Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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ihn auswendig kenne. Weißt du, dass wir heute schließen? Ich habe dich noch nie hier gesehen. Wenn hier jemand Neues herkommt, fällt das sofort auf. Wir sind schon lange unter uns und sehen uns so oft, dass wir nicht merken, wie wir älter werden. Siehst du das Pärchen da? Sie kommen jeden Tag, seit vielen, vielen Jahren, und sitzen immer auf demselben Platz. Gefällt dir nun der Film? Er ist nicht besonders interessant, stimmt’s? Von den Filmen, die wir gezeigt haben (und das waren viele!), gefiel mir einer am besten, den wir im Programm hatten, als wir noch ein Uraufführungskino waren. (Vor vielen Jahren war dies ein Uraufführungskino, nicht, dass du denkst!) Das war wirklich ein schöner Film gewesen. Er hörte genau da auf, wo er begonnen hatte, und der Projektor (der Mann, der den Film zeigte: der Filmvorführer, mein’ ich), der damals vielleicht noch jünger war, tat so, als ob der Film nie aufhörte, er lief drei- oder viermal ohne Unterbrechung. Und Gott sei Dank mussten wir spätnachts aufhören, sonst hätte er tagelang so weitergemacht. Der Hauptdarsteller war ein junger Mann, der seinem Schicksal entfliehen wollte. So als ob man dem, was geschrieben steht, entfliehen könnte! Na ja, ich erinnere mich nicht mehr genau an die Geschichte: Ich weiß nur noch, dass es als Kulisse ein Schattenhaus in den Nebeln gab, alt und ganz baufällig. Es kam auch eine junge Frau vor, aber ich weiß nicht mehr, was für eine Rolle sie spielte. Er floh von zu Hause, glaube ich, aber am Schluss kehrte er zurück, denn überall wo er hinkam, brachte er Zerstörung, egal ob in der U-Bahn oder in einem Ferienhaus am Meer, alles versank gleich in Trümmern. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber die Lektion scheint klar: Niemand kann seinem Schicksal entgehen: Mmmhh. Willst du los? Bleib: Nachher werden wir diese letzte Vorführung feiern. Jetzt bist du eigentlich einer von uns.

      Ich stand auf. Es gibt Abende, an denen man besser zu Hause geblieben wäre. Ich ging, ohne mich umzudrehen: Das Pärchen lachte und sah mich an. Ab und zu fehlte ein Sitz, und die Reihen sahen aus wie kariöse Gebisse. In der letzten Reihe liebte sich ein Paar hemmungslos. Aus der Klotür drangen ohrenbetäubende Schreie. Ein maskierter Dieb griff den Platzanweiser mit einem gigantischen Messer an. Während ich in den Falten des schweren granatroten Samtvorhangs den Ausgang suchte, hörte ich einen lauten Knall: Die Leinwand zerriss schräg von oben rechts nach unten links. Alle brachen in Gelächter aus.

      Draußen regnete es nicht mehr. Ich ging schnellen Schrittes. Ich hatte vor irgendetwas Angst: einem unbestimmten Schatten, etwas Unheilvollem, was, dessen war ich sicher, bis Sonnenaufgang dauern würde. Beim Anblick der ersten Morgenstrahlen wäre ich gerettet. Auf dem Weg nach Hause trat ich immer nur auf jede zweite Gehwegplatte. Als ich vor der Haustür stand, merkte ich, dass ich die Schlüssel verloren hatte. Ich hatte sie entweder verloren, oder man hatte sie mir geklaut (vielleicht die Frau an der Kasse?). So, das war es also, wovor ich mich gefürchtet hatte. Doch ein Gefühl in meinem Magen sagte mir, dass mir noch Schlimmeres bevorstand. Ich könnte natürlich die Feuerwehr anrufen, die mir die Tür aufbrechen würde. Oder einen Schlosser. Doch das war nicht die Lösung: Früher oder später musste ich mich stellen. Wenn ich nicht hinginge, würden sie kommen. Der Gedanke, sie anzuzeigen, reizte mich zum Lachen: Auf dem Polizeirevier wären sie der Kommissar, die Polizisten, ein offensichtlich verhafteter Dieb, die Frau an der Kasse als Aufseherin . . . Das Miauen einer Katze ließ mich aufschreien.

      Ich machte mich auf den Weg zurück zum Kino. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, werden sie alle auf mich warten und mich mit schwefeligem Gelächter und den klimpernden Schlüsseln empfangen. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, wird das Abrissunternehmen mit dem Abriss des Gebäudes begonnen haben, und weit und breit wird keine dieser finsteren Gestalten zu sehen sein; dann werde ich wissen, dass ich für immer einen fürchterlichen Fluch mit mir herumtragen werde. Doch genau vor der Straßenecke, an der das Kino liegt, sah ich die Schlüssel, meine Schlüssel, auf dem Boden, leuchtend wie Diamanten. Als ich sie aufhob, dachte ich: Jetzt brauche ich nicht mehr hinzugehen. Ich dachte auch: Zu Hause werde ich vor lauter Angst nicht schlafen können. Wenn ich mich beeile, werde ich vorher da sein, und je früher ich da bin, desto schneller ist alles vorbei. Was ist los? Habe ich Angst vor Geistern? Ich bog um die Ecke und rannte los.

