Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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aus unserem Abteil lief in Richtung Klo, das sich (wie ich jetzt erst bemerkte) an der Stelle befand, an der wir unsere Zeit vergeudeten, indem wir uns wie Kinder küssten, ohne zu den wesentlichen Dingen vorzustoßen. Als das Mädchen sich im Klo einschloss, fiel mir ein, dass wir ja nur darauf zu warten brauchten, bis sie wieder herauskam, um diese Liebeshöhle in Beschlag zu nehmen, die sich uns hier auf dem Silbertablett darbot.

      Zehn Minuten später war sie immer noch drin. Der Gedanke an die Köstlichkeiten, denen sie sich da drinnen hingeben mochte, erregte mich. Ich hätte meiner unbekannten Freundin gerne Andeutungen gemacht, die jetzt in jeder Sprache, die sie beherrschte, Worte (vielleicht der Liebe, der sexuellen Erregung) wiederholte, um zu sehen, ob ich sie vielleicht doch verstand; aber es war nichts zu machen: Alle klangen für mich wie gurgelndes Eis, Echos in einem Fjord. Und auf der anderen Seite des Fensters eine weite, verschneite Ebene.

      Viele Minuten später kam der Schaffner und verlangte die Fahrkarten. In der Eile hatten wir die Reisetaschen im Abteil vergessen und mussten nun die Fahrkarten holen. Der Waldhüter war nicht mehr da. Der Schaffner erledigte seine Arbeit und ging weiter. Wir saßen wieder alleine im Abteil. In dem Moment, als ich begann, ihr Knie zu streicheln, trat das Mädchen wieder ein. Also, folgerte ich, war das Klo nun wieder frei. Die lang ersehnte Gelegenheit. Ich schickte mich an aufzustehen, aber die Dame sagte etwas und blieb sitzen. Anscheinend schaute ich verdutzt drein, denn das Mädchen fühlte sich verpflichtet, mir den Satz zu übersetzen:

      – Sie sagt, dass sie am nächsten Bahnhof aussteigt. Der Zug bremste lauter als zuvor. Ich reichte ihr den Koffer aus dem Gepäcknetz herunter. Sie verabschiedete sich mit einem Kuss auf meine Wange und fügte ein paar Worte hinzu.

      – Sie sagt – übersetzte das Mädchen – dass sie es sehr bedauert, Sie nicht unter günstigeren Umständen kennengelernt zu haben.

      – Sagen Sie ihr, dass es mir genauso geht – improvisierte ich.

      Sie übersetzte es. Die Dame meiner Träume lächelte und verschwand im Gang.

      Ich setzte mich, doch nur für ein paar Sekunden, denn dann entschied ich, die Welt sei nicht für Feiglinge gemacht: griff nach meiner Reisetasche und dem Tornister und wandte mich zur Tür. Die Zwanzigjährige, der man ansah, dass sie meinen Entschluss nicht verstand, schaute mich verdutzt an. Auf dem Bahnsteig fühlte ich mich verloren: Die Frau war nicht zu sehen, und auch sonst war niemand da. Ich betrat das Bahnhofsgebäude: Das war ebenfalls leer. Ich verließ es durch den Hinterausgang: Dort war ein menschenleerer Platz voller Neonreklamen. Zehn Meter vor dem Bahnhofsportal stand meine Ex-Sitznachbarin, die Dame mit der lachsfarbenen Haut, und umarmte einen Mann, küsste einen Buben und stieg dann in einen Volkswagen ein. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte zurück: Jetzt fehlte nur noch, dass ich den Zug verpasste! Ich sprang auf den anfahrenden Zug auf und kehrte ins Abteil zurück. Das Mädchen schaute mich an. Ich hob den Tornister auf die Gepäckablage, setzte mich hin, atmete tief durch und holte wieder den Reiseführer heraus. Das Mädchen hob ihre Füße auf den Sitz, schlang ihre Arme um die Beine und schaute mich lachend an, was ich in einem Sinn verstand, der sich anschließend als falsch herausstellte. Sie sagte:

      – Es tut mir leid, dass ich Ihren Flirt vermasselt habe, aber ich musste mich im Klo verstecken, weil ich keine Fahrkarte habe.

      Und da saß sie, mit vollendet übereinandergeschlagenen Beinen: parallel, vollkommen, wunderschön.

      Nach Mitternacht verriet sie sich durch Zufall: Als sie die Zigaretten aus ihrem Rucksack holte, fiel ihre Fahrkarte auf den Boden. Ich tat, als schaute ich aus dem Fenster.

      Kakophonie

      Schon immer hatte A eine unbändige Lust, die Carrer Balmes in die entgegengesetzte, in die verbotene Richtung zu fahren; entweder irrtümlich (nach einer durchzechten Nacht, wenn alles schon geschlossen war) oder ganz bewusst (als Mittel gegen den Alltagstrott). Er stellte sich die wachsende Flut der sich stauenden Autos vor, kunterbunte Farben in den empört kochenden Mündern: verschrockene Lichter, die ihm rechts oder links ausweichen und folglich ineinanderfahren: die größte Katastrophe in der Geschichte: ein konzentrisches Chaos, das sich von Straße zu Straße ausdehnt, von Stadtteil zu Stadtteil, von Stadt zu Stadt und sich von einem Kontinent zum anderen, zum Meer hin öffnet . . .

