Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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doch nicht eindrücken, oder? Warum sagst du nicht dem Wirt, er solle die Läden schließen? Sonst macht der Schnee noch die Scheiben kaputt. Außerdem ist es dann nicht mehr so kalt. Warum ist das bisher noch niemandem eingefallen? Guck mal; jetzt schneit es noch mehr. Mann, liegt der Schnee schon hoch, das wird ja immer mehr. Schau, man kann den Himmel nicht mehr sehen: Wir sehen nichts mehr: nur noch Schnee. Bald bekommen wir keine Luft mehr. Es wird so viel schneien, dass wir unter einer Schneedecke verschwinden werden, wir und die Häuser, wir werden ersticken, wenn uns die Luft ausgeht, was bald sein wird, und bei dieser dauernden Kälte wird der Schnee nie wieder schmelzen, und wenn die Menschen sich dann an die neue Eiszeit gewöhnt haben (das muss es sein: Das hier ist eine neue Eiszeit: Wir sind Jahrmillionen zurück!), werden sie Autobahnen über uns bauen. In tausend Jahren werden dann kurzsichtige Archäologen unsere Leichen in vollkommen erhaltenem Zustand entdecken: wie in einer Tiefkühltruhe. Sie werden uns ausziehen, uns untersuchen, uns analysieren. Welche Horrorvorstellung! Warum kommt eigentlich keines dieser Schneeräumfahrzeuge vorbei? In diesem Land sind solche Stürme doch sicher normal: Ganz so viel Schnee vielleicht nicht, natürlich, aber hier ist man heftigen Schneefall bestimmt gewöhnt. Warum kommt eigentlich keiner und repariert das Telefon? Mmh. Da hast du’s: Es geht dem Ende zu. Es bleibt nur die Kiste. Wie spät ist es? Wenn wenigstens der Fernseher funktionieren würde . . . Warum passiert das gerade uns? Ah. Ich bin müde. Legst du dich mit mir in die Ecke? Komm, wir machen Mittagsschlaf. Du schreibst. So als ob du nichts anderes könntest. Bringt es dir irgendetwas? Was schreibst du eigentlich, darf man das erfahren? Mal sehen . . . Du bist verrückt. Warum schreibst du alles auf, was ich sage? Das heißt: Du saugst dir das nicht einmal selbst aus den Fingern, sondern im Prinzip kann ich dir befehlen, was du schreiben sollst; und dann schreibst du nur das, was ich will. Schreib Scheiße. »Scheiße.« Nein, jetzt habe ich es gelesen. He, hör auf. Du spinnst. Schreib nur das, was ich dir sage, was du schrei . . . Hey! Du hast ein halbes Wort aufgeschrieben; also, wenn ich jetzt schweige, wirst du nichts mehr schreiben: Wirst du einen Leerraum lassen oder einen Absatz machen? Zeig mal . . . Bah: Du hast Punkt, Punkt, Punkt gemacht: Du bist nicht gerade originell: Das hast du vorhin auch schon mal gemacht. Machst du nie einen Absatz? Mach einen Absatz. Jetzt. Es ärgert mich, dass du nicht auf mich hörst. Du schreibst, damit du nicht reden musst. Du glaubst, du stehst über den Dingen hier, was?, und dabei bist du genauso ein Scheißkerl wie alle anderen auch. Glaubst du vielleicht, mir würde es Spaß machen, hier rumzusitzen? Du könntest ruhig etwas netter zu mir sein. Kommunikation zwischen den Menschen ist zumindest interessant und hilft, die Zeit zu vertreiben. Hast du nie darüber nachgedacht? Schau mir in die Augen. Schau mich an. Schreib nicht »Schau mich an«, sondern schau mich an. Nein: Schreib nicht »Schreib nicht ›Schau mich an‹, sondern schau mich an«, sondern schau mich an. Nein: Schreib nicht »Nein: schreib nicht ›Schreib nicht ›Schau mich an‹, sondern schau mich an‹«, sondern schau mich an, sondern schau mich an. Lass gut sein. Jetzt bin ich still, damit du nichts mehr aufschreiben kannst und mich anschauen musst, oder wenn nicht, dann langweile dich eben. Non scriverai più.

Die Aktentasche

       P: Quid est vigilanti somnus? A: Spes.

       P: Quid est mirum? A: Nuper vidi hominem stantem, molientem, ambulantem, qui numquam fuit.

       P: Quomodo potest esse? Pande mihi. A: Imago est in aqua.

       A: Quidam ignotus mecum sine lingua et voce locutus est, qui numquam ante fuit nec postea erit, et quem non audiebam nec novi. P: Somnium te forte fatigavit, magister.

       A: Quid est quod est et non est? P: Nihil.

       A: Quomodo potest esse et non esse? P: Nomine est et re non est.

      Disputatio regalis et nobilissimi iuvenis Pippini cum Albino scholastico

      Die Aktentache

      Borrell schrieb das letzte Wort, setzte den Schlusspunkt, zog das Blatt aus der Maschine und betrachtete es mit ausgestrecktem Arm von Weitem wie eine Zeichnung. Er las es noch einmal.

