Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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und (wie die Seiten, die der Wind aus einem schlecht gebundenen Buch reißt) flohen aus dem Archiv seines Gedächtnisses alle vorigen Gräser. Er fragte sich, was all diese Reihen von kleinen grünen Trieben sein könnten. Er fürchtete, den Kopf zu verlieren. Er schaute hoch: Auf der Mauer vor ihm auf der anderen Seite der Gleise lachte ihn ein riesiges, zerrissenes Zirkusplakat an. Er dachte, es wäre schön hinzugehen, nach so langer Zeit, die er unter keinem Zelt gestanden hatte. Doch als er noch einmal auf das Plakat schaute, um nach dem Datum zu gucken und dem Ort, wo das Zelt aufgeschlagen war, fragte er sich, was dieses weiß bemalte Gesicht sollte mit einem Kreuz in einem Auge und einem senkrechten Strich in dem anderen, mit einem Hut wie eine leuchtende Papiertüte, einer runden Knubbelnase und Lippen, die zweimal lachten.

      Der Bahnsteig war verlassen. Er rutschte mit dem Körper hinunter, bis sein Nacken auf der Lehne der Bank lag. Er machte die Augen zu und gähnte. Schaute nach rechts und nach links und klagte: »Wenn ich nicht einmal die Stadt kenne, in der ich geboren bin . . .« Er hörte eine Tür aufgehen: Eine Frau steckte den Kopf durch den Spalt, schaute nach rechts und nach links und verschwand wieder. Als er gleich darauf die Tür zuschlagen hörte, war er nicht in der Lage, sich zu erinnern, ob diese Tür vorher geöffnet worden war, und auch nicht, wer eingetreten war oder ob überhaupt jemand eingetreten war oder es jemals eine Tür gegeben hatte.

      Er hatte gerade noch Zeit, sich zu fragen, was ihm zustieß. Er erinnerte sich an einen grauen Teich unter einem weißen Himmel vor einem feuchten Wald (und das Bild war so lebendig in seinem Gehirn, dass es vielleicht doch Wirklichkeit war, was er da sah). Gleich darauf (und nun war es offensichtlich, dass er die Bilder nicht mehr beherrschen konnte, die losschossen wie Luftballons, wenn sie Luft verlieren) war da ein spartanisches Hotel, das nach Staub schmeckte, mit weißen Wänden und kubistischen Holzmöbeln. Dann verschwanden alle Bilder vollständig: Er erinnerte sich an nichts mehr: Alles war nur noch ein schwarzes Rechteck: Er vergaß den Namen der Stadt, in die er fuhr, schaute entgeistert auf den Bahnhof und wusste weder, wo er sich befand, noch, was diese parallelen Linien aus Eisen waren, die sich am Horizont verloren. Als der Zug eintraf, konnte er ihn nicht mehr erkennen. Er erschien ihm weder als Maschine noch als Monster, weil beides seine Bedeutung verloren hatte. Da er ebenfalls vergessen hatte, was Angst war, floh er nicht.

      Der Norden des Südens

      N nahm immer zwei Stufen auf einmal, nervös und völlig fertig versuchte er, sein Herzklopfen zu verbergen. Auf dem letzten Treppenstück, bei dem Versuch, sich zu beruhigen, merkte er, dass das einzige Detail, was ihn rein äußerlich verdächtig machte, seine beschleunigte Atmung war. Er atmete mehrmals ein und aus und öffnete ängstlich die Tür. Er hörte in das Schweigen, um zu sehen, ob er daraus etwas ableiten konnte. Er wusste, alles war kurz davor zusammenzubrechen, sich in einen Berg von Schutt zu verwandeln, und es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern. Doch nun war nicht die Zeit zu klagen und zu reden über das, was man hätte tun müssen (und was man nicht getan hatte, weil man im entscheidenden Moment alles runterschluckte und weitermachte wie bisher). Schließlich leben wir nur ein oder zwei Mal, und Risse in Decke und Fußboden und der Einsturz aller Fundamente, auf die er seit Jahren seine Existenz gründete, war das Mindeste, was man von einer Situation wie dieser erwarten konnte, einer Sackgasse, die ihn für immer zu verschlingen drohte und ihn in dem Schlund einer endlosen Spirale verschwinden ließ. Er setzte sich. Ließ seinen Kopf nach hinten fallen.

      Er stellte sich die Wut von S vor, die ihn mit blank liegenden Nerven und offenem Mund anstarren würde, als erkenne sie ihn nicht und als sähe sie dieses Reptil zum ersten Mal, das diskret vor ihr hüstelte und ihrem Blick auswich, der sich in seine Haut einbrannte. Er konnte sich keine andere Reaktion vorstellen: Ab diesem Moment schossen die Möglichkeiten unkontrolliert durcheinander. N wusste, von nun an gehörten die geteilten Bonbons für immer der Vergangenheit an, die Marmelade am Sonntagmorgen, der Abendspaziergang, die Küsschen im Fahrstuhl, das Lachen auf der Pferderennbahn, die einmal unter dem Hut und einmal unter der Serviette versteckten Kinokarten. Stattdessen begannen nun die frostigen Morgen, die Schweizer Wecker, die deprimierenden Nachmittage als Löwe, eingesperrt in einem zu großen Käfig, als Mönch in einer Zelle, als ausgestopfter Vogel, der Motten und Staub fängt.

