Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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und die die unmittelbar bevorstehende (und daher schon eingetretene) Drohung enthielt, ihm das Telefon abzustellen. Er rannte zum Telefon, hob den Hörer ab, wissend, was ihn erwartete: null Ton. Daraus entnahm er, dass es bei den Bemühungen seiner Familie, ihm (angesichts seines offensichtlichen Wahns) die Konten zu sperren, einen Fehler gegeben hatte und die Sperrung nun auch die Zahlungen betraf. Das Ende der Geschichte verliert sich nun in den Labyrinthen, Fluren und Schaltern des Behördendschungels bei dem Versuch alle ausstehenden Rechnungen zu bezahlen, um sein Telefon wieder angeschlossen zu bekommen, und in der immer weiter verblassenden Hoffnung, der Anruf könne sich doch wiederholen; als er dann eines Tages mal wieder auf der Straße war, nahm er die Gelegenheit wahr, anfangs noch etwas vergrätzt, und rief Lídia (oder vielleicht auch Pepa) aus einer Telefonzelle an:

      – Hallo, junge Frau.

      – Ach, was für eine Überraschung! Hast du eigentlich inzwischen die vierzig überschritten?

      Matruschkas

      Er rennt über Wiesen, duckt sich in das hohe Gras, versteckt sich hinter den Säulen. Das Haus rückt in immer weitere Ferne. Rechts am Weg Weiden und dann und wann ein weißes Holzschild, auf dem mit schwarzen Buchstaben steht: BADEN VERBOTEN1. Rechtwinklig zum Uferweg gibt es ganz kurze Pfade, die in Treppen mit steinernen Geländern übergehen, in die Vasen und Blumen gemeißelt sind, und deren Stufen in den See hineinführen. Er keucht und schwitzt. Er ist völlig erschöpft. Lehnt sich ans Geländer. Nervös schaut er zurück, dann aufs Wasser, immer wieder, hin und her. Nun läuft er weiter am See entlang bis zur Bootsanlegestelle, die verlassen daliegt. Er sucht den Horizont mit seinem Blick ab. Er weiß, wenn sie noch lange brauchen, wird man ihn schnappen. Er steigt die Treppen wieder hoch. Springt über das Geländer. Versteckt sich hinter den Bäumen. Von da aus übersieht er den See. Er ist ungeduldig. Schaut ständig auf die Uhr. Minuten später hört er ein ganz leises, näher kommendes Geräusch: In der Ferne zwischen dem fahlen Blau von Himmel und Wasser taucht ein Motorboot auf. Ein Vogel durchschneidet die Luft. Er steht vom Boden auf. Ganz vorsichtig biegt er die Zweige auseinander, schaut den Weg hinunter und springt über das Geländer. Als er die Steintreppe zur Bootsanlegestelle hinuntersteigt, hört er hinter sich ein Geräusch. Er dreht sich um: Die Brünette mit Sonnenbrille zielt mit einer Pistole auf ihn. Die Musik wird lauter. Er rennt los, in Richtung Wasser.

      Die Leinwand wird schwarz, dann weiß. Die Menge pfeift. Manche brüllen. Die Lichter werden hell. Für einen Moment lässt der Tumult nach. Dann verstreichen zehn langsame Minuten, in denen die Stimmung im Publikum von einem mehr oder weniger geduldigen Warten in offene Empörung umschlägt: Die Menge trampelt mit den Füßen und verlangt eine Erklärung. Verwirrung kommt auf, als endlich ein Vertreter des Kinos herbeieilt und sich kleinlaut entschuldigt, eine unerhörte Sache sei passiert: Der Schluss des Filmes sei nicht da. Und, fügt er an, es sehe nicht so aus, als habe man ihn abgeschnitten, denn übergangslos folge nach den letzten gezeigten Bildern ein Stück schwarzen Filmstreifens. Er bedauere die Störung außerordentlich, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass solche Angelegenheiten sehr ärgerlich seien, insbesondere bei einer Uraufführung. Unter diesen Umständen sei es also das Beste, schlussfolgert er, das Eintrittsgeld zurückzuerstatten, weshalb er die Zuschauer auffordert, den Saal geordnet zu verlassen und sich an den Kassen anzustellen. Er fügt noch hinzu, man habe den Verleih kontaktiert, der ihm versichert habe, von nichts zu wissen und verspreche, sich, sobald wie möglich, mit dem Produzenten in Verbindung zu setzen. Schließlich macht der Vertreter des Kinos eine ohnmächtige Geste mit den Armen und tritt ab. Nach einigen empörten Buh-Rufen verlassen die Zuschauer langsam den Kinosaal. Ein Zuschauer (irgendeiner: Sie können ihn sich aussuchen) gähnt, steht träge auf und begibt sich ins Foyer. Die Schlange, die ansteht, um sich das Eintrittsgeld erstatten zu lassen, vermengt sich mit der Schlange für die nächste Vorführung, die sich nun, perplex, nicht so recht entschließen kann, ihre gute Position, die sie durch eine beachtliche Wartezeit erlangt hat, wieder aufzugeben. Unser Mann hat keine Lust zu warten: Er gibt das Geld verloren und steigt die Straße hinauf. Als er an der halben Schlange vorbei ist, hört er, was aus der Nachricht inzwischen geworden ist: Es heißt, man habe den Film entführt, um Fördergelder für einen Film zu erpressen, der von allen Produzenten abgelehnt worden war. Am Ende der Schlange läuft das Gerücht völlig aus dem Ufer: Durch einen anonymen Anruf habe man erfahren, dass im Kino eine Bombe gelegt worden sei. Die Leute zerstreuen sich leicht beunruhigt durch die Seitenstraßen. Er steigt ins Auto und fährt los. Im Radio kommt Dizzy Gillespie. Er fährt durch Vorortstraßen, die in einem Nebel aus undurchsichtigem Weiß liegen. Nun hört man im Radio einen stotternden Journalisten, der eine Frau ohne Arme interviewt, die ein Kind ohne Beine geboren hat. Ein Unglück kommt selten allein, folgert der Sprecher stammelnd und legt gleich darauf noch einmal Gillespie auf: Russian lullaby, einen Song, den der Mann (und das überrascht ihn) auch in dem Restaurant hört, das er gleich darauf betritt. Er bestellt ein gastronomisches Palindrom (als Vorspeise Melone mit Schinken; dann Schinkenkrustenbraten und als Dessert Melone), in der Hoffnung, den Maître zu verblüffen, der sich aber nicht so leicht beeindrucken lässt. An einem Nebentisch erzählt jemand von einer australischen Telepathin, die genau im selben Moment entsetzt aus einem Traum hochschreckte, als einem Schweizer Kollegen von einer verspielten Nichte mit einer Vorliebe für ungewöhnliche Verkleidungen ein tüchtiger Schrecken eingejagt wurde. Unser Mann lacht, und das Gelächter wird im Laufe des Essens lauter, bis es beim Dessert zu einem Schellen- und Trommelkonzert angewachsen ist, das noch im untersten Verlies der Burg zu hören ist.