      So wie gerade jetzt: Jetzt verspürte er diese Lust auch wieder. Stattdessen (und er schnalzte mit der Zunge gegen den Gaumen, um einen grünen, galligen Geschmack loszuwerden) fuhr er die Balmes hinunter, streng orthodox: in Richtung Meer; die Rotonda lag gerade hinter ihm. Am Fuße des Berges hatte er unter Palmen auf Liegestühlen aus Naturleinen Gimlets getrunken, genau dort, wo die letzte Straßenbahn des Planeten wendet und ein zerstreuter Pianist in seinen letzten Zügen an einem glänzenden Klavier immer wieder holperig Three Little Words spielt.

      Auf der Höhe des Bahnhofes El Putxet musste er bremsen: eine blöde Ampel. Er stellte das Radio an. Drehte am Knopf. Er stieß auf Benny Goodman, das stimmte ihn optimistisch. Er drehte die Musik lauter. Die Ampel wurde grün, und er dachte an Anilin. Beim Überqueren der Mitre wechselte er die Spur. Gab Gas, wie auf trockenem Laub. Gegenüber dem Buchladen-Café Crystal City hielt er und parkte auf dem Gehweg. Er betrat das Café. Am Tresen blätterte eine junge Frau in Zeitschriften. Nur ein Tisch war besetzt. Er bestellte einen Kaffee und stöberte in den Regalen: Es war alles da: von den Abhandlungen zur Geographie des Baskenlandes bis hin zu den Geheimnissen des staubigen Ägyptens. Er blätterte in The Last Tycoon und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee. Dann zahlte er Buch und Kaffee und trat auf die Straße hinaus. Es war rot, als er die Via Augusta überquerte.

      Er fühlte sich sehr allein. Überlegte, ob er noch schnell etwas essen sollte und schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit B. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte sich vor, drei auf einmal zu rauchen. Er zündete sich noch zwei an und rauchte alle drei auf einmal. Er stellte sich seinen Anblick von einem anderen Auto aus vor. Grinste. Er fühlte sich wohl. Er dachte, auf der Welt gäbe es nichts Besseres als alles andere; er dachte an in sich zusammenstürzende Straßenlaternen. Es war kalt.

      Kurz vor der Travessera fragte er sich, ob er links abbiegen und sich in Gràcia verlieren sollte. Doch konnte er sich bis zur Granada nicht entscheiden, dann war es zu spät, und er haderte erneut mit sich: Sollte er in der Tuset parken und eingesunken in weißem Skai ein Omelett essen? An der Diagonal wartete er vor der Ampel und zweifelte daran, jemals wieder diese Straße zu verlassen.

      Er fuhr sofort an, als das Grün der Fußgängerampel zu blinken anfing. Ein verspätetes Auto in Richtung Macià wich ihm hupend aus, schrie ihn an und bohrte sich in einen Papierkorb. A gab Gas, ließ Straßen und farblose Ampeln hinter sich. Fuhr dreist bei Rot über die Gran Via (und verursachte damit zwei Zusammenstöße, Verletzte, Sirenengeheul und eine Sternschnuppe, das aber war Minuten später). Die Konditorei Forn del Cigne war zu. Er fragte sich, ob wohl zu dieser Stunde drinnen Kuchen gebacken wurde. Er überlegte kurz, ob er mit dem Auto gegen die Tür donnern, durch das Loch bis in den hinteren Raum fahren, den Bäckern einen Guten Abend wünschen und sich das Mehl von den Ärmeln klopfend durch einen Notausgang wieder hinausfahren sollte. Seine Zweifel bezüglich des Verlassens der Straße erwiesen sich als Irrtum: Er überfuhr die durchgezogene Linie und bog in die Rambla ein. Er parkte vor dem Eingang des Baviera. Setzte sich dort an ein Tischchen auf dem Gehweg. Wenig Fußgänger. Er gähnte.

      B kam zu spät, in engen blauen Hosen und weißem Pulli. A stellte sich ihren Hintern vor. Er schaute auf die Uhr.

      – Nicht gerade pünktlich.

      – Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie es mit dem Verkehr aussieht. Ich bin mit dem Taxi gekommen; wir mussten uns über die Parallel quälen, und Massen von Leuten strömten aus den Theatern, die Polizei machte in der Carrer Nou eine Razzia. Die haben eine Meise: Sie haben das Marseille und das London dicht gemacht. Wir durften nicht über die Rambla fahren. Ich musste von der Kathedrale bis hierher laufen.

      A fiel ein, dass er seit mindestens zehn Jahren keinen Fuß in das London gesetzt hatte. Er erinnerte sich an eine Nacht mit einem Freund: an das Enfants Terribles, das Polizeirevier, die Bäckerei mit den Schneckennudeln, die ganz frühmorgens aufmachte. Er dachte darüber nach,


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