      Natürlich würde es irgendwann wieder tauen und der Raureif zu Wasser schmelzen, dann kämen die Fußballspiele am Donnerstag, die Spielhallen am Samstag, die Bierdosen unterm Bett, die Füße auf dem Tisch, das Sektfrühstück vor dem Schlafengehen. Und nicht nur das: Die Besuche von verrunzelten Verwandten und besserwisserischen Freunden, die bei Pflichtabendessen Asche auf dem Parkett fallen ließen, würden endgültig vorbei sein. Keine Strümpfe mehr auf dem Sofa, keine Ratschläge mehr im falschen Ton, keine Haare mehr im Waschbecken und keine unangebrachten Ansprüche mehr. N lief eine Weile in der Wohnung auf und ab. Dann war ihm schwindelig, und er glaubte, gleichzeitig essen und sich übergeben zu müssen. Er wusch sich, räumte Bücher weg und vertrieb sich die Zeit, indem er den Plattenspieler mal schneller und mal langsamer laufen ließ.

      Dann hörte er die Schritte von S: Sie stieg schnell die Treppe hoch, steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür. Wie ein Kind, das seine Augen zukneift, um nicht gesehen zu werden, sah er weg und hörte nur, wie sie Mantel und Hut auf einen Stuhl warf und »Hallo« sagte. Ihr Blick, viel zaghafter, als er es sich vorgestellt hatte, konnte ihm nichts anhaben. Beunruhigt schaute N auf und nahm es mit ihrem Blick auf: S war völlig fertig und versuchte, das heftige Herzklopfen zu verbergen. N war verwirrt: Er hatte alle Fallstricke gewittert, in denen er sich hätte verheddern können, diese unerwartete Ruhe aber hatte er nicht vorausgesehen. Ganz offensichtlich würde keiner der beiden den Mund aufmachen, da beide gleich durcheinander waren. N erkannte messerscharf, die Pokerrunden waren vorbei, ehe sie überhaupt begonnen hatten, es würde keine Füße auf dem Tisch geben, keinen Fußball am Donnerstag, keine Bierdosen unterm Bett, kein Sektfrühstück vor dem Schlafengehen. Natürlich aber wieder geteilte Bonbons, Marmelade am Sonntagmorgen, zwei unter dem Hut versteckte Eintrittskarten. Doch auch die Haare im Waschbecken, die Strümpfe auf dem Sofa, die Ratschläge im falschen Ton, die Besuche von verrunzelten Verwandten, die besserwisserischen Freunde, die bei Pflichtabendessen Asche auf dem Parkett fallen ließen, die unangebrachten Ansprüche, die Hand, die so oft das Messer packte. Er stand auf (und es war ihm klar, alles, worüber er nachgedacht hatte, war auch ihr durch den Kopf gegangen), sie drückten die Wangen aneinander, sagten noch einmal »Hallo« und küssten sich in einer unbändigen, wütenden Umarmung.

      Tricks

      Der Morgen zeigte sich muffelig. Beim Tennis gab sich Enric den normalen Wechselfällen auf dem Platz hin: Zum Beispiel war der Schmetterball etwas lang (oder kurz; oder perfekt) und Natxo verlor (wie so oft) den Ball, der gegen eine Wand schlug (oder im Metallnetz oder in den Bäumen landete) und dann neben einem leeren Klappstuhl liegen blieb. Nehmen wir an (um es kurz zu machen), dass er mit diesem Ball das Spiel in der Tasche hatte, den Satz und das Spiel: Das sind Details, die nicht so wichtig sind: Enric gewann fast immer.

      Danach duschte er und zog sich an. Natxo schlug vor, zusammen zu Mittag zu essen. Enric lehnte ab: Er musste sich mit Pepa treffen. Sie vereinbarten, wegen des Abendessens zu telefonieren.

      Pepa kam zu spät. Sie entschuldigte sich schon unter der Tür. Zudem hatte sie bereits gegessen: ein belegtes Brötchen mit ihren Kommilitonen. Es tat ihr sehr leid. Enric dachte, von einem belegten Brötchen werde man nicht satt. Pepa sagte, sie werde etwas trinken. Der Kellner nahm die Bestellung auf. Pepa lächelte. Enric erzählte, er habe ein Haus auf Menorca gekauft (fürs Wochenende) und überlege, ob er zur Vereinfachung den Pilotenschein mache. Pepa schlug vor, ins Kino zu gehen.

      Zwei Stunden später kamen sie aus dem Kino. Sie gingen zu Enric und dann ins Bett. Sie lagen im Halbschlaf, als um acht das Telefon klingelte. Es war der verärgerte Natxo: Er hatte sich zweimal hintereinander verwählt. Immer mit derselben Nummer. Sie verabredeten sich zum Abendessen. Im Schlafzimmer war Pepa noch am Schlafen. Enric biss ihr in die Schenkel.

      – Duschen wir zusammen?

      Halb eingeseift, klingelte das Telefon noch einmal. Mit einer schaumigen Erektion verbreitete Enric Fußabdrücke auf den Fliesen. Pepa fasste sich beleidigt an eine Brustwarze.

      –


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