      Das Pflanzenreich

       Dem Enkel von Matons vom Enkel von Onkel Ximo

      Zu sagen, die Zeiten sind schwer, heißt heutzutage gar nichts mehr, denn wir haben diesen Ausdruck so oft benutzt, dass er schließlich seinen Sinn verloren hat, sollte er jemals einen gehabt haben: Die Zeiten sind in den Redewendungen immer schwer. Vielleicht wäre es genauer zu sagen, dass wir nicht mehr wissen, wo Norden ist; oder noch besser, wenn wir uns fragen, ob es den Norden überhaupt gibt (und folglich auch den Süden, der die Umkehrung desselben ist), alles nichts als herumhuschende Schatten in einem Schulflur. Man sagt, es seien Krisenzeiten, und ich bin gerne bereit zu denken, dass deshalb alles so ist, wie es ist. Denn wenn diese Theorie stimmt, wird der Kompass wieder funktionieren, wenn die Krise vorbei ist. Vor ein paar Jahren schien uns alles klar: Wir stürzten die Idole (nicht alle Idole jedoch: Vielleicht war das der Fehler) und setzten uns auf die leeren Podeste in der Erwartung, dass zwei mal zwei nicht mehr vier ist: Die Fensterstürze waren immer ein Norden, zumindest sie. Nun sind wir erwachsen (wir haben gelernt, dass zwei Schläge mit dem Knüppel und noch mal zwei Schläge mit dem Knüppel vier Schläge sind) und fragen uns, ob wir einige der gestürzten Idole wieder auf das Podest setzen oder selbst dort bleiben sollen, in der Gewissheit, dass in einer kommenden Zeit jemand seine eigenen Kommentare abgeben und neue Statuen errichten wird (möglichst aus Plastik, das brennt besser und verbreitet zudem einen bestialischen Gestank).

      Als ich klein war, antwortete ich auf die Frage: »Und du, mein Kind, was willst du werden, wenn du groß bist?« »Unmensch.« Und ich habe meine ganze Kraft in dieses Streben gesteckt. In meiner Generation (vielleicht sollten wir sie eher Degeneration nennen: Wir waren eine begünstigte degenerierte Generation) begann die Akne im Schatten der ersten Rolling Stones und der Kämpfe zwischen Mods und Rockern, und wir projizierten unsere Wut auf alles, was orthodox erschien. Klugerweise verstanden wir, dass Heterodoxie und Skrupellosigkeit Wörter waren, die in keinem Wörterbuch als Synonyme auftauchten.

      Ich habe von meiner Berufung zur Skrupellosigkeit berichtet, aber ich habe nicht erzählt, wie sich das zusammengebraut hat. (Ich weiß nicht, ob ich es fertigbringe: Ich kann zwar klar die Wurzeln erkennen, aber dann folgen nur verlorene Evolutionsstufen). Im Enfants Terribles verbrüderten wir uns mit seefahrenden Yankees und Brasilianern, schäbigen Nutten und Nordafrikanern (so werden sie heute genannt), die um Mitternacht mit Sonnenbrillen herumliefen. Von allen lernten wir unseren Zynismus und unser Schmarotzertum; als die ersten Hippies anlandeten, war uns sofort klar, dass wir nie was mit ihnen gemeinsam haben würden: Die andere Backe hinhalten war nicht unser Stil. Wir leugneten unsere Gefühle (und waren sentimental wie kaum einer sonst) und wurden nur durch Ziele motiviert, aus denen wir irgendeinen Gewinn schlagen konnten. Die Zeit hat uns ein wenig Recht gegeben (man bekommt es nie zur Gänze): Von den Hippies hört man heute gar nichts mehr, und die Habgierigen sind die Herren der Welt. In den Siebzigern begann der endgültige Verfall: Die Anhänger der Perversionsethik stellten sich als wenig ethisch und überhaupt nicht pervers heraus; Opportunisten, sonst nichts. Ich hatte die Nase voll von Junkies und Messern, und der neue Schub an Rebellen (Ökos, Vegetarier und Kriegsdienstverweigerer) ließ mir das Herz schwer werden.

      Durch die Langeweile überstürzten sich die Ereignisse. In jener Nacht las ich Baudelaire. Ich lag in der Hängematte auf der Terrasse, umgeben von Zwergpalmen und Hortensien, mit Blick auf den gelben Mond über blauer Bucht. Txitxi lief in der Wohnung auf und ab, angeödet, abstinent, traurig, enterotisiert: Sie wollte nicht trinken, sie wollte nicht reden und vor allem wollte sie nicht vögeln. Genauso gelangweilt wie sie, wand ich mich aus der Hängematte, griff Txitxi am Arm und verdrehte ihn, bis sie anfing zu weinen (sie schaute mich dabei mit Augen an, die beichteten, dass auch ihr plötzlich die Langeweile vergangen war), und ich vergewaltigte sie, ohne dass ihre Schreie mein Gewissen belasteten. Wie bei einem Wunder öffnete sich der Himmel; eine Helligkeit trieb mich vor sich her: Plötzlich wurde mir klar, dass ich jahrelang vor mich hinvegetiert hatte. Nun war ich ein Bär nach dem Winterschlaf, der den ihm würdigsten Weg wählte: mich in einen klassischen Lüstling zu verwandeln. Ich würde nur noch die verbotenen Früchte kosten. Nachdem ich alles andere hinter mich gebracht hatte, spezialisierte ich mich auf die Frauen: eine Frage des Alters.

      Von


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