Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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denen niemand entfliehen kann. Vom ersten Experiment animiert, wurde ich zunächst Vergewaltiger. Kurz darauf beschloss ich, im Bewusstsein der Bedeutung meiner Aufgabe in einer Gesellschaft wie der unseren, mich theoretisch mit der Funktion auseinanderzusetzen, die ich zu erfüllen hatte, nicht, dass ich statt Täter zu sein versehentlich in die einfachere Rolle des Opfers schlüpfte. Und da es keine fruchtbringende theoretische Reflexion ohne begleitende bewusste Praxis geben kann, war ich (abwechselnd, hintereinander, gleichzeitig) Exhibitionist, Voyeur, Verführer Minderjähriger, Gigolo, Sadist, Sodomit, Masochist. War mir ein Terrain verboten, so war es zu erobern. Keine Verirrung war mir fremd. Wenn ich deshalb sage, die Zeiten seien schwer, dann tue ich das mit einer tiefen Kenntnis der Sache, Resultat, wie ich bereits sagte, einer gleichermaßen theoretischen wie praktischen Reflexion.

      Jetzt erzähle ich euch meinen letzten Coup: Mittwoch war ich gegen halb zwei nachts im Whisky Twist. Den Ellenbogen auf den Tresen gestützt, rauchte ich vor mich hin, betrachtete, eingetaucht in die Anonymität der blauen und roten Lichter des Lokals, die Flaschen auf dem Regal vor mir und versuchte, die Etiketten zu lesen. Hinten wurde getanzt. Am Eingang waren zwei in eine Schlägerei verwickelt, und jeder Faustschlag warf einen der beiden gegen die Tür, bis der Gorilla auftauchte und das Happening beendete. Ich bestellte etwas zu trinken, aber ich weiß weder was noch bei wem. Ich erinnere mich nur noch daran (und ich kann mich kaum an mehr erinnern, denn es ist so, als habe alles, was daraufhin passierte, meine Erinnerung an das, was davor war, ausgelöscht), wie ich sie, als ich mich nach rechts drehte, um auf die Tanzfläche zu schauen, zwei oder drei Barhocker weiter sitzen sah.

      Sie trank einen orangefarbenen Saft. Sie hatte lange, dunkle Haare, die ihr über die Schulter fielen. Von der Seite erinnerte sie mich an Silvie Vartan, eine dunkle Silvie Vartan. Sie hatte eine kurze Jeansjacke (Levi’s) an, eine jener, die man heute nicht mehr sieht: verwaschen wie Jeans. Nun, ich weiß nicht mehr, ob ich sie, nachdem ich ihr Gesichtchen sah, unschuldig wie ein Lamm, als einen Leckerbissen einstufte, der es wert war, dem Buch meiner Schandtaten hinzugefügt zu werden, oder ob in mir ein Gefühl der Überraschung (ich mit einem Gefühl?) hochstieg, dass ich nach so langer Zeit ein Mädchen in den Klamotten traf, die wir vor einem Jahrzehnt getragen hatten. Sie erinnerte mich an ein Mädchen, das ich mir eines Nachts im Jazz Colon geangelt hatte, als das Jazz Colon noch das Jazz Colon war und sich ein Mädchen angeln hieß, sie zu verführen, sie festzuhalten, sie zu nehmen und eine Dreiviertelstunde später wieder abzulegen. Jenes Mädchen erinnerte mich an die Partys am Sonntagnachmittag, an Twist und Madison, immer auf der Hut, weil die Eltern jederzeit aus dem Kino zurück sein konnten. Sie erinnerte mich an die Shadows, erinnerte mich an Jerry Lee Lewis, erinnerte mich an Michel Polnareff; erinnerte mich an mich selbst, der ich völlig in eine sommersprossige Puppe verknallt war.

      Ich fing ein Gespräch mit ihr an, was unnötigerweise meine Absichten verheimlichen sollte. (Unnötigerweise, weil heutzutage die Dinge so schnell vonstatten gehen, dass niemand mehr Umwege macht, denn das Ja oder Nein kommt sofort und bestimmt.) Wir plauderten über Belanglosigkeiten, wir schlenderten durch Born, tranken in der Nähe des Parks Schokolade, liefen die Ramblas hoch. Ich verließ sie an ihrer Haustür, ohne auch nur ein Haar von ihr berührt zu haben, aber ich hatte ihre Telefonnummer in der Tasche. Ich glich eher einem Schutzengel, der seine Noten noch verbessern wollte, als einem Brutalo. Eine Angst beschlich mich, ich könne mich in der Rolle des netten Jungen vielleicht sogar wohlfühlen. Um dem entgegenzuwirken, holte ich mir gleich zu Hause mit Bildern von Tieren (Schweinen, Hunden und Eseln), die blondierte Fräuleins im Mund penetrierten, einen runter: Nun, ich musste meine Integrität bewahren! Mit einer Reißzwecke befestigte ich die Nummer neben dem Telefon. Ich würde sie morgen anrufen. So wie ich als kleiner Junge vor dem Einschlafen betete, so sagte ich mir jetzt ein ums andere Mal, was für ein Fiesling ich sei und sie für mich nicht mehr als ein weiterer Markstein, und malte mir aus, wie ich in ein paar Stunden grausam und gemein zu ihr sein würde.

