, vielleicht ist er kleiner, denn es ist ja ein See.

      »Aber Jesus ist jedenfalls quer darübergegangen«, sagte die Großmutter.

      »Vielleicht nicht ganz drüber«, sagte Ruben.

      »Er machte, was er wollte, der See war für ihn kein Hindernis. Aber auch die Russen haben sich von dem Meer nicht abhalten lassen, als sie herübergekommen sind«, meinte die Großmutter.

      »Das war wohl etwas anderes«, sagte Maria.

      »Warum hat Gott die Russen nicht daran gehindert«, sagte die Großmutter. »Für Gott ist doch alles möglich, und trotzdem konnten die Russen herkommen und hier alles verwüsten, ganz Singö haben sie brachgelegt, diese Gottlosen. Ich weiß es, denn meine eigene Mutter war dabei, als sie ein kleines Mädchen war.«

      »Was haben die Russen denn mit ihr gemacht?«, wollte Johanna wissen.

      »Sie musste zusehen, wie sie die Höfe niedergebrannt und alle Tiere geschlachtet haben, auf Singö stand kein einziges Haus mehr. Sie haben den Leuten die Kleider vom Leib gerissen, so dass sie mitten im Winter völlig nackt im Wald leben mussten. Das ist passiert, nachdem König Karl gestorben war, und es kann wieder passieren. Kürzlich erst standen wir mit den Russen im Krieg, und sie werden sich sicher dafür rächen wollen, dass König Gustav ihre Kriegsschiffe zerschossen hat.«

      In der Küche war es wieder still. Sie hatten Großmutter Magdalena schon oft über die Verwüstungen, die die Russen angerichtet hatten, erzählen hören, aber sie wurden jedes Mal wieder unangenehm berührt, denn alle wussten, dass die Russen nicht weit weg waren. Und jetzt herrschte in Europa ja wieder Unfriede. Die großen Länder befanden sich miteinander im Krieg. Konnte Schweden sich dieses Mal heraushalten?

      Es war warm in der Küche, doch Maria legte trotzdem zwei trockene Scheite Birkenholz auf das verglimmende Feuer, um die Wärme über Nacht zu halten und um Glut für das Feuer am nächsten Morgen zu haben. Die Großmutter hatte sich schon in ihr Bett ganz hinten in der Küche neben der Kammer gelegt, der kleine Bruder Lars war aufgeblieben und hatte zugehört, aber er war dann, den Kopf an die Knie seiner Mutter gelehnt, eingeschlafen. Jetzt weckte sie ihn, er war zu schwer, um in die Kammer getragen zu werden, wo er neben den Eltern schlief.

      Lars war sechs und ziemlich klein für sein Alter. Johanna hatte versucht, ihm die Buchstaben beizubringen. Er machte Fortschritte, zeichnete mit Holzkohle und schrieb kurze Wörter auf flache Steine, die er am Strand gesammelt hatte. Einige dieser Steine hatte er auf dem Hof in einer Reihe ausgelegt. Wenn es regnete,


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