Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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      Er schrieb die Artikel am frühen Nachmittag, gleich nach dem Mittagessen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, möglichst alle Interviews auf den Vormittag zu legen, so hatte er den Nachmittag für die anderen öffentlichen Verpflichtungen frei. Die Artikel nach dem Mittagessen zu schreiben, erwies sich als ärgerlich, denn gewöhnlich war er satt und leicht berauscht und hatte viel mehr Lust auf ein Mittagsschläfchen als darauf zu grübeln, über welches Thema er einen Artikel schreiben könne, den er noch am selben Nachmittag vor der Cocktailparty, dem Empfang, der Präsentation oder der Vernissage abliefern musste, wo man nach seiner Gegenwart verlangte, häufig nicht nur mit der üblichen per Post zugeschickten Einladungskarte, sondern durch einen verpflichtenden Telefonanruf des Ausstellers, Galeristen, Redners oder Künstlers, je nach Art der Veranstaltung. Es ärgerte ihn, die Artikel unter Zeitdruck schreiben zu müssen, denn wie die Mehrzahl der Dichter war er ein Gegner der Improvisation. Die Gedichte aus Die Aktentasche hatte er immer wieder neu geschrieben, über Jahre hinweg, und er feilte noch daran herum, als er die Druckfahnen durchsah. Nun befand er sich in der misslichen Lage, die Artikel in einem knappen Dreiviertelstündchen schreiben zu müssen, ohne genügend Zeit, sie reifen zu lassen und immer wieder neu durchzulesen, um Fehler, Ungenauigkeiten, übertriebene Meinungen, überflüssige Adjektive oder zu kryptische oder zu wenig kryptische Anspielungen aufzuspüren.

      In jener Zeit, als Die Aktentasche zur siebten Auflage gelangte, wusste Borrell bereits, dass es bei wirklich jeder Cocktailparty, jedem Empfang, jeder Präsentation und jeder Ausstellungseröffnung zwangsläufig zur Verbrüderung mit irgendeinem Maler kam. Die Bescheideneren baten ihn um die Einführungsrede bei der nächsten Ausstellung. Alle anderen schlugen ihm unweigerlich die Schaffung eines gemeinsamen Werkes vor.

      – Ich glaube, es könnte sehr interessant sein, aus der Dialektik unserer beiden Sprachen heraus, dem Wort und dem Bild, Experimente zu machen, etwas Gemeinsames zu schaffen – sagte ihm einmal ein etwas klein geratener Maler, der ihn buchstäblich zwang, sofort mit ihm sein Atelier aufzusuchen und das WERK zu betrachten.

      Dann folgten die Vorworte zu den Büchern anderer Schriftsteller, über die er sich auslassen sollte, obwohl er sie im Schnellverfahren kaum diagonal gelesen hatte. Ende Januar baten ihn achtzehn Fastnachtskommissionen aus achtzehn verschiedenen Städten und Dörfern (darunter die Hauptstadt der Nation) um Büttenreden. Unmittelbar danach musste er Vorträge über Themen halten, mit denen er sich nur oberflächlich beschäftigt hatte; er nahm an Podiumsdiskussionen zu Literatur und Politik teil, zu Dichtung und Metrik, zu Literatur und sozialer Lage, zu poetischer und architektonischer Struktur, zu Ästhetik, zu Dichtung im Zeitalter der Raumfahrt, zum Engagement des Literaten, zu Poesie und Ökologie, zu Poesie und Elitedenken, zu Literatur und Libido . . . Er hielt Vorträge in Instituten und Universitäten. Er kannte jeden einzelnen der Literaturprofessoren, die es übers Land verstreut gab, und erklärte (vor flegelhaften Studenten, die gähnend abwechselnd auf die Uhr und an die Decke schauten), was er unter künstlerischem Schaffen, unter Dichtung verstand, an welche Art Leser er beim Schreiben dachte oder nicht dachte, wie ihm ein Gedicht einfiel und ob er Anhänger des freien Verses sei.

      Ein halbes Jahr, nachdem er den Preis erhalten hatte, suchte er eine Lücke in seinen Aktivitäten (Artikel, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Interviews), um sich zum Mittagessen mit Verlegern zu treffen, die neue Bücher von ihm wollten. Zwei von ihnen begehrten gleichzeitig und unabhängig voneinander einen Roman.

      – Nicht, dass uns Ihre Dichtung nicht interessiert. Ganz im Gegenteil: Aber ein von Ihnen verfasster Roman wäre ein durchschlagender Erfolg.

      Ein anderer bat ihn um einen Erzählband, jetzt, wo diese Gattung wieder geschätzt wurde.

      – Außerdem schreiben sie sich leichter, sind nicht so kompliziert. Du brauchst dir da nicht so den Kopf zu zerbrechen wie bei einem Roman, nicht? Und du kannst sie in ganz kurzer Zeit schreiben.