      Es war ein Leichtes, ein Treffen mit ihr zu verabreden. Sogar direkt bei mir zu Hause: So galant war ich am Abend zuvor gewesen! Ich bot ihr Getränke und einen Joint an. Sie wollte nur einen Fruchtsaft, und während im Fernsehen zwei Boxer für die Europameisterschaft im Weltergewicht aufeinander einschlugen, begann ich, sie am Hals zu küssen, ihr in den Kehlkopf zu beißen. Einen Moment lang erschien sie überrascht, und ich fühlte mich lächerlich: Vielleicht hatte sie mich gestern wirklich für einen Milchreisbubi gehalten. Im Mund hielt ich mich eine Ewigkeit auf: Der Weg war genau ausgearbeitet und ganz langsam zu absolvieren, damit sie mir, wenn es drauf ankam, nichts mehr verweigern konnte. Im Fernsehen grüßte einer der Boxer in Siegerpose, der andere lag noch auf dem Boden, k.o. Die Nachrichten begannen. In einer halben Stunde fing Endstation Sehnsucht an, mit Marlon Brando und Vivien Leigh, ein Film, der mir immer gefallen hat. Ich wollte ihn nicht verpassen und beschloss daher, mit dem Mädchen fertig zu werden, bevor der Film anfing. Ich begann, sie auszuziehen, sie wehrte sich kaum. Der Kampf, ihr den Rock runterzuziehen, war schon schwieriger. Das ermutigte mich: endlich Widerstand, wie es sich gehörte, nach langer Zeit. (Diese Jugendlichen heutzutage, die keinen Widerstand mehr leisten, verderben dir den Spaß an den kleinen Dingen des Lebens.) Ich sah mich genötigt, Gewalt anzuwenden. Mit dem Bauch nach oben und ohne Rock, presste sie die Beine zusammen und tischte mir völlig durcheinander eine Lüge nach der anderen auf, entschuldigte sich und schlug mir Entschädigungen vor, die mir aber nicht schweinisch genug waren. Ich zerriss ihr Höschen aus Satin, und als ich dann versuchte, einen Finger hineinzustecken, stellte ich fest, dass es nicht ging: Da war irgend etwas Seltsames. Ich spreizte ihre Schamlippen mit einer titanischen Kraft, denn diese Lippen widersetzten sich, als hätten sie ein Eigenleben. Ich versuchte, noch einmal einen Finger hineinzustecken (vorher hatte ich ihn mit Spucke angefeuchtet, hatte sie geleckt, vielleicht ging es ja besser, wenn alles voller Speichel war), doch ich stellte sofort fest: Es war absolut unmöglich: Das Loch war zu, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Vermutlich konnte sie auf äußerst ungewöhnliche Art und Weise ihren Vaginalmuskel beherrschen und versperrte mir damit den Zugang. Ich verlor allmählich die Geduld und drohte ihr damit, einen Bohrer zu holen. Völlig entsetzt, begann sie zu reden, und ich beging den Fehler, ihr zuzuhören. Ich hätte es nicht tun sollen. Indem ich ihr zuhörte, hatte ich verloren: Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich immer noch nicht, ob sie mir etwas vorgemacht hat und ob sie es immer noch tut. Sie hob an:

      – Halt, warte. Denk nicht, dass ich nicht will. Auch wenn es dir unmöglich erscheint, gibt es ein reales Hindernis dafür, dass du in mich eindringst. Ich bin und bin nicht daran schuld. Ich müsste sehr weit ausholen, um dir alles zu erklären, aber ich werde direkt zum Kern vorstoßen: Ich war immer eine Person mit starken Überzeugungen. Es ist schwer zu erklären: Nicht nur, dass mich als kleines Mädchen allein die Frage, ob ich Grippe hätte oder nicht, mich die eindrucksvollsten Grippen bekommen ließ. Das kann man noch erklären und ist eher hypochondrisch. Auch nicht, dass es mir eines Tages, als ich mit meinem Bruder Cowboy und Indianer spielte, gelang, mich so von meiner Rolle als Sioux zu überzeugen, dass ich zum Schrecken meiner Familie drei Tage lang nur noch rituelle Zeremonien heulte, was so weit ging, dass ich keine andere Sprache mehr verstand als Sioux (und wenn ich sage, verstand, meine ich genau das, und nicht, ich tat so, als verstehe ich sie nicht). Ähnliche Fälle gab es zuhauf. Ich erspare dir die Ausführungen. Mein Problem geht über Hypochondertum und Somatisierung hinaus. Schau mich nicht mit so einem Gesicht an. Tu mir nicht weh. Ich lüg dich nicht an: Wenn sich etwas in meinem Kopf festsetzt, sitzt es dort über meinen Willen hinaus fest und beherrscht mich völlig. Du wirst sehen, was passiert. Vor einem Jahr begann ich, mich für vegetarische Ernährung zu interessieren, und als mir dann die Tugenden dieser Diät einleuchteten, verselbstständigte sich der Prozess und nahm eine Wendung, die ich nicht vorhergesehen hatte: Ich war ganz und gar davon überzeugt. Damit will ich sagen, ich bin Vegetarierin von Kopf bis Fuß, und mein Körper (der ganze Körper, von oben bis unten) nimmt nur noch Pflanzliches an. Und da ist nichts zu machen, bis ich mich davon überzeuge, dass vegetarisch essen schädlich ist oder dass ich es, obwohl es gesund ist, nicht fanatisch befolgen muss.

      Ich fiel darauf herein: Dieser wunderschöne Körper zitterte in meinen Armen, und ich glaubte ihr gerührt. Plötzlich fiel meine ganze Konstruktion in sich zusammen. Ich war nicht mehr der unbestechliche Unmensch: Ich hatte nun einmal nachgegeben und versucht, jemanden zu verstehen. Und wie: Ich tat ihr nicht nur keine Gewalt an, sondern benutzte, um sie zu befriedigen, Gurken, Möhren, Auberginen. Sie sagt, sie liebe mich sehr. Der Gynäkologe meint,


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