      Der Wecker. Er schält sich träge aus dem Bett, duscht, rasiert sich und zieht sich an. Er frühstückt im Café gegenüber. Dann steigt er in sein Auto: Bald lässt er die Stadt hinter sich, zehn Minuten lang ist die Straße leer. Er sieht das Haus von Weitem. Er parkt dicht daneben. Rechts am Weg Weiden. Am Seeufer Scheinwerfer, Kabel und Steckdosenleisten.

      Sie warten bereits seit geraumer Zeit auf ihn. Er zieht sich rasch um und wird geschminkt. Der Regisseur gibt Anweisung, mit den Dreharbeiten zu beginnen. Er versteckt sich hinter den Bäumen. Sie filmen verschiedene Einstellungen. Dann springt er über das Geländer. Er wiederholt den Sprung zwei Mal. Während er die Steintreppe hinunterrennt, hört er ein Geräusch hinter sich; er dreht sich um: Die Brünette mit der Sonnenbrille zielt mit einer Pistole auf ihn. Er rennt los, in Richtung Wasser. Die Szene wird wiederholt: zwei Mal zielt die Frau auf ihn und zwei Mal rennt er los. Der Regisseur ist nicht zufrieden. Sie wiederholen die Szene ein drittes Mal: Die Frau zielt mit der Pistole auf ihn, er rennt hinunter ans Wasser. Diesmal unterbricht der Regisseur das Drehen nicht. Die Frau schießt. Der Schauspieler stürzt zur Erde.

      Im Parkett herrscht für einen Moment Verwirrung: Auch ein Zuschauer ist gestürzt. Man trägt ihn weg, und der Film ist sofort zu Ende.

      1 Im Original deutsch.

      To choose

       When a man cannot choose he ceases to be a man [...] Is a man who chooses the bad perhaps in some way better than a man who has the good imposed upon him?

      ANTHONY BURGESS, A Clockwork Orange

      Mitten am Vormittag spürte ich, nachdem ich die Post erledigt hatte und mich gerade anschickte, ein paar Briefe durchzusehen, eine Leere im Magen. Nicht wie Hunger: Es war eher eine körperliche Leere, wie ein Ballon, der sich nur schwer hinunterschlucken lässt. Wenn ich die Hand in den Mund hätte stecken und den Hals hinunterschieben können, hätte ich es tasten können: weich und fettig, jenes Nichts, das sich still beschwerte. Im Parterre trank ich ein paar Kaffee. Eine halbe Stunde später war das Unbehagen immer noch da: Diesmal trank ich Sprudel im Café gegenüber. Ich hielt es noch eine weitere Viertelstunde aus, doch jetzt hatte ich bereits das Gefühl, als sei ich innen aus Luft: Wenn mich einer angepiekst hätte, wäre ich geplatzt. Ich bat den Direktor um ein Gespräch: Ich teilte ihm mit, dass es mir nicht gut gehe, und bat ihn um Erlaubnis, nach Hause zu dürfen. Ich beschrieb die Beschwerden ziemlich vage: im Magen, immer heftiger. Dann fügte ich noch starke Kopfschmerzen hinzu, für den Fall, die Symptome kämen ihm leicht oder geringfügig vor. Er gab mir die Erlaubnis und wünschte mir rasche Besserung.

      Auf dem Weg grübelte ich herum: Eine diffuse Angst kroch meinen


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