      Der Literaturchef des angesehensten Verlages des Landes meinte, wenn er schon nichts Neues habe, so solle er doch die Schubladen durchforsten und eine Auswahl der Gedichte zusammenstellen, die er vor der Aktentasche geschrieben habe.

      – Irgendetwas müssen Sie doch irgendwo haben. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Die Aktentasche das Erste war, was Sie geschrieben haben.

      Der Literaturchef konnte sich die Ausführungen von Borrell nicht erklären, die besagten, dass Die Aktentasche eine sehr strenge Auswahl sei: Von all seinen Gedichten waren sie die einzigen, die er veröffentlichen konnte und wollte. Der Literaturchef, der seine Empörung unterdrückte, verlangte die Rechnung und fragte Borrell, ob er bereit sei, die Rechnung zu teilen.

      Tags darauf saß ein Filmregisseur vor ihm und wollte ein Drehbuch von ihm.

      – Meiner Ansicht nach ist deine poetische Empfindsamkeit sehr kinematografisch.

      Ein Friseur, der gerade in Mode war, bat ihn, darüber nachzudenken, was sie gemeinsam entwerfen könnten. Die Theaterregisseure wollten Bühnenstücke von ihm.

      – Deine Poesie ist bühnenreif.

      Auch die Fernsehproduzenten kamen angelaufen.

      – Ein Dichter muss den Mut haben, sich mit dem Massenmedium schlechthin auseinanderzusetzen. Das Fernsehen ist die Zukunft, die Dichtung ist tot: Sie stinkt schon. Sich dieser Einsicht zu verweigern, ist schlichtweg feige.

      Im Ablauf dieser Arbeitsessen musste Borrell nach neuen Lücken suchen. Um mehr Zeit zu gewinnen, organisierte er die Mittag- und Abendessen dergestalt, dass er oftmals den ersten Gang mit einem Verleger einnahm, den zweiten mit einem Filmregisseur, beim Nachtisch gewährte er ein Interview und den Espresso trank er mit einem Comic-Zeichner, der ihn um Storys für seine Comics bat. Er bekam Angebote für Beiträge bei verschiedenen Rundfunksendern und für Übersetzungen.

      – Ein Mann mit Ihrer literarischen Sensibilität ist geradezu ideal, das Werk eines anderen Schriftstellers ohne Verrat zu übersetzen.

      Ein Bildhauer wollte mit ihm gemeinsam ein aufeinander bezogenes Werk schaffen. Ein innovativer Tänzer teilte ihm mit, er sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie beide auf ihrem jeweiligen Gebiet innovativ seien und daher ein gemeinsames Arbeiten angebracht wäre.

      – Das Video, ein noch praktisch unerschlossenes Gebiet, wo es das meiste noch zu entdecken gilt, ist wie geschaffen für einen Mann wie dich – sagte ihm einer, der von ihm eine Idee für etwas im Bereich Videokunst wollte.

      Drei Punkbands baten ihn um Drehbücher für Videoclips. Vier Skinhead-Gruppen und ein Ex-Liedermacher wollten Songtexte. Er brauche sich auch nicht um Reim oder Metrik zu kümmern, versicherten ihm die Skins.

      – All das ist out, mein Lieber.

      Von all den angebotenen Projekten, die ihm in den folgenden Monaten ins Haus flatterten, konnte er aus Zeitgründen nur zwei abschließen. Das eine war ein Drehbuch für einen Videoclip, das der Regisseur völlig umwarf, weil es ihm zu literarisch war. Das andere war der Auftrag für eine Theateradaption von Il materialismo storico e la filosofia di Benedetto Croce von Antonio Gramsci, mit der er so unzufrieden war, dass er während der Premiere im zweiten Akt schamrot das Theater verließ. Als er nach Hause kam in jener Nacht, schaute er mit einem Auge fassunglos auf den Bücherstapel, der gelesen werden wollte und jeden Tag größer wurde, vor allem jetzt, wo ihm die Verleger Freiexemplare schickten, wohl wissend, eine Rezension von ihm in der Zeitung, für die er schrieb, könnte zu einem Verkauf von gut sieben zusätzlichen Exemplaren führen.

      Als ein Jahr später der Veranstalter die Ehre hatte, ihn anlässlich der nächsten Preisverleihung zum Diner einzuladen, ging Die Aktentasche bereits in die dreizehnte Auflage. Borrell erschien es unglaublich, dass bereits ein Jahr vergangen sein sollte. Wie wenig hatte er sich vor zwölf Monaten und einem Tag vorstellen können, dass seine Dichtung in so kurzer Zeit als wertvolles Werk und so weiter anerkannt sein sollte.

      Beim nächsten Festessen zur Preisverleihung waren ganz offensichtlich zwei Jahre seit jener glorreichen Nacht vergangen. Der Journalist, der ihn in der damaligen Nacht zum ersten Mal interviewt hatte, begrüßte ihn sehr herzlich. Das Mikro in der Hand fragte er ihn, woran er momentan schrieb.

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