      Langsam kniet er nieder und merkt nicht,

      dass das blendende Scheinwerferlicht,

      die dunkle Sibylle, der Trubel ist,

      mit der ihn verwirren will die Finsternis.

      Erst danach füllt Nitrat den Raum.

      Ergeben beugt er sich, bis es empfängt der Mund.

      Er wird gesehen von einer Eule ohne Flügelflaum,

      von der Gans im Wahn und dem brennenden Hund.

      Er legte das Blatt zu den anderen einundzwanzig Blättern, die bereits in einer Mappe aus blauem Karton lagen. Auf das nächste Blatt tippte er den Titel des Buches: Die Aktentasche und den ihm vorangestellten Leitsatz: »Aliquando bonus dormitat Homerus«. Er tippte dieses Motto auf einen Umschlag und auf ein weiteres Blatt Papier. Auf dieses weitere Blatt schrieb er zudem seinen Namen, seine Adresse und seine Telefonnummer und steckte alles in den Umschlag. Er leckte ihn an und klebte ihn zu.

      Im Copycenter an der Ecke kopierte er das Buch, dreimal. Im Papierwarengeschäft kaufte er Aktendeckel. Wieder zu Hause, schob er einen Satz Fotokopien in eine Schreibtischschublade, legte das Original in der Mappe zu den beiden anderen Stapeln mit Fotokopien und packte daraus ein Paket. Er schrieb die Adresse einer bedeutenden Kultureinrichtung darauf und eilte zur Post. Heute war der letzte Tag, um eine unveröffentlichte Arbeit für den höchsten Dichterpreis des Landes einzureichen.

      Borrell hätte nie gedacht, dass die Blitzlichter der Fotografen und die Mikrofone der Journalisten ein so wenig traumatischer Bestandteil der Welt des Dichters sein könnten. Er verlor erstaunlicherweise überhaupt nicht den Kopf, als auf einmal gegen Mitternacht ein Heer von Journalisten in seine Wohnung einfiel. Eine halbe Stunde zuvor hatte ihn das Klingeln des Telefons aus einem Traum gerissen, in dem er mit Riesenzahlen eine geometrische Reihe fantasierte. Er hatte so wenig an eine Auszeichnung geglaubt, dass er, völlig unbeeindruckt vom laufenden Abstimmungsverfahren, schlafen gegangen war.

      Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktionierte, und die erste Auflage von Die Aktentasche war fast vergriffen, bevor die ersten Kritiken veröffentlicht wurden. Als diese schließlich erschienen (seltsamerweise nur positive, außer einer, in der ein paar Reimprobleme entdeckt wurden), stand der Verlag mit der Produktion der dritten Auflage unter Zeitdruck. Bei der Einschätzung eines neuen literarischen Werkes hatte sich die Presse seit Jahrzehnten nicht so einmütig gezeigt. »Die Poesie von Borrell« – schrieb eine Gazette – »zeigt uns, auch wenn uns diese Erkenntnis schwerfällt, dass wir bisher noch nicht alle Seiten dieses enigmatischen, wechselnden Parallelepipedons entdeckt hatten, das die Dichtung sein kann und auch ist.« »Die Qualität dieses Buches« – schrieb eine andere – »macht Die Aktentasche bereits kurz nach Erscheinen nicht nur zu einem Markstein der lokalen, sondern der europäischen Dichtung, die sich derzeitig, und das schon seit Jahrzehnten, durch Unentschiedenheit und Orientierungslosigkeit auszeichnet.«

      Borrell war glücklich. Nicht wegen des Erfolges, sondern weil die öffentliche Anerkennung ihm zeigte, dass er sich nicht geirrt hatte; dass, so wie er es immer geglaubt hatte, seine Gedichte den Zeitgeist trafen. Mit der Einfachheit seiner Kunst, und offenbar weit entfernt von dem heraufdämmernden einundzwanzigsten Jahrhundert, wurde Borrell zum »Priester all jener unmöglich festzulegenden Empfindungen, von denen die Seelen seiner Zeitgenossen zerrissen wurden«.

      Ihm zu Ehren, und weil sie ihn liebten, feierten seine Freunde Feste. Alle freuten sich aufrichtig über Borrells Erfolg, dessen einzige, ständig wiederholte Forderung gewesen war, ihn in Ruhe schreiben zu lassen. Sie schätzten auch eine weitere Eigenschaft an ihm: Im Unterschied zu den meisten anderen hatte er sie nie mit einem Gedichtvortrag oder einem Seminar über das, was seiner Meinung nach Dichtung sei oder zu sein habe, geplagt. Sie wussten, wie sehr er geschwitzt hatte, um die zweiundzwanzig Gedichte herauszudestillieren, die in Die Aktentasche Eingang gefunden hatten, denn ganz war er nie zufrieden. Er hatte sich nie wegen des Erfolges selbst verraten. Einen Erfolg, den er viel früher erreicht hätte, wenn er nur den Modeströmungen


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